Der Streit um den postkolonialen Historiker und Politikwissenschaftler Achille Mbembe im Frühjahr 2020 hat die explosive Mischung verdeutlicht, die das Erinnern an den Holocaust und das Erinnern an den Kolonialismus in Deutschland bisweilen bilden können. Was war passiert? In einem offenen Brief kritisierte Lorenz Deutsch, der kulturpolitische Sprecher der FDP-Landtagsfraktion Nordrhein-Westfalens, die Einladung Mbembes als Eröffnungsredner für die Ruhrtriennale 2020.
In der "Causa Mbembe" verschränkt sich das öffentliche Erinnern an den Holocaust mit den Auseinandersetzungen um die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands. Koloniale Gewaltverbrechen wurden und werden in Deutschland oftmals relativiert, womit auch ein fehlendes Verständnis von Rassismus als grundlegender Ideologie kolonialer Gewalt einhergeht. Dass dieser Rassismus bis heute fortwirkt und es weißen Menschen auf individueller wie gesellschaftlicher und staatlicher Ebene ermöglicht, sich selbst als unhinterfragte Norm zu definieren, wird unter anderem durch ein postkoloniales und rassismuskritisches Aufarbeiten der kolonialen Vergangenheit zunehmend kontrovers diskutiert.
In Deutschland trifft dieses Erinnern an den Kolonialismus auf eine Gesellschaft, in deren Erinnerungskultur der Holocaust mittlerweile eine zentrale Position einnimmt.
Erinnern an den Holocaust
Die Bedeutung des Erinnerns an den Holocaust hat, ähnlich einem "Crescendo",
Obwohl die Erinnerung an den Holocaust damit zwar zunächst lauter wurde und sich schließlich bis in die Gegenwart im öffentlichen Raum etablieren konnte, sollte diese Etablierung keineswegs als Stabilität missverstanden werden. Eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Wurde der Umgang mit der eigenen Vergangenheit schon in früheren Debatten – beispielsweise 1998 durch den Autor Martin Walser in seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche – kritisiert, greifen gegenwärtig rechtspopulistische und rechtsextremistische Akteur:innen mit Schlussstrichforderungen das etablierte Holocaust-Gedächtnis stark an. Auch antisemitische Gewalt wird durch die etablierte öffentliche Erinnerung an den Holocaust nicht verhindert; antisemitische Straftaten gegenüber Juden und Jüdinnen haben in den vergangenen Jahren sogar zu- statt abgenommen.
Unterliegt das Erinnern an den Holocaust selbst einem Generationenwandel, wird zudem zunehmend diskutiert, für welche Teile der deutschen Gesellschaft welche öffentlichen Erinnerungsnarrative anschlussfähig sind.
Perspektivwechsel
Lange Zeit imaginierten Akteur:innen aus Öffentlichkeit und Politik die deutsche Gesellschaft als eine zumeist homogene, weiße Gemeinschaft, wodurch sie beispielsweise die Lebensrealität und Narrative deutscher BPoCs ("Black and People of Color") unsichtbar machten. Während sich das Erinnern an den Holocaust zwischen den 1960er und 2000er Jahren öffentlich etablierte, fanden gleichzeitig Ereignisse statt, die den Charakter der deutschen Gesellschaft als Migrationsgesellschaft deutlich machten. Im Folgenden werfe ich einen fragmentarischen Blick auf diese Ereignisse, ohne damit aber auch nur im Ansatz alle Lebensrealitäten erfassen zu können. Vielmehr möchte ich durch diese Parallelisierung andeuten, dass sich das öffentliche Erinnern an den Holocaust zu einem Zeitpunkt etablierte, an dem die Mehrheitsgesellschaft blind für die Lebenswelten vieler Menschen in Deutschland war.
Während die Kinder der Kriegs- und Nachkriegsgeneration in den 1960ern in Westdeutschland die eigenen Eltern in die moralische Verantwortung für die nationalsozialistische Vergangenheit nahmen, warb die Bundesrepublik im Zuge des großen Wirtschaftswachstums ab Mitte der 1950er Jahre Arbeitskräfte von anderen Staaten ab, darunter Migrant:innen aus Italien, Jugoslawien, Marokko, Südkorea und der Türkei.
Als 1986 der Historikerstreit und damit Aushandlungskämpfe über die Singularität des Holocaust entbrannten, machten die Dichterin May Ayim, die Historikerin Katharina Oguntoye und die Soziologin Dagmar Schultz zeitgleich mit ihrem Sammelband "Farbe bekennen" auf die Lebensrealität afrodeutscher Frauen verschiedener Generationen in Deutschland aufmerksam. Bezugspunkt der Beiträge war die Konfrontation mit Rassismus in der deutschen Gesellschaft. Dabei wurde nicht nur die koloniale Verstrickung Deutschlands untersucht, sondern auch die Überlagerungen von Kolonialismus und Nationalsozialismus sowie die rassistische Gewalt, der Afrikaner:innen und Afrodeutsche während der NS-Zeit ausgesetzt waren.
Dass gegenwärtig zunehmend Fragen nach der Anschlussfähigkeit des Erinnerns an den Holocaust in einer heterogenen Gesellschaft gestellt werden, lässt sich auch durch einen Perspektivwechsel der Mehrheitsgesellschaft erklären, der auch durch den jahrzehntelangen Einsatz von BPoCs angestoßen wurde. Erst seit Beginn der 2000er Jahre öffneten sich Politik und Öffentlichkeit zunehmend für die Einsicht, dass Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben und/oder sich diesem Land zugehörig fühlen, eben nicht nur weiß und christlichen Glaubens, sondern beispielsweise auch Schwarz, jüdischen und muslimischen Glaubens und/oder Person of Color sind.
Es ist dabei auch den kontinuierlichen, intellektuellen und (zivil)gesellschaftlichen Bemühungen von BPoC-Akademiker:innen und -Aktivist:innen zu verdanken, dass die Mehrheitsgesellschaft und damit auch Entscheider:innen in Politik und Öffentlichkeit beginnen, gegenwärtige erinnerungskulturelle Praktiken in Bezug auf Kolonialismus und Rassismus zu hinterfragen. Dies erklärt auch die steigende Popularität postkolonialer Forschung, die akademische Anstöße für eine kolonial- und rassismuskritische Reflexion liefert.
Globalisierungseffekte
Menschen, die seit dem Ende der 1980er Jahre geboren wurden, wachsen unter den veränderten Bedingungen einer globalisierten Welt auf. Insbesondere die Digitalisierung ermöglicht es ihnen, in kürzester Zeit auf ein riesiges Reservoir transnationaler Wissensbestände zurückzugreifen.
In Deutschland traf die Globalisierung Anfang der 1990er Jahre auf eine komplexe Gemengelage. Nicht nur die "Nachkriegs-Identität der Deutschen" erodierte mit der zunehmenden Entgrenzung des Nationalstaats.
Für Generationen, die mit Globalisierungseffekten aufgewachsen sind, überlagern sich jedoch Nationalstaat und die Gesellschaft innerhalb des Nationalstaats nicht mehr zwangsläufig. Im Gegenteil: Ihre Lebenswelt setzt sich aus einem Konglomerat transnationaler Lebens-, Kommunikations-, und Interessensformen zusammen, die als Quelle der eigenen Zugehörigkeit dienen können. Dennoch wäre es verfehlt, damit den Untergang nationaler Zugehörigkeitsprozesse herbei zu fantasieren. Es ist gerade die Verquickung des Globalen mit lokalen Rückbezügen, die mittlerweile zur Lebensrealität vieler, wenn auch sicherlich nicht aller Menschen in Deutschland gehört. Erst im Alltag, in den Handlungen und Räumen des Lokalen, machen sich ebenjene Effekte der Globalisierung bemerkbar.
Diese zeigen sich schließlich auch an der Art des Erinnerns im Übergang der Generationen. So sind seit Ende der 1990er Jahre Tendenzen zu beobachten, die Erinnerung an den Holocaust zu transnationalisieren – gewissermaßen ein von innen nach außen gerichteter Effekt.
Die Erinnerungskultur ist in Deutschland zu Recht daran ausgerichtet, die deutsche Verantwortung für den Holocaust und die NS-Zeit zu ihrem Zentrum zu machen. Dazu gehört es, auf Antisemitismus als notwendige Bedingung für den Holocaust hinzuweisen. Die gleichzeitige Thematisierung von Antisemitismus und Holocaust sowie Rassismus und Kolonialismus in ein in sich schlüssiges Erinnerungsnarrativ zu übersetzen, ist zu einer großen Herausforderung für die Erinnerungskultur in Deutschland avanciert. An dieser Herausforderung stricken nunmehr eine Vielzahl verschiedener Akteur:innen unterschiedlicher Generationen mit.
Verschränkung innerer und äußerer Öffnung
Der Soziologe Aladin El-Mafaalani fasst Globalisierungsprozesse als "äußere Offenheit" zusammen, also als "Verschiebung von Grenzen zwischen verschiedenen Gesellschaften". Neben dieser sei es im Deutschland der jüngsten Vergangenheit auch zu einer "inneren Offenheit" gekommen, zu einer "Verschiebung von Grenzen der Teilhabe und Zugehörigkeit innerhalb einer Gesellschaft".
Wer streitet, wer wird gehört?
Das eingangs skizzierte Beispiel der Debatte um Achille Mbembe zeigt, dass dieser Prozess mitunter zu einer explosiven Mischung führen kann. Nun wäre es verfehlt, den Generationenwandel als alleinige Erklärung dafür heranzuziehen. Selbstverständlich können intergenerationelle Dynamiken die Auseinandersetzungen um das "Wie" der deutschen Erinnerungskultur beeinflussen. Gleichwohl weist etwa beispielsweise El-Mafaalani darauf hin, dass die Konfliktlinien in einer offenen Gesellschaft nicht (nur) zwischen Generationen der Mehrheitsgesellschaft und Generationen von BPoCs verlaufen – genauso wenig, wie sie (nur) zwischen älteren und jüngeren Generationen verlaufen. Eine solche Vorstellung würde Kategorien wie die der "Generation" viel zu stark essenzialisieren. Tatsächlich durchkreuzen die Konfliktlinien "alle Schubladen, die man sich vorstellen kann".
Grundsätzlich muss man sich bei Debatten wie der "Causa Mbembe" auch fragen, wer im öffentlichen Raum überhaupt über die Ausrichtung deutscher Erinnerungskultur streitet – und wem zugehört wird. Dies ist nie die Gesellschaft an sich, sondern es sind Personen aus bestimmten Berufskontexten mit Zugang zum öffentlichen Raum – etwa Wissenschaftler:innen, Journalist:innen oder Politiker:innen. Sie sind ihrerseits Angehörige verschiedener Generationen, deren eigene Lebensrealität sich gleichzeitig in mehrfachen Dimensionen von Zugehörigkeit entfaltet.
In erinnerungskulturellen Debatten wird die deutsche Gesellschaft gewissermaßen in absoluter Radikalität mit inneren und äußeren Öffnungs-, aber auch Schließungstendenzen konfrontiert.
Zu appellieren ist bei dieser Aushandlung an den Modus der Selbstkritik. Zuletzt hat die Publizistin Carolin Emcke auf die Verantwortung hingewiesen, die insbesondere das Sprechen oder Schreiben in der Öffentlichkeit mit sich bringt.