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Stuttgart – Hauptstadt der Freidenker und Anthroposophen? | Stuttgart | bpb.de

Stuttgart Editorial Mein Stuttgart Zur Chillereiche. Kleiner Versuch über Stuttgart Ein Gang durch die Stadtgeschichte Protest in Stuttgart 2010 und 2020. Zwei Herausforderungen der Demokratie Stuttgart – Hauptstadt der Freidenker und Anthroposophen? Integration durch Erwerbsarbeit. Voraussetzungen, Herausforderungen und die Rolle der Kommunen Die Region Stuttgart im Umbruch. Transformation der Schlüsselindustrien als Herausforderung für die Regionalwirtschaft

Stuttgart – Hauptstadt der Freidenker und Anthroposophen?

Heiner Barz

/ 16 Minuten zu lesen

Man kann den Versuch, der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart das Etikett der freigeistigen, nonkonformistischen, ja rebellischen Hochburg anzuhängen, mit guten Gründen infrage stellen. Die deutsche Geschichte kennt viele Städte, in denen Symbolträchtiges geschah, auch und gerade im Hinblick auf die Verbreitung von neuen Ideen, die Proklamierung von innovativen Gesellschaftsmodellen, den Zusammenstoß zwischen alten und aufstrebenden gesellschaftlichen Kräften. Erinnert sei nur an die Weimarer Republik, an die Frankfurter Paulskirche oder an die Leipziger Montagsdemonstrationen. Einflussreiche Bildungskonzepte wurden nicht nur in Stuttgart, wo die Waldorfpädagogik ihren Anfang nahm, sondern auch in Berlin – von Wilhelm von Humboldt – oder in Jena – von Peter Petersen – auf den Weg gebracht. Obendrein finden wir in Stuttgart ja nicht nur die Highlights einer Protestkultur, sondern auch die Automobil-Pioniere Daimler und Porsche, Firmen wie Bosch oder Breuninger und die Klischees der sparsamen schwäbischen Hausfrau oder der pedantisch befolgten Kehrwoche. Zurecht mag man also die Einzigartigkeit von Stuttgart als Nonkonformismus-Hauptstadt bezweifeln. All diesen berechtigten Einwänden zum Trotz wollen wir auf den folgenden Seiten von der Arbeitshypothese ausgehen, Stuttgart sei doch mit einigem Recht in den Ruf der Hauptstadt der Freidenker und der alternativen Pädagogik geraten. Für dieses Narrativ lässt sich nicht nur der Umzug des Rumpfparlaments der Frankfurter Nationalversammlung im Juni 1849 nach Stuttgart oder der nicht zufällig bis heute in Stuttgart ansässige Bund der Freien Waldorfschulen anführen. Auch der – übrigens bis heute anhaltende – Bürgerprotest gegen "Stuttgart 21" symbolisiert eine Zäsur der bundesdeutschen Protestgeschichte. Und im Corona-Jahr 2020 haben die in Stuttgart verwurzelten "Querdenker" als außerparlamentarische Oppositionsbewegung weithin Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Epizentrum der Waldorfpädagogik

In der gesellschaftlichen Umbruchsituation in den Monaten nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde um die Neugestaltung zentraler Institutionen des gesellschaftlichen Lebens, der Politik und der Wirtschaft gerungen. Soldaten- und Arbeiterräte, sozialdemokratische und bürgerliche Strömungen, aber auch die noch immer mächtigen Eliten des wilhelminischen Kaiserreichs kämpften um Macht und Einfluss. Unter den vielen Erneuerungsbestrebungen fielen 1919 Vorträge im Großraum Stuttgart des ansonsten eher durch esoterische Aktivitäten bekannten Philosophen und Wanderpredigers Rudolf Steiner nicht wirklich ins Gewicht. Er setzte sich für stärkere Einflussmöglichkeiten der Arbeiterschaft ein, freilich mit einem besonderen Konzept. Steiners sogenannte Dreigliederungsbewegung propagierte eine gesellschaftspolitische Neuorientierung, die individualistisch-unternehmerische Aspekte des Liberalismus mit Ideen der sozialen Gerechtigkeit aus der eher sozialistischen Tradition verbinden wollte. Die Zuordnung der Ideale der Französischen Revolution zu zentralen Gesellschaftsbereichen – Freiheit in Geistesleben und Kultur, Gleichheit in der Politik und vor dem Gesetz, Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben – sollte der Schlüssel für eine freiheitliche und gleichzeitig solidarische, eine wirtschaftlich wie kulturell produktive neue Gesellschaftsordnung sein. Im Rückblick muss man konstatieren, dass auch dieses Konzept der Gesellschaftserneuerung Schiffbruch erlitten hat. Und trotzdem hat es einen nachhaltigen Impuls hinterlassen: Die Gründung der ersten Waldorfschule auf der Uhlandshöhe in Stuttgart als Schule für die Kinder der Arbeiter und Angestellten der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik war eine von vielen Initiativen, die im Geiste dieser Dreigliederungsbewegung gestartet wurden.

Steiner sprach von Ende April bis Anfang August 1919 in Stuttgart und Umgebung vor den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft, vor interessierten Bürgern in den großen Sälen der Stadt, vor den weitgehend sozialistisch orientierten Arbeitern bei Daimler, Bosch und anderer großer Betriebe. Den Unternehmer Robert Bosch konnte Steiner mit seinen Ideen nicht überzeugen. In dessen Biografie schreibt der spätere Bundespräsident Theodor Heuss: "Stuttgart erlebte damals seinen Sonderfall von sozialreformatorischem Reformertum. (…) der Sinn für das Spekulative, der im schwäbischen Volkstum steckt, schien ihm vorübergehend Aussichten auf breitere Wirkung zu geben."

Aber Steiner hatte einen umtriebigen Verbündeten: Der Industrielle Emil Molt, Inhaber der prosperierenden Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, war von Steiners Ideen überzeugt, ließ seine Beziehungen spielen und brachte seinen eigenen Betrieb in die neu gegründete Gesellschaft "Der kommende Tag" ein. Diese "Aktiengesellschaft zur Förderung wirtschaftlicher und geistiger Werte" wurde am 13. März 1920 gegründet. Vorsitzender des Aufsichtsrates war bis 1923 Rudolf Steiner. Am 23. April 1919 schlug Molt auf einer Betriebsratsversammlung die Gründung einer Schule für die Kinder der Arbeiter vor. Die Anwesenden waren begeistert. Danach ging alles sehr schnell. Molt kümmerte sich um die Genehmigung durch das Ministerium, kaufte das Café Uhlandshöhe als Schulgebäude und beauftragte Rudolf Steiner mit der Ausarbeitung des Schulprogramms und der Ausbildung der Lehrer. Steiner wiederum beauftragte Karl Stockmeyer, einen anderen Getreuen, ihn bei der Suche nach geeigneten Persönlichkeiten, die als Lehrer infrage kämen, zu unterstützen. Er wies ihn an, er müsse nun auf die Reise gehen wie ein Theaterdirektor, der sein Ensemble zusammensucht. Vor der handverlesenen Gruppe von 17 Kandidaten, darunter 8 Frauen, hielt Steiner dann ab dem 21. August 1919 seinen berühmten Lehrerkursus. Direkt im Anschluss erfolgte am 7. September der feierliche Gründungsakt im vollbesetzten Stuttgarter Stadtgartensaal vor mehr als tausend Besuchern. In der Festansprache betonte Steiner, dass mit dieser "lebendigen Erziehungstat" keine Weltanschauungsschule beabsichtigt sei, vielmehr die verschiedenen Konfessionen ungehindert ihren jeweiligen Religionsunterricht erteilen könnten.

Der dann tatsächlich am 18. September 1919 startende Schulbetrieb – vorher mussten erst noch die Möbel geliefert werden – mit 256 Kindern sollte sich in den folgenden 100 Jahren als Keimzelle einer eigentümlichen, weltumspannenden Bildungskonzeption erweisen. Zusammen mit der Montessori-Pädagogik dürfte die Waldorfschule das einflussreichste Erbstück der sogenannten Reformpädagogik sein, und das weltweit. Im Kontext der reformpädagogischen Bewegung stellt sie jedoch mindestens insofern einen Sonderfall dar, als ihr Spiritus Rector seine pädagogische Konzeption gewissermaßen als Nebenprodukt einer ziemlich allumfassenden Lebens-, Gesellschafts- und Weltbildreform angesehen hatte und eher ein Universalquerdenker war als ein Schulreformer. Die Waldorfpädagogik ist wohl auch insofern einzigartig, als es ihr gelungen ist, eine regelrechte Bildungskette zu etablieren, die vom vorschulischen über den schulischen und außerschulischen Bereich inzwischen bis hinauf zu staatlich anerkannten Hochschulen reicht.

Rudolf Steiner als prägende Figur

Zweifellos gehört Rudolf Steiner zu den interessantesten und gleichzeitig umstrittensten Persönlichkeiten an der Schwelle zwischen 19. und 20. Jahrhundert. Er hat in zahlreichen, ja fast allen Lebensbereichen bis heute sichtbare Spuren hinterlassen, weil er schon zu Lebzeiten Anhänger um sich scharte, die einerseits von ihm für die verschiedensten Herausforderungen neue Antworten erwarteten und die andererseits, an Steiners Anregungen anknüpfend, neue Bewegungen auf den Weg brachten und über seinen Tod hinaus ausbauten. Dies gilt für die biologisch-dynamische Landwirtschaft, die mit Demeter sozusagen das erste Gütesiegel lange vor der heutigen Öko- und Bio-Welle im Markt etablieren konnte. Es gilt für die anthroposophische Medizin mit ihren eigenen Kliniken. Es gilt nicht weniger für die darauf aufbauende Heilmittel- und Naturkosmetik-Produktion von Firmen wie Weleda oder Hauschka. Es gilt für die "Christengemeinschaft", die anthroposophische Variante einer christlichen Kirche, die von Friedrich Rittelmeyer und anderen Theologen nach Anregungen Steiners 1922 gegründet wurde. Die Ideen der Dreigliederungsbewegung finden bis heute nicht nur ihren Niederschlag in Selbstverwaltungskonzepten etwa der Waldorfschulen, sondern auch bei so überraschenden Finanzmarktakteuren wie der Bochumer GLS-Bank, der "Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken". Erfolgreiche Wirtschaftsunternehmen wie die expandierende Natur-Supermarktkette Alnatura, Europas größte Drogeriemarktkette dm oder die deutsche Nr. 2 nach SAP im Software-Markt, die Software AG Stiftung, werden als anthroposophienah verortet. Man findet Steiners Wirkungsgeschichte bei so epochalen Kunst-Revolutionären wie Wassily Kandinsky oder Joseph Beuys (beide beriefen sich explizit auf ihn). Einen Platz in der Architekturgeschichte hat Steiner spätestens mit dem Entwurf des zweiten Goetheanums in Dornach in der Schweiz, dem weltweit ersten als Stahlbetonbau mit Sichtbetonfassade ausgeführten Saalbau.

Die in der Öffentlichkeit am stärksten mit dem Namen Rudolf Steiner assoziierte Waldorfschule mit der dort gepflegten Eurythmie ist im Gesamtportfolio der anthroposophischen Initiativen und Organisationen also keineswegs so zentral wie es scheinen mag. Eine gewisse Schlüsselrolle für die Anthroposophie kommt der Waldorfpädagogik wohl aber dennoch allein schon deshalb zu, weil die Anthroposophie damit über eigene Sozialisationsinstitutionen zur Traditionsweitergabe und Nachwuchsrekrutierung verfügt. Auch wenn an Waldorfschulen nur wenige Schüler aus anthroposophisch orientierten Elternhäusern unterrichtet werden, so kann doch andererseits nicht bestritten werden, dass auch der Anthroposophie nahestehende Familien hier ein aus ihrer Sicht adäquates Bildungsangebot vorfinden. Somit dürfte die Anthroposophie eine der wenigen weltanschaulichen Gruppierungen sein, die – ähnlich wie die katholische Kirche – über eigene Bildungseinrichtungen für alle Altersgruppen auf allen Ebenen verfügt. Zu diesen gehören mittlerweile nicht nur über 2.000 Waldorfkindergärten und über 1.000 Waldorfschulen weltweit, sondern auch betriebliche Berufsausbildungsstätten, heilpädagogische Einrichtungen, zahlreiche Lehrerbildungs- und Kunstausbildungsstätten und nicht zuletzt auch staatlich anerkannte private Hochschulen wie Deutschlands erste Privatuniversität Witten-Herdecke (gegründet 1982 von Konrad Schily), die Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn (seit 2002 staatlich anerkannt) oder die Freie Hochschule in Stuttgart (seit 1999 staatlich anerkannt), in direkter Nachbarschaft zur Waldorfschule auf der Uhlandshöhe.

Auch wenn der Unternehmer Emil Molt durch sein existenzielles Engagement in der schließlich scheiternden Dreigliederungsbewegung seinen Betrieb und sein Vermögen verloren hatte, lässt sich festhalten: Mit der von ihm initiierten und in den ersten Jahren gemanagten Waldorfschule Uhlandshöhe hat er den Grundstein für ein weltumspannendes NGO-Konglomerat gelegt. In seiner Person wie in der Waldorfpädagogik verschmilzt die sprichwörtliche schwäbische Tatkraft mit spirituellen Resonanzen, die vielleicht auch in der im Raum Stuttgart stark präsenten pietistischen Werkfrömmigkeit eine Wurzel haben mögen: "Stuttgart hat es sicher nicht unwesentlich dem Zigarettenfabrikanten Molt zu verdanken, die ‚weltliche Hauptstadt‘ der anthroposophischen Bewegung geworden zu sein."

Im Stuttgarter Osten sind anthroposophische Einrichtungen dementsprechend dicht gesät: Buchhandlung, Verlag, Demeter-Lebensmittel, das Eurythmeum, das Freie Jugendseminar, die Freie Fachschule für Sozialpädagogik, Haus Morgenstern, die Freie Hochschule der Christengemeinschaft, die GLS Bank und anderes mehr. Dass die Waldorfpädagogik heute in Stuttgart gleich mit fünf Schulen vertreten ist, während sie beispielsweise in einer vergleichbar großen Landeshauptstadt wie Düsseldorf nur eine Schule betreibt, verwundert daher kaum. Dass die anthroposophische Prägung der Stadt das Aufkommen von Protestbewegungen wie jener gegen "Stuttgart 21" erklären kann, darf gleichwohl skeptisch beurteilt werden.

Stuttgart 21 – Fehldeutungen eines Wendepunkts

Im Zusammenhang mit dem Protest gegen das gigantische Bahnhofs-Neubauprojekt "Stuttgart 21" kam der schillernde Begriff des "Wutbürgers" in Mode, in dem sich eine Neujustierung des Verhältnisses von gesellschaftskritischer Protestkultur und saturiertem Establishment ankündigte. Waren die Protestbewegungen der bundesrepublikanischen Vergangenheit, wie die 68er-Bewegung, die Anti-Vietnamkriegs- oder die Anti-Atomkraft-Demos, maßgeblich eher von Schülern und Studenten getragen, schienen sich 2010 unter dem Motto "Oben bleiben" (gegen den Umbau zum Tiefbahnhof gerichtet) auf einmal vor allem ältere, wohlhabende und ansonsten eher konservativ ausgerichtete Bevölkerungsgruppen zu einem zähen Dauerprotest zusammenzufinden. Sozialwissenschaftler weisen darauf hin, dass hier exemplarisch ein Kulturkonflikt sichtbar geworden sei, in dem sich die Konfliktparteien nicht nach der simplen Logik "Betroffene vs. Profiteure" sortieren ließen – sondern in dem sich gerade Menschen gegen Eingriffe in ihre Lebenswelt wehrten, die selbst nicht materiell betroffen waren, wie das anderswo, etwa beim Bau neuer Start- und Landebahnen auf Flughäfen, oft der Fall ist. Der Bewegung blieb der eigentliche Erfolg, nämlich die Verhinderung des umweltpolitisch, verkehrstechnisch und wirtschaftlich umstrittenen Großprojekts, versagt. Indessen lieferte der Konflikt um Stuttgart 21 die Schwungkraft, um die CDU-Vorherrschaft in Baden-Württemberg nach 58 Jahren zu brechen: 2011 wurde mit Winfried Kretschmann erstmals ein Grüner Ministerpräsident eines Bundeslandes.

In der Rückschau zeigen sich eklatante Verstrickungen zwischen Politik, Medien und Industrie. Zuletzt wurde am 5. November 2020 gemeldet, dass der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger in den Aufsichtsrat des Unternehmens Herrenknecht einzieht – also des Unternehmens, das mit seinen Tunnelbohrmaschinen zu den großen Profiteuren des Megaprojekts gehört. Oettinger hatte sich unter anderem mit einer Finanzierungszusage über 950 Millionen Euro durch das Land für das S21-Projekt stark gemacht. Die "Stuttgarter Zeitung", Teil der Südwestdeutschen Medien Holding (SWMH), die 2008 wiederum ein Darlehen über 300 Millionen Euro von der landeseigenen Landesbank Baden-Württemberg erhalten hatte, stellte sich, gegen alle von renommierten Experten vorgebrachten Kritikpunkte, konsequent auf die Seite der Projektbetreiber. Die großen Medien überboten sich darin, die Protestierenden entweder als chancenlos zu belächeln oder aber als kriminell zu diffamieren. Ein Höhepunkt war der Kampfbegriff des "Wutbürgers" in einem "Spiegel"-Essay 2010 – gegenüber dem das andere, positive Etikett des "Mutbürgers" weitgehend ignoriert wurde. Denn während der Mutbürger sich in der Tradition Kants bewegt – "Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen" –, wird dem Wutbürger alle Vernünftigkeit abgesprochen und eine kurzsichtige, von Emotionen gesteuerte, gleichsam kindisch-egoistische Aufgeregtheit unterstellt. Dass Stuttgart 21 ökologisch, ökonomisch und verkehrstechnisch ein Desaster werden würde, hatten in den jahrelangen Auseinandersetzungen Zigtausende Aktivisten immer wieder behauptet, und Dutzende hochrangige Expertisen hatten die Argumente sortiert: angefangen bei der Umgehung von Brandschutzstandards, die etwa der Brandschutzexperte Hans-Joachim Keim beklagte ("Eine Katastrophe mit Ansage"), über die Reduzierung der Bahnhofsleistungsfähigkeit (8 statt 16 Gleise und damit ein Rückbau statt eines Ausbaus des Bahnverkehrsaufkommens) bis zu den unkalkulierbaren Risiken des Tunnelbaus durch Anhydritgestein, das beim Kontakt mit Grundwasser aufzuquellen droht und die darüber liegenden Gebäude beschädigen könnte. Ursprünglich für 2,5 Milliarden Euro kalkuliert, rechnet der Bundesrechnungshof inzwischen mit Kosten über 10 Milliarden Euro – und dabei sind versteckte Kosten noch gar nicht enthalten, wie etwa die rund 3 Milliarden Euro teure, aber unumgängliche Nachrüstung sämtlicher Züge und Strecken mit dem "European Train Control System" (ETCS), weil es in den neuen engen Tunneln keinen Platz für die traditionellen Licht-Signalanlagen gibt.

Während sich die im März 2011 gewählte grün-rote Landesregierung für die von ihr im November 2011 angesetzte S21-Volksabstimmung bescheinigt, ein "neues Kapitel der baden-württembergischen Demokratie" aufgeschlagen zu haben, sprechen Kritiker des S21-Projektes davon, dass es sich dabei um einen "Betrug am Wähler" gehandelt habe. Denn gefragt wurde nicht etwa: "Sind Sie für oder gegen S21?" Die Frage, die nicht nur den Wahlberechtigten im Raum Stuttgart, sondern den Wählern in ganz Baden-Württemberg vorgelegt worden war, lautete vielmehr: "Stimmen Sie der Gesetzesvorlage ‚Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21‘ (S21-Kündigungsgesetz) zu?" Man darf davon ausgehen, dass zumindest größere Teile der Wählerschaft kein klares Bild davon hatten, was ein "Ja" oder "Nein" zu dieser Frage hinsichtlich der Verwirklichung von S21 tatsächlich bedeutete. Wer hier "Ja" ankreuzte, war gegen S21, und wer "Ja zu S21" meinte, musste "Nein" ankreuzen. Dass Kritiker diese Ausgestaltung der Volksabstimmung mindestens als irreführend empfanden, ist gut nachvollziehbar.

Dass sich inzwischen viele der Hauptverantwortlichen von S21 distanzieren und auf einmal die alten Argumente der Gegner als "neuen Sachstand" entdeckt haben, kommt manchem zynisch vor. 2016 jedenfalls wird der damalige Bahnchef Rüdiger Grube mit den Worten zitiert: "Ich habe Stuttgart 21 nicht erfunden und hätte es auch nicht gemacht." Und der neue Bahnchef Richard Lutz sagt: "Mit dem Wissen von heute würde man das Projekt nicht mehr bauen." Ebenfalls umgefallen, freilich in die andere Richtung, ist Ministerpräsident Kretschmann. Er hatte vor der Landtagswahl 2011 davon gesprochen, dass die Mitfinanzierung von S21 durch das Land Baden-Württemberg verfassungswidrig sei und dass es mit ihm keine Fortsetzung des Verfassungsbruchs geben werde. Einmal im Amt sieht sich Kretschmann an die unter falschen Voraussetzungen abgehaltene Volkabstimmung gebunden – ansonsten schweigt er und muss in Kauf nehmen, dass Kritiker ihn an seinen eigenen Worten messen und des Verfassungsbruchs zeihen.

Dass der Ruf Baden-Württembergs als "deutsches Mutterland der direkten Demokratie" sich durch dieses brachial durchgesetzte und mit Scheinargumenten und fragwürdigen Verfahren legitimierte Symbolprojekt gefestigt hat, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Symptomatisch ist womöglich eher, dass hier die Grünen erstmals den Rubikon überschritten haben: Durch einen zweifelhaften Volksentscheid verhalfen sie dem desaströsen S21-Projekt erst zum Durchbruch. Was den Bahnhofsbau angeht, stehen sie mit Sicherheit nicht mehr dort, wo sie eigentlich herkommen – nämlich auf der Seite derer, die gegen ökologischen Irrsinn und staatliche Willkür protestieren. Stattdessen sitzen sie heute insbesondere in Baden-Württemberg in Rathäusern und Gesundheitsministerien und verhängen Ausgangs- und Demonstrationsverbote über die Bevölkerung. Dass ausgerechnet die Initiatoren des S21-Projekts einst die Drehung des alten Kopfbahnhofs um 90 Grad als Durchgangsbahnhof unter dem Motto "Quer-Denken" angepriesen hatten, wird freilich von den "Querdenkern" der Corona-Krise kaum einer wissen.

Querdenken 711 – Quer zum Rechts-Links-Schema?

Zuletzt hat sich im Zuge der Corona-Krise in Stuttgart die Initiative "Querdenken 711" als bundesweit auffälligste Protestbewegung gegen freiheitseinschränkende Maßnahmen gebildet. Mit dem Unternehmer Michael Ballweg an der Spitze – Selbstcharakteristik: "Unternehmer, Querdenker, Familienmensch, Hundebesitzer" –, organisierte "Querdenken" am 18. April 2020 eine erste Demonstration mit 50 angemeldeten Teilnehmern, deren Genehmigung erst per Eilentscheidung vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das ursprüngliche Verbot durch die Stadt Stuttgart erstritten werden musste. Die späteren Kundgebungen, die vom Stuttgarter Schlossplatz wegen der großen Teilnehmerzahlen auf den Cannstatter Wasen verlegt wurden, besuchten Tausende von Bürgern, die ihren Protest gegen die Einschränkung von grundgesetzlich garantierten Rechten im Rahmen der Corona-Bekämpfung zum Ausdruck bringen wollten. Bundesweit entstand in den folgenden Wochen ein loser Verbund von "Querdenken"-Initiativen, die jeweils die Telefonvorwahl im Namen tragen: "Querdenken 731" (Ulm), "Querdenken 761" (Freiburg), "Querdenken 30" (Berlin) und andere mehr.

Am 1. und 31. August 2020 fanden, organisiert von "Querdenken 711", in Berlin große Demonstrationen statt, für die bundesweit mobilisiert wurde. Während in der Medienberichterstattung vielfach vor allem die Anwesenheit von Rechtsextremen, Reichsbürgern und Verschwörungstheoretikern betont wurde, hielt der Verfassungsschutz gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" zur Demonstration am 1. August in Berlin fest, dass von Rechtsextremen kein "prägende[r] Einfluss auf den Demonstrationszug oder die Gesamtkundgebung" ausgegangen sei. Ein Forscherteam um den Basler Soziologen Oliver Nachtwey hat im Dezember 2020 zudem die Ergebnisse einer explorativen Online-Befragung von 1152 Querdenker-Aktivisten vorgelegt. Demnach rekrutieren sich die Teilnehmer eher aus dem links-grünen Spektrum: Bei der letzten Bundestagswahl haben nach diesen Zahlen 23 Prozent die Grünen, 18 Prozent die Linke gewählt. Die AfD folgt mit 15 Prozent erst auf Platz 3 der Parteipräferenzen (CDU/CSU: 10 Prozent, FDP: 7 Prozent, SPD: 6 Prozent, Die Partei: 4 Prozent).

Berührungspunkte zwischen "Querdenkern" und Anthroposophen – und damit auch Menschen, die früher zur Kernklientel der Grünen gehörten, weil sie alternative Heilmethoden, Meditation und östliche Spiritualität für sich entdeckt haben – scheinen naheliegend. So hat die anthroposophienahe Zeitschrift "Kernpunkte" im August 2020 eine Sonderausgabe zur Initiative Querdenken veröffentlicht, in der Michael Ballweg und seine auf meditative Selbsterkenntnis gründende Motivation einen breiten Raum einnehmen. Biografische Verbindungen von Ballweg zur Waldorfpädagogik werden gleichwohl nicht berichtet. Allerdings sah sich der Bund der Freien Waldorfschulen bereits im Juni 2020 dazu veranlasst, sich von Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie zu distanzieren.

Querdenker und Freidenker

Ihrem Selbstverständnis nach will die Anthroposophie, auf deren Menschenbild die Waldorfpädagogik aufgebaut ist, keine Bekenntnis-, sondern eine Erkenntnisgemeinschaft sein. Ob man den Anspruch, nicht durch einen gemeinsamen Glauben, sondern durch undogmatisches Streben nach Wissen verbunden zu sein, in jedem real existierenden Exemplar dieser Weltanschauung verwirklicht findet, steht auf einem anderen Blatt. Der Anspruch jedenfalls ist, dass sich hier eine Orientierungssuche ohne Scheuklappen Bahn gebrochen habe, die Ost und West, Tradition und Technik, Innenschau und Welterkenntnis zusammenführen will zu einem umfassenden Bild der Welt. Damit ist ein klassischer Ansatz der Freidenker formuliert, dessen Durchsetzungsfähigkeit und Fortbestehen in schwäbischer Kulisse für die gesamte Bundesrepublik eine Bereicherung ist – oder doch zumindest sein kann.

Das Standardwerk der protestantischen Theologie, "Religion in Geschichte und Gegenwart", definiert Freidenker jedenfalls vielfach anschlussfähig: "Ursprünglich für die deistische (im Unterschied zur theistischen) Lehre gebraucht, bezeichnet der Begriff der Freidenker (freethinkers, libres penseurs) eine Denkschule, die ‚in Glaubenssachen jede Unterwerfung unter eine traditionelle Autorität ablehnt und für sich das Recht zur freien Meinungsbildung beansprucht.‘ (…) Insofern im Umkreis der sozialistisch-marxistischen und der atheistisch-rationalistischen Strömungen des 19. Jahrhunderts auch der naturphilosophische Monismus eines Ernst Häckel als Spielart des Freidenkertums gilt und letzterer eine wichtige Inspirationsquelle für die Anthroposophie Rudolf Steiners darstellte, erscheint es durchaus berechtigt, auch die Waldorfpädagogik in dieser Tradition zu sehen."

Ob Stuttgart wirklich den Titel einer "Hauptstadt des Nonkonformismus" beanspruchen kann, muss offen bleiben. Gleichwohl lohnt sich der Blick auf die dortigen Anfänge der Waldorfpädagogik und der Anthroposophie sowie ihrer Verbindungen zu heutigen Protestbewegungen wie "Stuttgart 21" oder "Querdenken". Ob dies nun als Freidenker- oder Querdenkertum verstanden wird, liegt vielfach im Auge des Betrachters.

ist Professor für Erziehungswissenschaft und leitet die Abteilung für Bildungsforschung und Bildungsmanagement an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. E-Mail Link: barz@phil.hhu.de