Im Januar 1989 äußerte ein Kommentator in der US-amerikanischen Tageszeitung "Washington Post" die Einschätzung, das bundesdeutsche Grundgesetz halte mit dem Wiedervereinigungsgebot in seiner Präambel an einem längst überkommenen Wunschbild fest, das erstens nicht erreichbar sei und zweitens für die meisten Bundesdeutschen keinerlei Bedeutung (mehr) habe.
Bereits wenige Monate später wurde diese Einschätzung jedoch von den Ereignissen widerlegt: Seit dem Frühjahr 1989 war in der DDR wachsender Protest gegen die SED-Herrschaft wahrzunehmen. Auf Proteste gegen die Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 reagierte die DDR-Führung mit Repressionen und Verhaftungen. Daraufhin versuchten immer mehr Bürgerinnen und Bürger der DDR, über Ungarn in den Westen auszureisen.
"Wir sind ein Volk"
Ab September 1989 gingen kirchliche und politische Oppositionsgruppen im Rahmen der Montagsdemonstrationen in Leipzig und anderen Städten an die (Welt-) Öffentlichkeit. Aus der anfänglichen Forderung nach Reisefreiheit wurde schon bald der Ruf "Wir sind das Volk". Dieser mündete schließlich – begünstigt durch entsprechende westdeutsche Initiativen – in den Ruf "Wir sind ein Volk". Ab Februar 1990 drehte sich die öffentliche Debatte nicht mehr um das "ob" einer deutschen Wiedervereinigung, sondern nur noch um das "wie" und vor allem "wie schnell".
Bei den ersten freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990 gewann das Drei-Parteien-Bündnis "Allianz für Deutschland" aus CDU, Demokratischem Aufbruch und Deutscher Sozialer Union (DSU) insgesamt 48,1 Prozent der Stimmen und formte zusammen mit der SPD (21,9 %) eine Große Koalition. Parallel zur Vorbereitung und Durchführung dieser ersten freien Wahlen in der DDR tagte der "Zentrale Runde Tisch der DDR".
Ein arbeitsgruppenbasierter Entwurf einer "Neuen Verfassung der DDR" sollte den Fortbestand einer souveränen DDR gewährleisten sollte und sich vor allem durch die hervorgehobene Stellung sozialer Grundrechte vom Grundgesetz abheben. Der Entwurf wurde im April 1990 der neu gewählten Volkskammer vorgelegt, stieß dort jedoch nicht mehr auf Gehör; stattdessen galt zunächst die Verfassung der DDR in geänderter Form fort.
Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit hob sich deutlich von den früheren verfassungspolitisch motivierten Debatten ab – von der Wiederbewaffnung bis zur Notstandsdebatte, den Diskussionen um eine Parlaments- oder Föderalismusreform, dem Datenschutz oder NPD-Verbot. Wohl nie zuvor war in der Bundesrepublik eine so grundsätzliche Debatte um Reichweite und Grenzen einer Verfassung, die darin verankerten Werte, ihren Geltungsgrund sowie ihre Geltungsdauer geführt worden. An dieser Debatte des Jahres 1990 nahmen Experten aus Wissenschaft, Politik und Publizistik teil, aber eben auch gesellschaftliche Gruppen, Verbände sowie zahlreiche einzelne Bürger.
Beitritt oder neue Verfassung?
Nach der auch mit Blick auf außenpolitische Konstellationen getroffenen Entscheidung für eine schnellstmögliche Vereinigung drehte sich die Debatte um die Frage nach dem "besten" Weg zur Einheit: Sollte dieser auf dem Weg eines Beitritts nach dem damaligen Art. 23 GG erfolgen oder war die Vereinigung über den Prozess der gesamtdeutschen Verfassungsgebung nach Art. 146 GG anzustreben? Während der Weg des Art. 23 GG eine Beibehaltung bei gleichzeitiger Ausdehnung des Grundgesetzes auf das Gebiet der bisherigen DDR vorsah, hätte das Grundgesetz beim Gang über Art. 146 GG seine Geltung verloren, wäre also vollständig abgelöst worden.
Artikel 23 und 146 im Grundgesetz bis 1990
Artikel 23
Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiet der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.
Artikel 146
Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
Dass die Auffassungen darüber so weit auseinander gingen, hatte mit den ganz unterschiedlichen Vorstellungen vom "besten Weg" zu tun: Während das für die einen der einfache und vor allem risikoarme Weg war, konnte für die anderen der beste Weg nur der sein, der es erlaubte, die Ostdeutschen gleichberechtigt einzubeziehen und sowohl den West- als auch den Ostdeutschen die Chance auf einen umfassenden, gemeinsamen Neubeginn zu garantieren.
Die Befürworter einer Verfassungskontinuität – das waren u.a. die Partner in der Bundesregierung sowie der "Allianz für Deutschland" – argumentierten sowohl inhaltlich als mit Blick auf die praktische Umsetzung: Zentrales Argument war der Verweis auf die Qualität des Grundgesetzes. Dieses stellte nach ihrer Einschätzung das "Optimum des bisher in Deutschland und anderswo je Erreichten" dar. Während die Mitglieder des Parlamentarischen Rates auf höchstem Niveau beraten hätten, sei zu befürchten, dass ein zweiter Anlauf "matter ausfallen und manchen Freiheitswert relativieren würde" (Robert Leicht, DIE ZEIT).
Abstimmung mit den Füßen
Staatsrechtslehrer verwiesen mit Blick auf die Präambel darauf, dass das Grundgesetz von Anfang an auch für diejenigen geplant gewesen sei, denen 1949 "mitzuwirken versagt" war (Josef Isensee). Eine umfassende Verfassungsreform erschien ihnen schon deshalb nicht erforderlich, weil sie das Ergebnis der ersten demokratischen Volkskammerwahl auch als Votum für das bestehende Grundgesetz interpretierten. Im Vergleich zu einer Volksbefragung schien bei diesem Verfahren weniger die Gefahr zu bestehen, die Bevölkerung der DDR könnte als (kleinere) Teilgruppe des deutschen Volkes von vornherein ins Hintertreffen geraten (Christian Tomuschat, Staatsrechtler).
Schließlich könnten sich bei der Beitrittsvariante die beiden deutschen Staaten bzw. ihre Vertreter in der vorgeschalteten Verhandlungsphase auf der "Ebene der Gleichordnung" begegnen. Und wichtig erschien auch der zeitliche Ablauf: Aus Sicht der Befürworter eines Beitritts gewährleistete allein Art. 23 GG, dass man ausreichend schnell zur deutschen Einheit kommen konnte. Die maßgeblichen west- und ostdeutschen Verhandlungsführer zeigten sich nämlich besorgt, dass das "window of opportunity", also die historische Chance zur Wiedervereinigung, nur für kurze Zeit geöffnet sei. Diese Perspektive ist inzwischen umstritten, da sie die Rolle der führenden Akteure überzeichne (Gerhard Lehmbruch, Politikwissenschaftler).
Aus verfassungsrechtlicher Sicht bestand der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Alternativen darin, dass das Verfahren des Art. 23 GG an die Vorschriften des Art. 79 GG gebunden war, während Art. 146 GG davon freigestellt gewesen wäre.
Das zentrale Argument von Befürwortern der Ablösungsvariante nach Art. 146 GG war ihr Bedenken, dass nur dieser Weg die Möglichkeit einer Mitwirkung des gesamten deutschen Volkes mittels Volksentscheid öffnete. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes werde nur dann realisiert, wenn das Volk nach vorangegangener intensiver öffentlicher Aussprache auch tatsächlich in einem Referendum "Ja" zur Verfassung gesagt habe. Eine wirkliche deutsche Einheit setzte gerade nach Einschätzung der Bürgerbewegungen in der DDR eine neue deutsche Identitätsbildung voraus – unter gesamtdeutschen Vorzeichen.
Als wesentlicher Grund dafür, dass dann doch der Weg über Art. 23 und nicht über Art. 146 GG gewählt wurde, sind die Präferenzen bei der Mehrheit der Bürger der DDR und der Bundesrepublik zu nennen. Diese kamen nicht nur in eindeutigen Meinungsumfragen zum Ausdruck, sondern vor allem auch im konkreten Verhalten der Menschen in der DDR. Die Perspektive, dass immer mehr DDR-Bürger "mit den Füßen" abstimmten, war angesichts der damit verbundenen negativen wirtschaftlichen Konsequenzen für die DDR ein wirksameres Argument als verfassungstheoretische Erwägungen.
Vom Provisorium zur festen Ordnung
Die Debatte um den sinnvollsten Weg zur Deutschen Einheit fand regelmäßig unter Bezug auf den Parlamentarischen Rat statt. Auch dort hatten unterschiedliche Einschätzungen bestanden, welcher Option man gegebenenfalls den Vorrang einräumen sollte. Nicht zuletzt ist die damalige Debatte auch vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund zu sehen: Angesichts der damals noch bestehenden Hoffnung auf eine absehbare Beendigung der deutschen Teilung meinte man auch gegenüber den Militärgouverneuren der Westmächte dafür eintreten zu müssen, den provisorischen Charakter des Grundgesetzes zu unterstreichen.
Während der damalige Vorsitzende des Hauptausschusses, Carlo Schmid (SPD), ausdrücklich erklärt hatte, dass man bewusst ein "Provisorium" schaffen wolle, steht inzwischen außer Frage, dass aus der Regelung für eine "Übergangszeit ... längst eine feste Ordnung geworden" ist (Ernst Benda, Bundesinnenminister von 1968 bis 1969 und Präsident des Bundesverfassungsgerichts von 1971 bis 1983). Das Grundgesetz hat sich bereits im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik als Verfassung gefestigt. Durch den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland wurde das Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung. Dies drückt sich auch in der Änderung von Art. 146 GG aus.
Artikel 146 im Grundgesetz seit 1990
Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
Es ist nur scheinbar ein Widerspruch, dass diese gesamtdeutsche Verfassung weiterhin die Bezeichnung "Grundgesetz" trägt. Das Grundgesetz erfüllt nicht nur alle Funktionen einer Verfassung, sondern wird auch den Legitimitätsanforderungen an eine Verfassung gerecht. Die Beibehaltung der ursprünglichen Bezeichnung "Grundgesetz" ist historisch bedingt und lässt sich auch als Respekt vor der Arbeit des Parlamentarischen Rates deuten.
(Erstveröffentlichung auf www.bpb.de am 1.9.2008)