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Der Beitrag der Bürger auf dem Weg zur Einheit

Rebecca Plassa

/ 6 Minuten zu lesen

Oktober 1989: Tausende DDR-Flüchtlinge warten vor der westdeutschen Botschaft in Prag auf Züge, die sie in die BRD bringen sollen. (© picture-alliance/AP)

Aufbruch aus privatisierter Systemverdrossenheit

Ab Mitte der 80er Jahre befand sich der DDR-Staat innenpolitisch in einem Dilemma: Die Staatsführung lehnte den von Gorbatschow eingeleiteten sowjetischen Reformkurs ab und propagierte stattdessen einen "Sozialismus in den Farben der DDR". Die oppositionellen Gruppierungen im Land jedoch beriefen sich bei ihren Forderungen auf das Vorbild der Sowjetunion und konnten so – unter der Flagge des "großen Bruders" – Kritik an der politischen Stagnation des SED-Staates üben.

Auch in weiten Teilen der DDR-Bevölkerung, die nicht Oppositionsgruppen angehörten, machten sich in den 80er Jahren eine im Stillen schwelende Unzufriedenheit, Resignation und Passivität breit. Es gärte, weil die wahrgenommenen reformorientierten Veränderungen in den benachbarten mittel- und osteuropäischen Staaten mit der eigenen Lage verglichen wurden, die von einer sich verschlechternden Versorgung mit Konsumgütern und politischem Stillstand geprägt war (Fricke 1992: 61f.). Die fortwährende politische Entmündigung und gesellschaftliche Gängelung führten dazu, dass innerhalb der DDR-Bevölkerung die "fundamentale Entfremdung" (Jarausch 1995: 46) vom Staat und Neigungen zu einem Rückzug ins Private noch ausgeprägter wurden.

Die Systemverdrossenheit wurde mithin weitgehend privatisiert. Dies erklärt unter anderem, weshalb es in der DDR bis zum Jahr 1989 keine massenbasierte Oppositionsbewegung gab. Vielmehr entwickelte sich zunächst nur eine kleine politische Dissidentenbewegung, die vornehmlich den Umwelt- und Friedenskreisen entstammte und sich häufig im Schutz der evangelischen Kirchen (ver)sammelte (vgl. Wolle 1998: 254f., Meuschel 1992: 314f.). Drei zentrale Vorgänge waren dann jedoch der Auslöser dafür, dass sich – unter dem Schirm der außenpolitischen Entwicklungen – im Herbst 1989 eine massenhafte Opposition formierte, welche die DDR zusammenbrechen ließ. Zu diesen auslösenden Momenten gehören erstens die Ende der 80er Jahre einsetzenden Massenfluchten und Botschaftsbesetzungen in Warschau, Budapest und Prag, zweitens die im Laufe des Jahres 1989 zunehmenden Proteste in der DDR gegen die Fälschung der Kommunalwahlen vom Mai des gleichen Jahres sowie drittens die Gründung des "Neuen Forums", der ersten dezidiert politischen oppositionellen Gruppierung, die viele DDR-Bürger für einen politischen Umbruch mobilisierte.

"Abstimmung mit den Füßen" – Massenflucht und Botschaftsbesetzungen

Oktober 1989: Hunderte Bürger in Hof begrüßen die Flüchtlinge, die über Prag in die BRD geflohen sind. (© picture-alliance/AP)

Während viele Mitglieder der oppositionellen Bürgerbewegungen ab Mitte der 80er Jahre dafür eintraten, in der DDR zu bleiben und diese von innen heraus politisch umzugestalten, war dies für viele andere Menschen keine Alternative. Für die in den 80er Jahren wachsende Sehnsucht vieler Bürger, vom "Inselland" (Wolf Biermann) DDR in die Bundesrepublik überzusiedeln, spricht die stetig steigende Anzahl an Ausreiseanträgen, obwohl bereits die Antragstellung häufig staatliche Schikanen gegen die Ausreisewilligen zur Folge hatte (Wolle 1998: 286). So verfünffachte sich die Zahl der Ausreiseanträge von 24.900 auf 133.274 Fälle im Zeitraum von 1982 bis 1989 (vgl. Jarausch 1995: 34f.). Doch war dieser legale Weg nach Westdeutschland staatsbürokratisch erschwert und in den Erfolgsaussichten unwägbar. Deshalb versuchte besonders im Jahr 1989 eine wachsende Zahl von DDR–Bürgern, auf dem Umweg über benachbarte Bruderstaaten und durch Flucht in die Bundesrepublik nach Westdeutschland zu gelangen.

Die allgemeine Ausreisewelle wurde mit dem 10. September 1989 zu einer Massenfluchtbewegung. An diesem Tag ließen ungarische Grenzer ca. 7.000 DDR-Bürger die Grenze in Richtung Österreich passieren – die Öffnung des "Eisernen Vorhangs" hatte begonnen.

Auch die Bilder der besetzten und überfüllten bundesdeutschen Botschaften, insbesondere jener in Prag, gingen um die Welt. Über 8.000 DDR-Bürger verharrten über Wochen zusammengedrängt im Garten des Botschaftsgeländes in der tschechoslowakischen Hauptstadt und brachen in frenetischen Jubel aus, als der Außenminister der BRD, Hans-Dietrich Genscher, am 30. September 1989 abends die mit der DDR-Regierung ausgehandelte Ausreisegenehmigung bekanntgab.

Die historische Bedeutung der Flüchtlinge und Botschaftsbesetzer für die Wiedervereinigung Deutschlands wird bisweilen unterschätzt (vgl. Jesse 1992: 120). Manchen Beobachtern zufolge haben sie sich als "die eigentlichen Motoren aller gesellschaftlicher Veränderungen in der DDR" (Schneider zit. nach Thaysen 1990: 180) erwiesen und letztlich einer zügigen Wiedervereinigung vorgearbeitet. Tatsächlich kam es aufgrund der Ausreisewelle in der DDR einerseits zu zunehmenden Arbeitskräftemangel, was die Produktivität der Wirtschaft noch weiter senkte; andererseits wirkten die durch die DDR geführten, mit Ausreisewilligen gefüllten Züge, demoralisierend auf die verbliebenen Bürger – die sich nunmehr die Frage stellten, ob sie selbst weiterhin bleiben sollten.

Transparent auf der Montagsdemonstration in Leipzig am 24. Oktober 1989. (© picture-alliance/AP)

Aufstand der Kerzen – vom Protest gegen die Fälschung der Kommunalwahlen zu Massendemonstrationen

Schon Monate vorher hatten auch politische Vorkommnisse innerhalb der DDR bei der Bevölkerung Unmut keimen lassen. Die Kommunalwahl vom 7. Mai 1989 ist als Auslöser für offene Proteste ein Schlüsselereignis. Bei dieser Wahl erhielt die SED mit offiziell 98,89 Prozent der Wählerstimmen ein systemübliches Ergebnis, das diesmal aber von Vertretern oppositioneller Gruppen, die den Wahlakt und die Auszählung in den Wahllokalen beobachteten, als manipuliert erkannt und mit zahlreichen Protesten öffentlich als Wahlfälschung angeprangert wurde. Dieser Nachweis wiederholter plumper politischer Entmündigung der Bürger war schließlich der zündende Funke dafür, dass sich aus vorher vereinzelten oppositionellen Gruppierungen eine vereinte Oppositionsbewegung formierte, die zunächst unter dem Dach der evangelischen Kirchen Zuflucht fand. So konnten beispielsweise bei Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche freie Wahlen eingefordert werden. Dort fand dann auch am 4. September 1989 die erste Montagsdemonstration statt, an der sich 1.200 Menschen beteiligten. Beide innenpolitischen Umbruchssignale, die Ausreise- und Fluchtbewegung einerseits und die wachsende innergesellschaftliche Kritik andererseits, ermutigten bekennende Dissidenten jetzt dazu, sich öffentlich mit eigenen Vorschlägen an der in Gang kommenden inneren Umformung der DDR zu beteiligen. Am 9./10. September 1989 gründete sich dazu das Neue Forum als eine "politische Plattform" (Wolle 1992: 98), die zu "demokratische[m] Dialog über die Aufgaben des Rechtsstaates, der Wirtschaft und Kultur" (Jarausch 1995: 65) in der DDR aufrief.

Das Neue Forum erwies sich rasch als Sammelpunkt einer übergreifenden Demokratiebewegung, der sich viele einzelne Basisgruppen, die sich zunächst weiterhin vor allem in der Kirche trafen, zugehörig fühlten (Wolle 1992: 99, Wolle 1998: 310f.) und für welche die Bürger dann im Oktober massenhaft auf die Straßen gingen.

In diesem Oktober beschleunigten sich die Ereignisse. Die verbreitete diffuse gesellschaftliche Unzufriedenheit schlug um in die Massenakte der friedlichen Revolution. Als Wendepunkt gilt dabei die Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989, die als erste echte Massendemonstration über 70.000 Menschen mobilisierte. Binnen kurzem stieg die Zahl der Demonstrationen und der Demonstranten, die im Herbst 1989 "(f)ür ein offenes Land mit freien Menschen" (Jarausch 1995: 56) auf die Straßen gingen, weiter stark an. So registrierte die Staatssicherheit (Stasi) zwischen dem 16. und dem 22. Oktober insgesamt 24 nicht genehmigte Demonstrationen mit über 140.000 Demonstranten. In der Woche vom 23. bis 29. Oktober waren es bereits 145 Demonstrationen mit über 540.000 Teilnehmern. Vom 30. Oktober bis zum 5. November wurden schließlich 210 Demonstrationen gezählt, die mehr als 1,35 Millionen DDR-Bürger mobilisierten (Thaysen 1990: 180). Ein in dieser Hinsicht besonders wichtiges Datum war der 4. November 1989. An diesem Tag fand auf dem Berliner Alexanderplatz die erste von der SED-Führung genehmigte und zugleich größte Massendemonstration in dieser bewegten Zeit statt. Auf der von Berliner Theatermachern organisierten Demonstration sprachen Schriftsteller wie Christa Wolf und Stefan Heym, Schauspieler wie Ulrich Mühe und Jan Josef Liefers und weitere Kunstschaffende vor 500.000 versammelten Menschen. In ihren Reden forderten sie unter anderem die Umgestaltung des bestehenden Systems und einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz".

Unter dem Eindruck der Montagsdemonstrationen, die immer stärkeren Zuspruch fanden und auf denen stetig lauter der Rücktritt der Regierung gefordert wurde, sahen sich die Spitzen des SED-Regimes zum taktischen Einlenken genötigt. Der Ruf der Massen "keine Gewalt!" wurde nicht mit Schießbefehlen erstickt. Der gewaltlose Druck, dem sich die herrschende Partei- und Staatsmacht ausgesetzt sah, sollte zunächst durch eine "Palastrevolution" gemildert werden: am 17. Oktober wurde Erich Honecker als Generalsekretär der SED abgesetzt; seinen Platz nahm Egon Krenz ein, der das Wort von der "Wende" – gemeint als Selbstversuch des kommunistischen Systems, das als ein reformiertes die selbst erzeugte Systemkrise überlebt – prägte (Jarausch 1995: 87f.).

Der Versuch der alten Mächte, von oben die friedliche Revolution aufzuhalten, war jedoch zum Scheitern verurteilt. Über die "versehentliche" Öffnung der Mauer am 9. November 1989 und den drängender vorgebrachten Wunsch der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung nach einer Beseitigung der Grenzen ("Wir sind ein Volk!") sowie die Vertragsverhandlungen mit der Bundesrepublik ab dem Frühjahr 1990 führte der Weg zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990.

Quellen / Literatur

  • Fricke, Karl Wilhelm (1992): Die Geschichte der DDR: Ein Staat ohne Legitimität, In: Jesse, Eckhard/Mitter, Armin (Hrsg.): Die Gestaltung der Deutschen Einheit. Geschichte. Politik. Gesellschaft, Bonn, 41-72.

  • Jarausch, Konrad H. (1995): Die unverhoffte Einheit 1989-1990, Frankfurt/Main.

  • Jesse, Eckhard/Mitter, Armin (Hrsg.): Die Gestaltung der Deutschen Einheit. Geschichte. Politik. Gesellschaft, Bonn.

  • Kleßmann, Christoph/Lautzas, Peter (2005): Teilung und Integration. Schriftenreihe (Bd. 482), Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn.

  • Meuschel, Siegrid (1992): Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR, Frankfurt/Main.

  • Rödder, Andreas (2010): Deutschland einig Vaterland. Schriftenreihe (Bd. 1047), Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn.

  • Steiner, Andreas (2007): Von Plan zu Plan. Schriftenreihe (Bd. 625), Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn.

  • Thaysen, Uwe (1990): Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Der Weg der DDR in die Demokratie. Opladen.

  • Thomas, Rüdiger (1999): DDR: Politisches System, in: Weidenfeld, Werner/Korte, Karl Rudolf (Hrsg.): Handbuch zur Deutschen Einheit. 1949-1989-1999, Frankfurt/Main, 99-116.

  • Weidenfeld, Werner/Korte, Karl Rudolf (Hrsg.) (1999): Handbuch zur Deutschen Einheit. 1949-1989-1999. Frankfurt/Main.

  • Wengst, Udo/Wentker, Hermann (2008): Das doppelte Deutschland. Schriftenreihe (Bd. 720) Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn.

  • Wolle, Stefan (1998): Die heile Welt der Diktatur: Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989. Berlin.

  • Wolle, Stefan (1992): Der Weg in den Zusammenbruch: Die DDR vom Januar bis zum Oktober 1989. In: Jesse, Eckhard/Mitter, Armin (Hrsg.): Die Gestaltung der deutschen Einheit. Geschichte - Politik - Gesellschaft. 73-110.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Weitere oppositionelle Gruppierungen, die sich in diesem Zeitraum als politische Vereinigungen konstituierten, waren: Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch und die Initiative Frieden und Menschenrechte (vgl. Thomas, Rüdiger 1999: 184).

Lizenz

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Dipl. Politikwissenschaftlerin, Geschäftsführerin der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt in Halle (Saale). Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 580 Halle/Jena. Forschungsprojekt: Kommunale Wählergemeinschaften in Ost- und Westdeutschland an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.