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Die Stille nach dem Schuss

Oliver Gehrs

/ 6 Minuten zu lesen

Mehr als 1000 Menschen starben bei ihrem Fluchtversuch aus der DDR – mindestens 136 allein an der Berliner Mauer. Im allgemeinen Vereinigungsrausch fehlte oft der Platz für das Gedenken an die Maueropfer. Erst jetzt wird das Drama vieler Schicksale deutlich.

Beobachtungsturm im Deutsch-Deutschen Museum in Mödlareuth. (© AP)

Vielleicht ist man mit 18 einfach sorgloser. Vielleicht hat Marinetta Jirkowski an diesem Novembertag im Jahr 1980 gedacht, dass die Grenze gar nicht so unüberwindbar aussieht, ja, dass man in einem günstigen Moment schnell drüberklettern kann. Versteckt im Gebüsch hatte sie zusammen mit zwei Freunden über Stunden die Grenzer beobachtet, die am Todesstreifen patroullierten und sich dann entschieden, über die Mauer zu klettern. Vielleicht hat sie auch nur mitgemacht, um ihre Freunde nicht allein zu lassen und vor allem: um nicht selbst allein zu bleiben – in einem Land, in dem sie alle nicht mehr leben wollten. Man kann Marinetta nicht mehr danach fragen: Sie wurde in dieser Nacht, keine drei Monate nach ihrem 18. Geburtstag erschossen.

Ihr Freund hielt ihre Hand, da traf sie der Schuss

Gemeinsam mit ihrem Verlobten Peter W. und dem gemeinsamen Freund Falko V. ist sie um halb vier in der Nacht mithilfe einer Leiter bereits über die Hinterlandmauer geklettert und anschließend über den 2 Meter 50 hohen Signalzaun, an dem sie jedoch Alarm auslöst. An der zweiten, 3 Meter 50 hohen Mauer, sackt die Leiter tief in den morastigen Boden ein. Dennoch gelingt es den jungen Männern, die Mauerkrone zu erreichen. Peter W. versucht seine Verlobte hochzuziehen, als sie von den Grenzposten unter Beschuss genommen werden. Ihre Hand gleitet aus der ihres Freundes, einen Moment später fällt sie mit einem Bauchdurchschuss von der Leiter. Peter W. lässt sich auf die Westseite fallen, während Marinetta von den Soldaten geborgen und erstversorgt wird. Doch es ist zu spät – um 11 Uhr 30 des nächsten Tages stirbt sie im nahe gelegenen Kreiskrankenhaus Hennigsdorf. Marinetta Jirkowskis Ende könnte aus einem Hollywoodfilm stammen – so dramatisch waren die Ereignisse am 22. November 1980, gleichwohl war das Schicksal der Textilfabrikarbeiterin nur eins unter vielen. Auf mehr als tausend schätzt man die Zahl der Menschen, die an den Außengrenzen der DDR bei Fluchtversuchen umkamen, 136 sollen es allein an der Berliner Mauer gewesen sein. Die meisten von ihnen waren jung und träumten von einem Leben in Freiheit. Für diesen Traum schwammen sie durch die Ostsee oder die Spree, sie bauten sich U-Boote und Heißluftballone, sie buddelten Tunnel, brachen mit Autos durch die Schlagbäume oder versuchten in einem unbeobachteten Moment die Mauer zu überwinden. Vielen gelang tatsächlich die Flucht in den Westen, andere starben durch Schüsse oder sie ertranken erschöpft im deutsch-deutschen Niemandsland. Das Kapitel der Maueropfer ist die traurigste Hinterlassenschaft eines Landes, das sich seit 1961 nicht anders gegen den Wegzug seiner Bewohner zu wehren wusste, als mit dem Bau von Todesstreifen, Zäunen und Mauern. Gab es anfangs in Teilen der Bevölkerung sogar noch Verständnis für diese Maßnahme, die die DDR vor dem frühen Ende bewahren sollte, wurde ihnen und der ganzen Welt das Ausmaß der Menschenrechtsverletzung spätestens mit dem Tod des 18-jährigen Peter Fechter bewusst, der am 17. August 1962 eine Stunde lang angeschossen im Grenzstreifen lag und verblutete, weil weder aus dem Osten noch aus dem Westen Hilfe kam.

Nach der Maueröffnung hieß es: Die Todesschützen hätten nur auf Befehl gehandelt

Am 17. August 1962 wurde Peter Fechter auf seiner Flucht in den Westen von ostdeutschen Grenzbeamten niedergeschossen. Er lag rund 50 Minuten auf dem Grenzstreifen bevor er ins Krankenhaus gebracht wurde wo er seinen Verletzungen erlag. Foto: AP

Und dennoch ist für das Gedenken an die Maueropfer nach der Wende wenig Raum. Im allgemeinen Vereinigungsrausch fehlt Platz für die Trauer, die Menschen wollen nicht so gern an das Unrecht erinnert werden, sondern erst einmal die neue Freiheit genießen. Später kommen die ersten Rufe nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit dazu, dann wieder überlagern die wirtschaftlichen Probleme die Erinnerung an die Gewaltherrschaft. Für die Trauer der Angehörigen gibt es keinen Halt, die meisten Holzkreuze zur Erinnerung werden privat errichtet. Erst als Anfang der 90er die ersten Prozesse gegen die Mauerschützen geführt werden, die zu DDR-Zeiten sogar Auszeichnungen für die Morde an der Grenze bekamen, regt sich bei vielen die Hoffnung, dass der Tod ihrer Familienmitglieder oder Freunde doch noch gesühnt werden könnte. Doch die wird schnell enttäuscht. Mit dem Urteil gegen die Beteiligten am Tod des vorletzten Maueropfers Chris Gueffroy, der noch im Februar 1989 mit 20 Jahren erschossen wurde, wird so etwas wie ein Präzedenzfall geschaffen: Das Gericht spricht drei der vier Tatbeteiligten frei, einer bekommt zwei Jahre Haft auf Bewährung. Begründung: Die schießenden Grenzer hätten auf Anordnung von oben gehandelt.

Tatsächlich gibt es nach der Wende widersprüchliche Meldungen über die Existenz eines schriftlichen "Schießbefehls", der allerdings nie gefunden wird. Es gab aber in schriftlichen Anordnungen, Befehlen und schließlich im Grenz gesetz eine Schieß erlaubnis, die durch die mündliche Befehlserteilung in die Nähe einer Pflicht rückte. Diese Weisung lautete bis in die 80er-Jahre: "Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten". Die Grenzsoldaten, die Menschen auf der Flucht erschossen, waren also Befehlsempfänger, so sehen es jedenfalls die Richter. Von diesem Moment an ist klar: Die Morde bleiben ungesühnt. "Es gab Jahre, in denen ein absolutes Desinteresse an den menschlichen Schicksalen bestand", sagt der Historiker Hans-Hermann Hertle. Gemeinsam mit Maria Nooke von der Gedenkstätte Berliner Mauer recherchiert er seit Jahren in einem von der Bundesregierung geförderten Projekt die Geschichte der Mauer und ihrer Opfer. So ist auf dem Onlineportal "Chronik der Mauer" auch eine Seite mit sämtlichen Todesopfern entstanden, deren Lebensläufe von Hertle und seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern aus Akten, aber auch aus Gesprächen mit Familien und Freunden zusammengetragen werden. Auf diese Weise erhalten die Opfer von damals ein Gesicht, ihre Schicksale Kontur. Erstmals werden die Gründe ihrer Flucht deutlich und das ganze Ausmaß ihres Leidenswegs. Wo es außer Privatinitiativen kaum Mahnmale gibt, entsteht so eine Art virtuellen Andenkens.

Es gibt sogar Angehörige, die erst durch Hertle erfahren haben, unter welchen Umständen ihre Väter oder Söhne ums Leben kamen. Denn das Verschleiern der wahren Todesumstände der Flüchtlinge war in der DDR gängige Praxis – um Proteste zu vermeiden und dem Klassenfeind im Westen keinen Grund zur Propaganda zu geben. Der Mutter von Herbert Halli, der am 3. April 1975 an der Grenze erschossen wurde, erzählte man, dass ihr Sohn betrunken in eine Baugrube gefallen und den Verletzungen erlegen sei. Die Urne mit seiner Asche bekam sie per Post, beides war damals durchaus üblich.

In Wirklichkeit wurde Herbert Halli erschossen – bei seinem Weg zurück in den Osten. Nachdem er die Ausweglosigkeit seines Fluchtversuchs erkannt und bereits Alarm ausgelöst hatte, kehrte er nämlich um, und versuchte über die Hinterlandmauer zurück in die DDR zu kommen. Doch das gelang ihm nicht mehr – ein Schuss aus einer Kalaschnikow traf ihn in den Rücken. Erst Jahre nach der friedlichen Revolution erfuhr Hallis Mutter von den wahren Umständen seines Todes. Manche Angehörige können immer noch nicht über den Verlust von damals sprechen – zu tief sitzt der Schmerz, auch im Angesicht des teilweise profanen Umgangs mit den Opfern des Gewaltregimes. So kann man sich als Tourist am Checkpoint Charlie heutzutage mit kostümierten US- oder Sowjetsoldaten fotografieren lassen – einen ähnlich deutlichen Hinweis auf die Mauertoten sucht man allerdings vergebens.

Dass das Interesse an den Menschen, die für ihren Traum von der Freiheit das höchste Risiko eingingen, wieder zunimmt, ist auch Hertles Verdienst. Seine fast schon kriminologische Arbeit am Computer und am Telefon, die er unbeirrt in einem mit Akten zugestopften Arbeitszimmer im Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam versieht, mündet nun auch in einem Buch, das im Jubiläumsjahr der Wende erscheint. Versüßt wird Hertle die Arbeit durch Briefe von Menschen, die dankbar sind, dass sich endlich jemand dem Schicksal ihrer ums Leben gekommenen Angehörigen annimmt. Oder auch durch Berichte von Privatinitiativen, die sich angeregt durch die "Chronik der Mauer" ebenfalls um das Andenken der Maueropfer kümmern – wie zum Beispiel die Deutsche Waldjugend in Bergfelde. Die veranstaltet Fahrradtouren am ehemaligen Grenzstreifens – der von der Stadt "Berliner Mauerweg" getauft wurde. Weit draußen, wo Berlin immer grüner wird, zwischen Hohen Neuendorf und Reinickendorf steht ein Holzpfahl, der rosa angesprüht wurde. Er steht an der Stelle, an der einst Marinetta Jirkowski erschossen wurde. Auf ihrem Weg in ein neues Leben.

Fussnoten

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