Politischer Protest im wiedervereinigten Deutschland
Swen Hutter und Ines Schäfer
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Demonstrationen und Kundgebungen bleiben bundesweit die häufigste Form nicht-institutionalisierter politischer Beteiligung in der Zeit von 1975 bis 2018. Umweltthemen gewinnen in den letzten Jahren wieder an Popularität, vor allem in Westdeutschland. Migrationsbezogene Themen (inklusive Rechtsextremismus und Rassismus) dominieren jedoch die deutsche Protestlandschaft.
Großdemonstrationen und andere Formen des politischen Protests gehören zum Stadtbild in Deutschland dazu wie Weihnachtsmärkte oder internationale Handelsketten. Vor Ausbruch der Corona-Pandemie und auch mit ihrem #NetzstreikFürsKlima im April 2020 prägten die Aktionen der Klimabewegung Fridays for Future die öffentliche Wahrnehmung eines aktiven Protestgeschehens, im Mai 2020 waren es dann Demonstrationen u.a. gegen die Pandemie-bedingten Einschränkungen. Aber auch die Mobilisierung und Gegenmobilisierung auf der Straße im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise sind noch im kollektiven Gedächtnis präsent: die Pegida-Demonsrationen (abgekürzt für Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) auf der einen Seite und die Unteilbar-Proteste eines breiten Bündnisses gegen Rassismus und Ausgrenzung auf der anderen Seite.
Dies war nicht immer so. Lange Zeit galt die Protestkultur in Deutschland als weniger ausgeprägt als in anderen westlichen Ländern. Nach den Studentenunruhen um 1968 und bundesweiten Protesten gegen Atomanlagen und Atomwaffen während der 1980er Jahre schien es zudem auf den deutschen Straßen ruhiger geworden zu sein. Studien zeigen jedoch, dass sowohl die Anzahl der Proteste als auch die Zahl der Teilnehmenden seit den 1950er Jahren bundesweit leicht gestiegen sind (Hutter und Teune 2012; Rucht 2001). Außerdem ist die Bereitschaft innerhalb der Gesellschaft, Proteste als legitimes Mittel politischer Willens- und Meinungsäußerung zu begreifen, gestiegen. Auch repräsentieren die Protestteilnehmenden breite Schichten der Bevölkerung. Deshalb sprechen Wissenschaftler*innen von einer Normalisierung von Protesten und dem Entstehen sogenannter Bewegungsgesellschaften (Lahusen und Bleckmann 2015; Neidhardt und Rucht 1993).
In diesem Beitrag wird die Entwicklung der Protestlandschaft in Deutschland seit der Wiedervereinigung bis 2018 nachgezeichnet. Der Fokus liegt dabei auf dem Ausmaß, den Formen und den Themen politischen Protests. Dabei werden die Entwicklungen seit der deutschen Einheit in eine langfristige Analyse ab 1975 eingebettet und Vergleiche zwischen den alten und neuen Bundesländern gezogen.
Der Herbst der Solidarität 2015: Beginn einer neuen Hochphase des Protests?
Die nachfolgend abgebildeten Längsschnittdaten (Abb. 1) geben Aufschluss über die Entwicklung der Anzahl der Protestereignisse und der an diesen Protesten Beteiligten in den westdeutschen Bundesländern von 1975 bis 2018. Es zeigt sich, dass es mehrere Wellen in der Entwicklung gibt, das Gesamtniveau der Protestereignisse sowie der Teilnehmenden aber im Vergleich zum Beginn der Erhebungen gestiegen ist. Zu Beginn der 1980er Jahre schlägt das Protestvolumen in Westdeutschland erstmals deutlich nach oben aus. Diese Welle ist unter den Begriffen neue soziale Bewegungen oder auch Friedensbewegung bekannt geworden. Demonstriert wurde damals vor allem gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden sowie gegen die Gewinnung von Energie aus Atomkraft und die Endlagerungsstätten der Abfallprodukte aus der Atomindustrie. Die zweite Protestwelle tritt in den frühen 1990er Jahren auf. Ursächlich dafür sind vor allem rassistisch motivierte Übergriffe und die darauffolgenden Gegendemonstrationen im Zuge der gestiegenen Anzahl Geflüchteter als Folge der Kriege auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien. Die gewaltsamen, ausländerfeindlich motivierten Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im Jahr 1992 sind wohl die bekanntesten aus dieser Zeit und prägend für das kollektive Gedächtnis in Deutschland.
Kennzeichnend für eine Bewegungsgesellschaft ist, dass das Protestvolumen unmittelbar nach den wellenförmigen Ausschlägen nur langsam zurückgeht und ein konstant erhöhtes Protestvolumen die Folge ist. Diese Erkenntnisse unterstützen die These, dass Proteste in Deutschland zu einer gängigen politischen Ausdrucksform avanciert sind. Bemerkenswert ist ferner dass sich die weltweite Finanzkrise um das Jahr 2008 nur mäßig auf das Protestvolumen in Deutschland ausgewirkt hat. Dadurch, dass sich insbesondere die Zahl der Teilnehmenden 2008 auf dem zweitniedrigsten Niveau befunden hat, ist jedoch ein deutlicher Anstieg zwischen 2008 und 2011 erkennbar.
Dieses erhöhte Protestniveau zeigt sich auch in den Jahren 2015 bis 2018. Gleichzeitig deutet die langfristige Perspektive an, dass auch die Phase seit dem sogenannten Herbst der Solidarität, ausgelöst durch den starken Anstieg der Flüchtlingszahlen im Jahr 2015 und den Folgejahren, hinter dem Niveau in den frühen 1980er Jahren zurückbleibt. Die Proteste mit der stärksten Mobilisierungskraft in dieser Zeit wendeten sich gegen das Treffen der G-7 Staaten in Bayern im Jahr 2015, die Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit den USA und Kanada im Jahr 2016, die Forderung nach einem vereinten Europa im Jahr 2017 sowie für mehr Weltoffenheit und Toleranz im Jahr 2018.
Aufgrund der Fokussierung auf die langfristige Entwicklung wurden Proteste in den neuen Bundesländern in Abbildung 1 nicht berücksichtigt. Eine vertiefte Analyse zeigt allerdings, dass die Entwicklungen in Ostdeutschland (ohne Ostberlin) generell dem in Abbildung 1 dargestellten Trend entsprechen. Allein der Anstieg von Protestereignissen in den frühen 1990er Jahren würde durch eine gesamtdeutsche Betrachtung noch deutlicher werden. Insgesamt machen die erhobenen Protestereignisse in Ostdeutschland von 1990 bis 2018 einen Anteil von rund 19,2 Prozent an allen gesamtdeutschen Protestereignissen aus, was in etwa dem Bevölkerungsanteil in diesem Teil des Landes entspricht.
Formen des Protests: Anzeichen einer Radikalisierung?
Protestaktionen umfassen mitnichten ausschließlich Demonstrationen und Versammlungen auf öffentlichen Plätzen. Dazu zählen auch gewalttätige Protestformen oder symbolische Aktionen und Darbietungen (Performances), wie sie z.B. bei Umweltaktivist*innen und Kapitalismuskritiker*innen beliebt sind. Es lohnt daher, einen Blick auf die unterschiedlichen Aktionsformen zu werfen und ihre Ausprägungen im Zeitverlauf und im Ost-West-Vergleich genauer zu untersuchen.
Im Folgenden unterscheiden wir vier verschiedene Formen politischer Proteste. Unter das Stichwort "appellative Proteste" fallen Unterschriftensammlungen und Petitionen, aber auch politische Festivals. Demonstrationen, Mahnwachen und Kundgebungen gehören zu der am weitesten verbreiteten Form, den sogenannten demonstrativen Protesten. Außerdem unterscheiden wir zwischen konfrontativen und gewaltförmigen Protesten. Letztere sind gezielte Angriffe auf Personen sowie Brand- und Sprengstoffanschläge und weitere Formen der schweren Sachbeschädigung. Blockaden und Besetzungen, z.B. von Wohnhäusern, werden der Kategorie konfrontative Proteste zugeordnet. Dazu zählen auch unangemeldete Demonstrationen und leichtere Sachbeschädigungen wie Graffiti oder Farbbeutelwürfe.
In Tabelle 1 wird die relative Entwicklung des Protestrepertoires von 1975 bis 2018 ausgewiesen, unterteilt in vier Zehnjahres-Zeiträume. Zunächst ist klar erkennbar, dass demonstrative Proteste mit Abstand und über den gesamten Zeitraum hinweg die größte Kategorie darstellen. Außerdem wird deutlich, dass sich der Anteil der konfrontativen und gewaltförmigen Proteste seit den 2000er Jahren verringert hat. Die meisten schweren Angriffe und Anschläge gab es, wie zu erwarten, in den 1990er Jahren, insbesondere auch in Ostdeutschland. Der bereits erwähnte Anschlag in Rostock Lichtenhagen steht dabei nur exemplarisch für viele gewaltsame Vorfälle, unter anderem die gewaltsamen Unruhen um die Unterbringung von Geflüchteten in Hoyerswerda und Mannheim-Schönau sowie die Brandanschläge in Mölln und Solingen, die insgesamt acht Menschen das Leben kosteten. Die breite Gegenmobilisierung für eine offene Gesellschaft manifestierte sich in Lichterketten in zahlreichen deutschen Städten. In München und Hamburg nahmen jeweils fast 400,000 Menschen an diesen Protesten teil. Diese Aktionsform hat in Anlehnung an die Lichterketten in der DDR im Vorfeld der deutschen Wiedervereinigung Eingang in die gesamtdeutsche Protestlandschaft gefunden.
Tabelle 1: Entwicklung der Protestformen in Deutschland, 1975-2018
Aktionsformen
1975-1989
1990-1999
2000-2009
2010-2018
Insgesamt
Appelativ
4,9
4,8
5,8
7,6
5,3
Demonstrativ
60,7
53,0
72,4
74,8
62,0
Konfrontativ
19,3
14,6
9,2
8,6
14,2
Gewaltförmig
15,2
27,6
12,6
9,1
18,5
N (Ereignisse)
2.343
2.783
1.680
804
7.610
Eigene Zusammenstellung
Bei getrennter Betrachtung der Aktionsformen für Ost- und Westdeutschland (einschließlich Berlin) (Abb. 2) wird ein verhältnismäßig höheres Gewaltaufkommen bei Protesten in den neuen Bundesländern erkennbar. Der Anteil gewaltförmiger Proteste ist hier mit rund 36 Prozent deutlich höher als in Westdeutschland und schmälert zugleich den relativen Anteil von Demonstrationen und Kundgebungen in den neuen Bundesländern.
Themen des Protests: Von den neuen sozialen Bewegungen zum Konflikt um Migration
Welche Themen waren Anlass für Protest? Zur Beantwortung dieser Frage zeigt Tabelle 2 die thematischen Veränderungen der Protestereignisse von 1975 bis 2018, unterteilt in vier Zehnjahres-Abschnitte. Zunächst ist zu sehen, dass die klassischen Forderungen der neuen sozialen Bewegungen nach Umweltschutz, Frieden und kultureller Liberalisierung (u.a., für Geschlechtergerechtigkeit) seit den 1980er Jahren an relativer Bedeutung verloren haben. Bei dem Thema Umwelt zeigt sich jedoch, dass die nach der Anti-AKW Bewegung in den 1980er Jahren zurückgegangene Popularität tatsächlich in den vergangenen Jahren wieder zugenommen hat. Die Demonstrationen im Zusammenhang mit Fridays for Future, die maßgeblich 2019 stattfanden, würden diese Zahl vermutlich noch weiter in die Höhe treiben.
Zentral ist außerdem der Anstieg von migrationsbezogenen Themen (inklusive Rassismus und Rechtsextremismus) im Laufe der Zeit, mit einer klaren Spitze in den Jahren 1990 bis 2000. Mit der Kategorie Internationales sind EU-Themen verbunden, aber auch Globalisierungskritik oder Protestaktionen von Personen mit Migrationshintergrund, die zur Solidarisierung für oder gegen ihr Heimatland aufrufen. Die Popularität dieses Themenkomplexes ist über die Zeit recht stabil geblieben. Das gilt auch für bildungs- und wirtschaftspolitische Themen – wobei deren Niveau aufgrund der gewählten Erhebungsstrategie in der Tabelle unterschätzt wird. Die Montagsdemonstrationen im Zuge der Hartz-IV-Reformen und gegen Sozialabbau im Sommer 2004 verändern das Bild etwas, wenn nicht der relative Anteil an Protestereignissen, sondern an Teilnehmenden betrachtet wird. Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise hat hingegen in Deutschland zu keinem vermehrten Protest um ökonomische Themen geführt.
Tabelle 2: Entwicklung der Protestthemen in Deutschland, 1975-2018
Protestthemen
1975-1989
1990-1999
2000-2009
2010-2018
Insgesamt
Umwelt (inkl. AKW)
25,7
12,7
10,8
21,0
17,2
Frieden
18,9
8,4
11,0
4,1
11,7
Kulturelle Liberalisierung/ Bürgerrechte
18,6
7,6
4,8
10,3
10,7
Migration (inkl. Rassismus/ Rechtsextremismus)
15,5
47,9
52,3
33,8
37,4
Internationales
8,5
9,5
7,9
13,8
9,3
Bildung & Wirtschaft
9,0
9,2
9,1
10,1
9,2
Andere
3,9
4,8
4,2
6,8
4,6
N=
2.343
2.783
1.680
804
7.610
Eigene Zusammenstellung
Abbildung 3 schlüsselt die Protestthemen nach neuen und alten Bundesländern auf. Im Vergleich sticht besonders eine Zahl hervor: 80 Prozent aller Themen, welche die Menschen in den neuen Bundesländern auf die Straße treiben, beziehen sich auf Migration (inklusive Rassismus und Rechtsextremismus). Dieses Thema ist, basierend auf den vorliegenden Mediendaten, in Ostdeutschland deutlich prägnanter als in der gesamtdeutschen Protestlandschaft. Zudem sind der schon angesprochene Rückgang migrationsbezogener Themen und der Anstieg umweltbezogener Themen seit 2010 in Westdeutschland wesentlich ausgeprägter.
Die Differenzierung des Protests nach seiner politischen Verortung fehlt hier noch. Ein zentraler Befund der Forschung ist, dass die Proteste in Deutschland mehrheitlich dem links-libertären Spektrum zuzuordnen sind. Dies zeigt sich sowohl mit Blick auf die erhobenen Forderungen als auch die politische Einordnung der Protestierenden (u.a. Lahusen und Bleckmann 2015). Die einzige Ausnahme bezieht sich auf den Bereich von migrationsbezogenen Protesten (einschließlich der Auseinandersetzungen um Rassismus und Rechtsextremismus). Der Anteil rechts-autoritärer Forderungen in diesem Bereich ist lange Zeit mit Solidarisierungen zugunsten von Migrant*innen gleichauf gewesen.
In den 1990er und 2000er Jahren, die für eine Protestwelle rechtsextremer und rassistischer Anschläge und Proteste stehen, liegt der Anteil jener Protestaktionen aus dem rechten Lager bei knapp 50 Prozent. Seit 2010 überwiegen die Proteste gegen Rechts und für eine offene Gesellschaft wieder etwas deutlicher, mit einem Anteil von rund 60 Prozent der erhobenen Ereignisse. Eine mögliche Erklärung dafür sind die bundesweiten Massendemonstrationen als Gegenreaktion auf Pegida und rechtsmotivierte Hetze. Die relative Bedeutung rechter Protestereignisse ist in den neuen Bundesländern noch stärker ausgeprägt. Der Anteil relativiert sich allerdings in Ost- und Westdeutschland stark, wenn man die Zahl der an diesen Aktionen beteiligten Personen einbezieht, da die Mobilisierung gegen Rechts deutlich mehr Teilnehmende aufweist.
Zusammenfassung
Die Analyse der Protestereignisse in Deutschland zwischen 1975 und 2018 zeigt, dass Protest in Wellen verläuft, mit zwei großen Spitzen. Insbesondere die Mobilisierung der neuen sozialen Bewegungen Anfang der 1980er Jahre und rund um die rechtextremen Anschläge in den 1990er Jahren lassen die Anzahl der Protestereignisse und daran Teilnehmenden stark ausschlagen. Die Jahre seit 2015 deuten auf ein konstant hohes Niveau hin, aber auch nicht auf eine außergewöhnliche Hochphase politischen Protests. Bereits ohne den Einbezug der starken Fridays for Future-Proteste im Jahr 2019 ist jedoch erkennbar, dass Umweltthemen in den letzten Jahren wieder an Popularität gewonnen haben, vor allem in Westdeutschland. Migrationsbezogene Themen (inklusive Rechtsextremismus und Rassismus) dominieren jedoch die deutsche Protestlandschaft. In Ostdeutschland finden wir im Verhältnis zu Westdeutschland deutlich mehr rechtsgerichtete und außerdem häufiger gewaltförmige Proteste gegen Migrant*innen. Insgesamt gehen die Zahlen konfrontativen und gewaltförmigen Protests jedoch seit Ende der 1990er Jahre zurück. Demonstrationen und Kundgebungen bleiben bundesweit die häufigste Form nicht-institutionalisierter politischer Beteiligung über den gesamten Zeitraum hinweg.
Prof. Dr. Swen Hutter ist Lichtenberg-Professor in politischer Soziologie an der Freien Universität Berlin und Stellvertretender Direktor des Zentrums für Zivilgesellschaftsforschung, einer gemeinsamen Initiative von WZB und der Freien Universität Berlin. Ines Schäfer ist studentische Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin.
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