Die Teilung Europas
843
Als sich Karl der Große zu Weihnachten 800 von Papst Leo III. in Aachen zum Kaiser krönen ließ, herrschte sein Frankenreich über ein Territorium, das vom Atlantik bis zu Elbe und Saale reichte. Die Sachsen waren besiegt und ins Reich eingegliedert, die Slawen weiter nach Osten, hinter Saale und Elbe gedrängt worden, der Rhein war nicht mehr Grenze, sondern Mitte. Gleichzeitig begründete Karl mit der Kaiserkrönung aufs Neue die Tradition des Römischen Reiches, dessen westlicher Teil 476 untergegangen war.
43 Jahre später war von diesem Reich nicht mehr viel übrig. Nach dem Tod von Karls Sohn und Nachfolger Ludwig dem Frommen wurde es im Vertrag von Verdun 843 unter Karls Enkeln aufgeteilt. Den westlichen Teil bekam Karl der Kahle, der östliche ging an Ludwig den Deutschen, Lothar I. musste sich mit dem mittleren zufrieden geben. Die nächste Teilung erfolgte 870. Im Vertrag von Meerssen wurde auch das östliche Lothringen zum Ostfrankenreich.
Seit dem Jahre 843, heißt es oft, könne man von einem französischen und einem deutschen Reichsteil sprechen. Preußens König Friedrich Wilhelm IV. ließ das Jubiläum am 6. August 1843 deshalb feierlich begehen. Mit dem Vertrag von Verdun, ließ er wissen, sei „die politische Einheit und Selbständigkeit Deutschlands“ entstanden. Schließlich habe sich aus der östlichen Hälfte der drei Reichsteile nach und nach jenes Gebiet entwickelt, in dem eine deutsche Identität heranwuchs.
Tatsächlich aber gab es im 9. und 10. Jahrhundert noch keine Nationen im heutigen Sinne. Wohl aber Europäer. Und Karl war tatsächlich einer von ihnen. Ihm zu Ehren wird heute an Christi Himmelfahrt alljährlich der Karlspreis vergeben. Europa feiert sich – und nimmt den Rhein in seine Mitte.
Reich Ludwigs des Deutschen
Grenze des Vertrags von Meerssen (870)
Durch den Flickenteppich
1648
Deutschland als das Land der Kleinstaaterei, und der Rhein ein Strom, der mitten durch den deutschen Flickenteppich führt: Daran hatte auch der Westfälische Friede nichts geändert, mit dem in Münster und Osnabrück 1648 der Dreißigjährige Krieg beendet wurde.
Vom Bodensee bis zur Grenze zu den Vereinigten Niederlanden durchfloss der Rhein ein Gebiet, das sich zahlreiche Herzogtümer und Fürstentümer mit der Kirche und den reichsstädtischen Gebieten teilten, während sich im Osten und Nordosten des Heiligen Römischen Reichs bereits größere Landesherrschaften gebildet hatten.
Aber auch konfessionell war das Rheinland ein Sammelsurium geblieben. Das linksrheinische Köln blieb Kirchengebiet und katholisch. Das rechtsrheinische Herzogtum Berg mit Düsseldorf war konfessionell gemischt. Rheinabwärts folgten die von Spanien unabhängigen und calvinistischen Niederlande. Rheinaufwärts die calvinistische Kurpfalz. Der Rhein war also ein Fluss der vielen Konfessionen – das katholische Rheinland entwickelte sich erst später.
Der Friede von Münster und Osnabrück 1648 war beides: Er beendete den bis dahin verheerendsten Krieg in Europa. Und er war der Beginn einer rasanten Entwicklung. Mit Städten wie Basel, Straßburg, Mainz, Köln und Rotterdam wurde die Rheinregion zu einer der am dichtesten besiedelten Regionen Europas. Die spätere Rheinschiene, einer der Motoren der wirtschaftlichen Entwicklung Europas, ist auf der Karte bereits zu erahnen.
Orte von Fiedensschlüssen
hessen-rotenburgische Gebiete
Revolution und Reisen
1789
Das Jahr 1789 markierte eine Zäsur. Im Zuge der Französischen Revolution sollte sich auch die Landkarte Europas ändern. Doch im Jahr des Sturmes auf die Bastille in Paris war Europa noch das alte Europa mit seinen Anciens Régimes.
Östlich des Rheins war der Flickenteppich der Kleinstaaterei geblieben. Westlich des Oberrheins aber hatte das Königreich Frankreich seine Grenzen an den Rhein verschieben können. Straßburg, zuvor wie Nürnberg, Ulm oder Frankfurt Freie Reichsstadt, war 1681 von den Truppen des französischen Sonnenkönigs Ludwigs XIV. besetzt worden. Von der rigiden Rekatholisierung in Frankreich blieben Straßburg und das Elsass aber ausgenommen. Einzig das Münster wurde zu einer katholischen Kirche umgewidmet. Nach dem Beginn der Revolution am 14. Juli 1789 wurde Straßburg, in dem sich einige Jahre zuvor auch Goethe aufgehalten hatte, zum Anziehungspunkt für Republikaner aus ganz Deutschland.
Auch am Mittelrhein war eine neue Macht aufgetaucht. Preußen besaß 1789 das Herzogtum Kleve und die Grafschaft Mark. Das Königreich teilte sich die Rheinlande mit den Kurfürstentümern Köln, Pfalz-Bayern, Trier und Mainz. Der Rhein war damit auch eine Begegnungszone der deutschen Territorialmächte geworden. Doch politische und wirtschaftliche Reformen blieben aus. Ein Grund dafür, dass die Französische Revolution in den absolutistischen Staaten in Deutschland große Erwartungen weckte.
Eine Zäsur war die Französische Revolution auch für den Tourismus am Rhein. Weil die, vorwiegend englischen, Adligen auf ihrer Grand Tour nun nicht mehr den Weg über Paris und den Süden Frankreichs nehmen konnten, reisten sie rheinaufwärts. Das war der Beginn der Rheinromantik.
Gebiet des Kaisers (Österreich)
Grenze des Heiligen Römischen Reiches
hessen-rotenburgische Gebiete
Die Franzosenzeit
1808
Das hat es in der Geschichte des Rheins noch nicht gegeben: das ganze linke Rheinufer von Basel über Straßburg, Mainz, Köln und Xanten in der Hand Frankreichs, das nun, unter Napoleon, kein Königreich mehr war und auch kein revolutionärer Staat, sondern ein Kaiserreich.
Aber auch am östlichen Rheinufer war nichts mehr, wie es war. Das Heilige Römische Reich war seit zwei Jahren Geschichte. Den größten Teil der rechtsrheinischen Gebiete umfasste nun der Rheinbund, ein von Frankreich dominiertes Bündnis deutscher Territorialstaaten. Einzig Preußen und Hannover gehören dem Rheinbund nicht an.
Wie war es dazu gekommen? Schon 1792 waren französische Revolutionstruppen an den Rhein vorgedrungen. Nach dem Ende der Mainzer Republik war 1793 das gesamte linke Rheinufer in der Hand der Revolutionsarmeen. Nach dem Ende der Koalitionskriege gegen das revolutionäre Frankreich wurden im Frieden von Campo Formio 1797 die linksrheinischen Gebiete als Departements in das französische Staatswesen eingegliedert. 1802 erfolgte dann die große Säkularisierung. Mit dem Reichsdeputationshauptschluss wurden außer dem Erzbistum Mainz alle Kirchengebiete aufgelöst. Die deutsche Kleinstaaterei war Geschichte.
1806 kam es schließlich zum Übertritt der meisten deutschen Territorialstaaten, darunter Baden, Württemberg, Bayern, Sachsen und Westfalen aus dem Heiligen Römischen Reich zum ersten Rheinbund. 1808 schlossen sich ihm weitere 20 deutsche Territorialstaaten an. Nun hatte der Bund seine größte Ausdehnung erreicht. Zu ihm gehörten vier Königreiche, fünf Großherzogtümer, 13 Herzogtümer und 17 Fürstentümer.
Welche Folgen aber hatte der Rheinbund für den Fortgang der Geschichte? War er nur die Region der „geschichtslosen deutschen Mittelstaaten“ wie der Historiker Heinrich von Treitschke einmal formulierte? Oder brachte Napoleon in seinem Vasallenstaat auch den Code Civil und damit den Fortschritt?
Heute wird die Franzosenzeit nicht mehr nur als Vorspiel für die Befreiungskriege von 1813/1814 gedeutet, mit denen die Napoleonische Herrschaft abgeschüttelt wurde, bevor 1815 dann auf dem Wiener Kongress die europäische Landkarte neu geordnet wurde. Franzosenzeit, sie gilt heute ebenfalls als die Zeit der Modernisierungen, die auch Bürgersinn und Bildungsdrang hervorgebracht hatten. Aber auch im Alltag hat sie ihre Spuren bis heute hinterlassen. Im Schwabenland geht man nicht auf dem Bürgersteig, sondern auf dem Trottwar, also dem Trottoir. Und abends sitzt man nicht auf der Couch, sondern auf dem Scheslo, der Chaisselongue.
Die Preußenzeit
1815-1866
Zwar fand der Wiener Kongress, auf dem von September 1814 bis Juni 1815 nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft die Landkarte Europas neu geordnet wurde, an der Donau statt. Doch auch am Rhein zeichneten sich weitreichende Veränderungen ab. Frankreich verlor seine linksrheinischen Departements, und Preußen rückte als Sieger dieser Neuordnung an den Rhein vor. Das war die Geburtsstunde der preußischen Rheinprovinz mit Koblenz als Sitz des Oberpräsidenten und Düsseldorf als Sitz des Provinziallandtags. Nördlich davon schloss sich die Provinz Westfalen an. Im Rheinland wird die Preußenzeit 2015 mit einer großen Veranstaltungsreihe mit dem etwas provozierenden Titel „Danke Berlin. 200 Jahre Preußen am Rhein“ gewürdigt.
Tatsächlich hat Preußen am Rhein Bleibendes hinterlassen: Der Kölner Dom wurde fertiggestellt, König Friedrich Wilhelm III. baute die Burg Stolzenfels in Koblenz zur Sommerresidenz aus, die Fußballvereine in Dortmund und Mönchengladbach gaben sich den Namen Borussia.
Gleichzeitig schuf gerade erst die „Preußenzeit“ eine rheinländische Identität. So kam es während der Revolution von 1848/1849 zu einer Verbrüderung von Kölnern und Düsseldorfern, die im neuen Preußischen Gesetzbuch eine Abschaffung der Errungenschaften aus der „Franzosenzeit“ befürchteten.
Doch der Konflikt mit Frankreich war am Rhein nicht beigelegt. Während der Rheinkrise 1840 beansprucht Frankreich erneut die linksrheinischen Gebiete und es kommt zur so genannten bataille lyrique. "Sie sollen ihn nicht haben,/ Den freien deutschen Rhein“, konterte der Dichter Nikolaus Becker die französischen Ansprüche.
Die Preußenzeit brachte also beides: zunehmende Konflikte als auch Fortschritt. Auch der Begriff Rheinland, der sich heute noch in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz findet, geht auf die Gründung der gleichnamigen preußischen Provinz zurück. Die erlebte vor der Gründung des Deutschen Reichs 1871 nicht nur die ersten Schübe der Industrialisierung. Der Rhein war mit der Rheinromantik auch endgültig auf der touristischen Landkarte Europas angekommen. Zudem markierte das Jahr 1815 mit der Gründung der so genannten Rheinkommission den Beginn der Internationalisierung des Rheins als Wasserstraße.
Grenze des Deutschen Bundes
Spätere Änderungen der Grenze des Deutschen Bundes
Vater Rhein
1871-1918
Die Symbolik war gewollt. Nachdem der Norddeutsche Bund mit seinen Verbündeten im deutsch-französischen Krieg 1870/1871 Frankreich geschlagen hatte, wurde Wilhelm I. am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles – und damit an der Seine – zum deutschen Kaiser ausgerufen. Die deutsche Kleinstaaterei war beendet und Preußen am Ziel. Das Deutsche Reich war auch die Entscheidung für eine kleindeutsche Lösung, also ein deutscher Nationalstaat ohne Beteiligung Österreichs.
Die Konkurrenz mit dem so genannten Erbfeind Frankreich war dem neuen Reich von Anbeginn eingeschrieben – und der Rhein war einmal mehr der Streitpunkt zwischen Deutschen und Franzosen. Straßburg und die von den Deutschen eroberten Gebiete wurden annektiert und als „Reichsland Elsaß-Lothringen“ peu a peu in den Reichsverband eingegliedert. „Vater Rhein“ war nun auf dem größten Teil seines Laudes deutsch.
Der Mittelrhein mit seinen Provinzen Rheinland und Westfalen wurde nach der Reichsgründung Schauplatz einer rasanten Industrialisierung. Im Ruhrgebiet boomte der Bergbau, Krefeld und Gladbach wurden zu Zentren der Textilindustrie, Köln zur wichtigsten Großstadt am Rhein und das Finanzzentrum der wirtschaftlich erfolgreichsten Region des Deutschen Reiches.
Doch der Aufschwung am Rhein endete jäh mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges. Dessen Ende wiederum fand ebenfalls im Spiegelsaal von Versailles seinen symbolischen Höhepunkt. Wo nur 48 Jahre zuvor das Deutsche Kaiserreich ausgerufen wurde, mussten die Deutschen nun die Kapitulation unterzeichnen.
Grenze des Deutschen Reiches
Königreich Preußen (mit Rheinprovinz und Provinz Westfalen)
Reichsland Elsaß-Lothringen
Umkämpfter Rhein
1918-1933
Mit dem Vertrag von Versailles wandte sich das Blatt am Rhein wieder für Frankreich. Das Elsass und Lothringen gingen erneut, wir vor 1871, an Frankreich zurück. Das industrielle Saarland wurde dem Völkerbund unterstellt, Eupen und Malmedy bekam Belgien, und das Rheinland wurde, unter Führung Frankreichs und Belgiens, von den Alliierten besetzt. Der Historiker und Frankreichkenner Gerd Krumeich nennt die Rheinlandbesetzung in seinem Beitrag in „Geschichte im Fluss“ ein „schwieriges Kapitel der deutsch-französischen Beziehungen“, mit dem ein „Puffer“, also etwas Abstand, zwischen Frankreich und Deutschland geschaffen werden sollte. Erst 1930 wurde die Rheinlandbesetzung beendet.
Zuvor, 1925, hatten in zahlreichen Städten des Mittelrheins so genannte Jahrtausendfeiern stattgefunden. Das Datum war eher willkürlich: 925 wurde das mittelfränkische Lothringen endgültig in das ostfränkische Reich Heinrichs I. eingegliedert. Schnell bekamen die Feiern tausend Jahre später deshalb den Charakter antifranzösischer Manifestationen. Die Besatzungsbehörden reagierten mit Härte. Gleichzeitig gab es immer wieder separatistische Tendenzen, die auf eine endgültige Abtrennung des Rheinlands von Deutschland hinarbeiteten. Eine davon endete 1923 im so genannten Düsseldorfer Blutsonntag. Im gleichen Jahr hatten Frankreich und Belgien die Besatzungsmacht auf das Ruhrgebiet ausgedehnt – es folgte der Ruhrkampf.
So blieb das Rheinland die ganze Zeit der Weimarer Republik über umkämpftes Terrain. Von den Goldenen Zwanzigern war in Köln und Düsseldorf wenig zu spüren. Stattdessen warfen die kommenden Ereignisse ihren Schatten voraus. 1936 marschierte Adolf Hitler in das entmilitarisierte Rheinland ein. Drei Jahre zuvor war auf die Weimarer Republik der deutsche Faschismus gefolgt.
Gebietsverluste nach dem Ersten Weltkrieg
Besetztes Gebiet innerhalb der entmilitarisierten Zone im Rheinland
Saargebiet unter Verwaltung des Völkerbundes (bis 1920)
Ostgrenze der entmilitarisierten Zone
Die Rhein in Europa
1945
Der Kampf zwischen der deutschen Wehrmacht und der US-Armee um die Brücke von Remagen – nach der Sprengung der Koblenzer Brücke die letzte verbliebene Rheinbrücke 1945 – hat Filmgeschichte geschrieben. Am Ende konnten die Amerikaner die Sprengung der Brücke durch die Deutschen verhindern und ans rechte Rheinufer übersetzen. Dennoch brach die Brücke im März 1945 wegen Überlastung zusammen. Von Basel bis Nimwegen gab es nun keine Brücke mehr über den mächtigen Rhein. In den Brückentürmen der ehemaligen Ludendorff-Brücke, wie die Brücke von Remagen offiziell hieß, befindet sich heute ein Friedensmuseum.
Mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 war Hitler-Deutschland am Ende, das sogenannte Dritte Reich wurde in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Die drei Zonen der West-Alliierten begegneten sich am Rhein. So bildete der Fluss von Karlsruhe bis unterhalb von Koblenz die Grenze zwischen der französischen und der amerikanischen Besatzungszone. Der Niederrhein bis Xanten gehörte dagegen zu beiden Ufern zur britischen Besatzungszone.
So war es kein Wunder, dass die West-Integration der so genannten Trizone vom Rhein ihren Weg nahm. Auf Initiative des ehemaligen Kölner Oberbürgermeisters und überzeugten Rheinländers Konrad Adenauer sollte nicht Frankfurt am Main, sondern Bonn am Rhein die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland werden. 1948 konstituierte sich dort der Parlamentarische Rat für die drei westlichen Besatzungszonen, ein Jahr später wurde mit der Verabschiedung des Grundgesetzes die Bundesrepublik gegründet. Der „rheinische Kapitalismus“ mit seiner sozialen Marktwirtschaft wurde bald zum Erfolgsmodell West-Deutschlands auf dem Weg zum Wirtschaftswunder.
Und der Rhein wurde zum Geburtshelfer eines neuen Europa. 1963 wurde der Élysée-Vertrag unterzeichnet. Konrad Adenauer und Charles de Gaulle umarmten sich. Mit der deutsch-französischen Aussöhnung begann die europäische Integration.
Besatzungszonen der Alliierten:
amerik.
brit.
franz.
ab 1946 franz. Zoll- u. Wirtschaftsgebiet (ab 1957 zur BRD)
sowjetische Zone (ab 1949 DDR). Bonn, von 1949 bis 1990 Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland