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Wem gehört die Vergangenheit? Generationenbrüche im deutschen Erinnern

Liane Schäfer

/ 14 Minuten zu lesen

Der Streit um den postkolonialen Historiker und Politikwissenschaftler Achille Mbembe im Frühjahr 2020 hat die explosive Mischung verdeutlicht, die das Erinnern an den Holocaust und das Erinnern an den Kolonialismus in Deutschland bisweilen bilden können. Was war passiert? In einem offenen Brief kritisierte Lorenz Deutsch, der kulturpolitische Sprecher der FDP-Landtagsfraktion Nordrhein-Westfalens, die Einladung Mbembes als Eröffnungsredner für die Ruhrtriennale 2020. Der Vorwurf lautete, dass dieser nicht nur der unter anderem in Deutschland als antisemitisch eingestuften BDS-Bewegung ("Boycott, Divestment and Sanctions") nahestehe, sondern in seinen Texten auch den Holocaust durch unlautere Vergleiche relativiert und antisemitische Israelkritik reproduziert habe. Nachdem sich der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, dieser Kritik angeschlossen hatte, brach sich in der deutschen Öffentlichkeit und Medienlandschaft unter dem Schlagwort der "Causa Mbembe" ein handfester Konflikt Bahn. Die vielfältigen Positionen der Debatte lassen sich schematisch auf drei Fixpunkte zentrieren. Kritiker:innen Mbembes versuchten, der postkolonialen Seite ein strukturelles Antisemitismusproblem nachzuweisen. Verteidiger:innen Mbembes hingegen hielten die Diskussion um ihn für rassistisch. Eine dritte Position fokussierte die öffentliche und akademische Konstitution des deutschen erinnerungskulturellen Diskurses, die Vergleiche des Holocausts mit anderen Gewaltverbrechen verunmögliche.

In der "Causa Mbembe" verschränkt sich das öffentliche Erinnern an den Holocaust mit den Auseinandersetzungen um die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands. Koloniale Gewaltverbrechen wurden und werden in Deutschland oftmals relativiert, womit auch ein fehlendes Verständnis von Rassismus als grundlegender Ideologie kolonialer Gewalt einhergeht. Dass dieser Rassismus bis heute fortwirkt und es weißen Menschen auf individueller wie gesellschaftlicher und staatlicher Ebene ermöglicht, sich selbst als unhinterfragte Norm zu definieren, wird unter anderem durch ein postkoloniales und rassismuskritisches Aufarbeiten der kolonialen Vergangenheit zunehmend kontrovers diskutiert.

In Deutschland trifft dieses Erinnern an den Kolonialismus auf eine Gesellschaft, in deren Erinnerungskultur der Holocaust mittlerweile eine zentrale Position einnimmt. Das Erinnern an den Holocaust war jedoch nie eindeutig oder stabil. So mussten Jahrzehnte zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und einer breiten öffentlichen Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen verstreichen. Und erst 60 Jahre später, 2005, wurde in Berlin ein zentrales Denkmal zum Gedenken an die systematische Vernichtung von Juden und Jüdinnen eröffnet. Erinnern übernimmt zudem auch eine Funktion im jeweils aktuellen Moment: In der erinnernden Rekonstruktion der Vergangenheit drücken sich "keine objektiven Abbilder vergangener Wahrnehmungen" aus, sondern vielmehr die Bedürfnisse der jeweiligen Gegenwartsgesellschaft. Damit deutet sich bereits an: Es ist auch der gesellschaftliche Generationenwechsel, der Dynamiken in Bezug auf das öffentliche und staatliche Erinnern hervorrufen kann. Welchen Ereignissen der Vergangenheit auf welche Art Bedeutung beigemessen wird, wird von jeder Generation zu einem gewissen Grad neu verhandelt. Wie lassen sich also die Dynamiken, die ein Aufeinandertreffen des Erinnerns an den Holocaust und des Erinnerns an den Kolonialismus auslösen können, vor diesem Hintergrund einordnen?

Erinnern an den Holocaust

Die Bedeutung des Erinnerns an den Holocaust hat, ähnlich einem "Crescendo", in der Bundesrepublik seit 1945 rund alle 20 Jahre zugenommen. Die systematische Ermordung jüdischer Menschen wurde von der Kriegs- und Nachkriegsgeneration zunächst meist verschwiegen. Erst mit wachsendem zeitlichen Abstand zum Nationalsozialismus rückte sie in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Im Fokus stand anfangs stattdessen der Aufbau einer demokratischen Staatsstruktur. Brüchig wurde dieser Umgang mit der eigenen schuldhaften Vergangenheit erst durch einen Generationenwechsel. Die Kinder der Kriegs- und Nachkriegsgeneration beförderten seit den 1960er Jahren in kritisch-moralischer Abgrenzung zu den eigenen Eltern ein Aussprechen der schuldhaften Verstrickung in nationalsozialistische Verbrechen. Die Eltern wurden erstmals aktiv mit ihren Taten konfrontiert und damit als Täter:innen wahrgenommen, der Holocaust selbst wurde dadurch zu einem substanziellen Teil deutscher Erinnerungskultur. Während sich dieser Bruch in der Form des Erinnerns zunächst auch in einem Bruch zwischen Eltern und Kindern manifestierte, wurde er durch die dritte Generation – also der Generation der Enkel – zunehmend gekittet. Seit den 1980er Jahren löste sich die moralische Trennung zwischen der schuldhaften Eltern- und der kritisch-abgrenzenden Kindgeneration in eine Verständigung auf eine historische Verantwortung für den Holocaust auf. An die Stelle der intergenerationellen Trennung trat ein grundsätzlicher Konsens, dem Erinnern an den Holocaust als Nachkommen einer schuldhaften Gesellschaft einen besonderen Stellenwert einzuräumen. Öffentliche Debatten wie der Historikerstreit von 1986/87 sorgten mehr und mehr für das Sprechen über die Singularität des Holocaust und unterstrichen die Notwendigkeit einer öffentlich und staatlich verankerten Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen.

Obwohl die Erinnerung an den Holocaust damit zwar zunächst lauter wurde und sich schließlich bis in die Gegenwart im öffentlichen Raum etablieren konnte, sollte diese Etablierung keineswegs als Stabilität missverstanden werden. Eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Wurde der Umgang mit der eigenen Vergangenheit schon in früheren Debatten – beispielsweise 1998 durch den Autor Martin Walser in seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche – kritisiert, greifen gegenwärtig rechtspopulistische und rechtsextremistische Akteur:innen mit Schlussstrichforderungen das etablierte Holocaust-Gedächtnis stark an. Auch antisemitische Gewalt wird durch die etablierte öffentliche Erinnerung an den Holocaust nicht verhindert; antisemitische Straftaten gegenüber Juden und Jüdinnen haben in den vergangenen Jahren sogar zu- statt abgenommen. Damit zeigt sich eine paradoxe Situation im Deutschland des 21. Jahrhunderts: Trotz öffentlich und staatlich verankerten Erinnerns an den Holocaust bleibt dieses Erinnern gleichzeitig äußerst fragil.

Unterliegt das Erinnern an den Holocaust selbst einem Generationenwandel, wird zudem zunehmend diskutiert, für welche Teile der deutschen Gesellschaft welche öffentlichen Erinnerungsnarrative anschlussfähig sind. So zeichnet sich in der deutschen Mehrheitsgesellschaft sehr zögerlich ein Perspektivwechsel ab.

Perspektivwechsel

Lange Zeit imaginierten Akteur:innen aus Öffentlichkeit und Politik die deutsche Gesellschaft als eine zumeist homogene, weiße Gemeinschaft, wodurch sie beispielsweise die Lebensrealität und Narrative deutscher BPoCs ("Black and People of Color") unsichtbar machten. Während sich das Erinnern an den Holocaust zwischen den 1960er und 2000er Jahren öffentlich etablierte, fanden gleichzeitig Ereignisse statt, die den Charakter der deutschen Gesellschaft als Migrationsgesellschaft deutlich machten. Im Folgenden werfe ich einen fragmentarischen Blick auf diese Ereignisse, ohne damit aber auch nur im Ansatz alle Lebensrealitäten erfassen zu können. Vielmehr möchte ich durch diese Parallelisierung andeuten, dass sich das öffentliche Erinnern an den Holocaust zu einem Zeitpunkt etablierte, an dem die Mehrheitsgesellschaft blind für die Lebenswelten vieler Menschen in Deutschland war.

Während die Kinder der Kriegs- und Nachkriegsgeneration in den 1960ern in Westdeutschland die eigenen Eltern in die moralische Verantwortung für die nationalsozialistische Vergangenheit nahmen, warb die Bundesrepublik im Zuge des großen Wirtschaftswachstums ab Mitte der 1950er Jahre Arbeitskräfte von anderen Staaten ab, darunter Migrant:innen aus Italien, Jugoslawien, Marokko, Südkorea und der Türkei. Die Nachkommen der unter diesen Anwerbeabkommen eingewanderten Personen leben heute mittlerweile im Übergang von der dritten zur vierten Generation in Deutschland. Auch in der DDR bemühte man sich seit den 1960er Jahren um die Anwerbung von Arbeitspersonal aus sozialistischen Staaten, etwa aus Algerien, Mosambik oder, insbesondere in den 1980er Jahren, Vietnam. Daneben schuf man bereits in den 1950ern staatliche Anreize, um Studierende aus sozialistischen und nichtsozialistischen Staaten an Hochschulen in der DDR auszubilden.

Als 1986 der Historikerstreit und damit Aushandlungskämpfe über die Singularität des Holocaust entbrannten, machten die Dichterin May Ayim, die Historikerin Katharina Oguntoye und die Soziologin Dagmar Schultz zeitgleich mit ihrem Sammelband "Farbe bekennen" auf die Lebensrealität afrodeutscher Frauen verschiedener Generationen in Deutschland aufmerksam. Bezugspunkt der Beiträge war die Konfrontation mit Rassismus in der deutschen Gesellschaft. Dabei wurde nicht nur die koloniale Verstrickung Deutschlands untersucht, sondern auch die Überlagerungen von Kolonialismus und Nationalsozialismus sowie die rassistische Gewalt, der Afrikaner:innen und Afrodeutsche während der NS-Zeit ausgesetzt waren. Ayim und Oguntoye gehörten außerdem Mitte der 1980er Jahre zu den Gründungsmitgliedern der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD). Gerade diese Zeit war in der deutschen Öffentlichkeit von einer breiten Auseinandersetzung mit dem Erinnern an die Schuld für die NS-Verbrechen geprägt. Zeitgleich schuf die ISD einen Ort der Selbstermächtigung für Menschen, die in Deutschland von Rassismus betroffen waren und "die für sich aus der Isolation eines Nach-Nazi-Deutschlands ausbrechen wollten bzw. mussten und dabei nach selbstbestimmten Definitionen ihres Daseins und nach eigenen, ihnen angemessenen Lebensentwürfen suchten".

Dass gegenwärtig zunehmend Fragen nach der Anschlussfähigkeit des Erinnerns an den Holocaust in einer heterogenen Gesellschaft gestellt werden, lässt sich auch durch einen Perspektivwechsel der Mehrheitsgesellschaft erklären, der auch durch den jahrzehntelangen Einsatz von BPoCs angestoßen wurde. Erst seit Beginn der 2000er Jahre öffneten sich Politik und Öffentlichkeit zunehmend für die Einsicht, dass Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben und/oder sich diesem Land zugehörig fühlen, eben nicht nur weiß und christlichen Glaubens, sondern beispielsweise auch Schwarz, jüdischen und muslimischen Glaubens und/oder Person of Color sind.

Es ist dabei auch den kontinuierlichen, intellektuellen und (zivil)gesellschaftlichen Bemühungen von BPoC-Akademiker:innen und -Aktivist:innen zu verdanken, dass die Mehrheitsgesellschaft und damit auch Entscheider:innen in Politik und Öffentlichkeit beginnen, gegenwärtige erinnerungskulturelle Praktiken in Bezug auf Kolonialismus und Rassismus zu hinterfragen. Dies erklärt auch die steigende Popularität postkolonialer Forschung, die akademische Anstöße für eine kolonial- und rassismuskritische Reflexion liefert.

Globalisierungseffekte

Menschen, die seit dem Ende der 1980er Jahre geboren wurden, wachsen unter den veränderten Bedingungen einer globalisierten Welt auf. Insbesondere die Digitalisierung ermöglicht es ihnen, in kürzester Zeit auf ein riesiges Reservoir transnationaler Wissensbestände zurückzugreifen.

In Deutschland traf die Globalisierung Anfang der 1990er Jahre auf eine komplexe Gemengelage. Nicht nur die "Nachkriegs-Identität der Deutschen" erodierte mit der zunehmenden Entgrenzung des Nationalstaats. Auch die Vereinigung von West- und Ostdeutschland, die von dem (Willy) Brandt’schen Slogan "Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört" begleitet wurde, rief zunächst den Wunsch nach nationaler Identifikation auf den Plan. Die Globalisierung führte in Deutschland daher eher zu einem "Denationalisierungsschock".

Für Generationen, die mit Globalisierungseffekten aufgewachsen sind, überlagern sich jedoch Nationalstaat und die Gesellschaft innerhalb des Nationalstaats nicht mehr zwangsläufig. Im Gegenteil: Ihre Lebenswelt setzt sich aus einem Konglomerat transnationaler Lebens-, Kommunikations-, und Interessensformen zusammen, die als Quelle der eigenen Zugehörigkeit dienen können. Dennoch wäre es verfehlt, damit den Untergang nationaler Zugehörigkeitsprozesse herbei zu fantasieren. Es ist gerade die Verquickung des Globalen mit lokalen Rückbezügen, die mittlerweile zur Lebensrealität vieler, wenn auch sicherlich nicht aller Menschen in Deutschland gehört. Erst im Alltag, in den Handlungen und Räumen des Lokalen, machen sich ebenjene Effekte der Globalisierung bemerkbar.

Diese zeigen sich schließlich auch an der Art des Erinnerns im Übergang der Generationen. So sind seit Ende der 1990er Jahre Tendenzen zu beobachten, die Erinnerung an den Holocaust zu transnationalisieren – gewissermaßen ein von innen nach außen gerichteter Effekt. Zeitgleich schließen sich jüngere Generationen in Deutschland zunehmend der Kritik am (fehlenden) Erinnern des Kolonialismus an. Kolonialismus ist im Gegensatz zum Nationalsozialismus eine durch und durch transnationale Herrschafts- und Gewaltform. Dass sich Teile der deutschen Gesellschaft nun der deutschen Verstrickung in diese Herrschaftsform zuwenden und eine Aufarbeitung von Kolonialismus und Rassismus fordern, kann als gegenläufige Tendenz zur Transnationalisierung der Holocaust-Erinnerung gesehen werden, nämlich als von außen nach innen gerichteter Effekt. Während also in Bezug auf das Erinnern an den Holocaust seit den 1990er Jahren Externalisierungsdynamiken eingetreten sind, gestaltet sich das Erinnern an Kolonialismus gegenläufig durch Internalisierungsdynamiken. Diese Dynamiken finden nicht im menschenleeren Raum statt, sondern manifestieren sich im Wandel der Generationen. 2020 gestalten schließlich auch Menschen die Erinnerungskultur mit, die seit den 1980er Jahren geboren wurden.

Die Erinnerungskultur ist in Deutschland zu Recht daran ausgerichtet, die deutsche Verantwortung für den Holocaust und die NS-Zeit zu ihrem Zentrum zu machen. Dazu gehört es, auf Antisemitismus als notwendige Bedingung für den Holocaust hinzuweisen. Die gleichzeitige Thematisierung von Antisemitismus und Holocaust sowie Rassismus und Kolonialismus in ein in sich schlüssiges Erinnerungsnarrativ zu übersetzen, ist zu einer großen Herausforderung für die Erinnerungskultur in Deutschland avanciert. An dieser Herausforderung stricken nunmehr eine Vielzahl verschiedener Akteur:innen unterschiedlicher Generationen mit.

Verschränkung innerer und äußerer Öffnung

Der Soziologe Aladin El-Mafaalani fasst Globalisierungsprozesse als "äußere Offenheit" zusammen, also als "Verschiebung von Grenzen zwischen verschiedenen Gesellschaften". Neben dieser sei es im Deutschland der jüngsten Vergangenheit auch zu einer "inneren Offenheit" gekommen, zu einer "Verschiebung von Grenzen der Teilhabe und Zugehörigkeit innerhalb einer Gesellschaft". Gesellschaftliche Konflikte seien damit kein Zeichen von Spaltung, sondern offenbarten, wie sich die Teilhabe- und Partizipationsmöglichkeiten für Angehörige von Minderheiten in Bezug auf die Mehrheitsgesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten verbessert hätten. In Politik und Öffentlichkeit habe man Deutschland bis in die 1990er Jahre hinein jedoch nicht als Migrationsgesellschaft betrachtet. Integrationspolitik sei noch bis in die 1980er Jahre daher überhaupt nicht wichtig gewesen; Integration war, so El-Mafaalani, schlichtweg kein Ziel. Während die erste Generation eingewanderter Personen nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht mit am Verhandlungstisch saß, verhielt es sich mit der zweiten Generation schon anders. Die Nachkommen dieser ersten Generation verhandelten nun um "ein Stück vom Kuchen" als Sitznachbar:innen am Tisch und forderten mehr Teilhabe. Die dritte Generation nun wolle "nicht mehr nur am Tisch sitzen und ein Stück vom servierten Kuchen bekommen. Sie wollen mitbestellen. Sie wollen mitentscheiden, welcher Kuchen auf den Tisch kommt. Und sie wollen die alten Tischregeln, die sich entwickelt und etabliert haben, bevor sie dabei waren, mitgestalten. Das Konfliktpotenzial steigert sich weiter, denn nun geht es um die Rezeptur und die Ordnung der offenen Tischgesellschaft." Weshalb also sollte gerade die deutsche Erinnerungskultur von diesem Generationenwandel, der sich aus äußerer und innerer Öffnung ergibt, ausgeklammert bleiben? Im Gegenteil, die Dynamiken zwischen dem Erinnern an den Holocaust und dem Erinnern an den Kolonialismus lassen sich in Deutschland auch vor diesem Hintergrund einordnen: Auch die Rezeptur und Ordnung des deutschen Erinnerns werden (neu) ausgehandelt.

Wer streitet, wer wird gehört?

Das eingangs skizzierte Beispiel der Debatte um Achille Mbembe zeigt, dass dieser Prozess mitunter zu einer explosiven Mischung führen kann. Nun wäre es verfehlt, den Generationenwandel als alleinige Erklärung dafür heranzuziehen. Selbstverständlich können intergenerationelle Dynamiken die Auseinandersetzungen um das "Wie" der deutschen Erinnerungskultur beeinflussen. Gleichwohl weist etwa beispielsweise El-Mafaalani darauf hin, dass die Konfliktlinien in einer offenen Gesellschaft nicht (nur) zwischen Generationen der Mehrheitsgesellschaft und Generationen von BPoCs verlaufen – genauso wenig, wie sie (nur) zwischen älteren und jüngeren Generationen verlaufen. Eine solche Vorstellung würde Kategorien wie die der "Generation" viel zu stark essenzialisieren. Tatsächlich durchkreuzen die Konfliktlinien "alle Schubladen, die man sich vorstellen kann". Insbesondere diese Erkenntnis eines Knäuels von Konfliktlinien verkompliziert die Debatten, die in Deutschland in jüngster Vergangenheit zwischen dem Erinnern an den Holocaust und dem Erinnern an den Kolonialismus immer deutlicher zutage treten.

Grundsätzlich muss man sich bei Debatten wie der "Causa Mbembe" auch fragen, wer im öffentlichen Raum überhaupt über die Ausrichtung deutscher Erinnerungskultur streitet – und wem zugehört wird. Dies ist nie die Gesellschaft an sich, sondern es sind Personen aus bestimmten Berufskontexten mit Zugang zum öffentlichen Raum – etwa Wissenschaftler:innen, Journalist:innen oder Politiker:innen. Sie sind ihrerseits Angehörige verschiedener Generationen, deren eigene Lebensrealität sich gleichzeitig in mehrfachen Dimensionen von Zugehörigkeit entfaltet.

In erinnerungskulturellen Debatten wird die deutsche Gesellschaft gewissermaßen in absoluter Radikalität mit inneren und äußeren Öffnungs-, aber auch Schließungstendenzen konfrontiert. Nicht aber die Öffnung oder Schließung an sich sind zu kritisieren. Denn wem die Vergangenheit gehört, muss in jeder Gesellschaft und im Generationenwandel immer wieder neu verhandelt werden. Diese Verhandlungen sind essenziell für lebendiges Erinnern: Erst im Akt des Aushandelns kann sich eine Gesellschaft immer wieder neu darauf verständigen, an welchen Normen sich dieses Erinnern ausrichten soll.

Zu appellieren ist bei dieser Aushandlung an den Modus der Selbstkritik. Zuletzt hat die Publizistin Carolin Emcke auf die Verantwortung hingewiesen, die insbesondere das Sprechen oder Schreiben in der Öffentlichkeit mit sich bringt. Sie weist darauf hin, dass sich Akteur:innen in der Öffentlichkeit stets zu fragen hätten, welche Bilder welche Erinnerungen hervorriefen. Antisemitismus und Rassismus ließen sich nicht bekämpfen, wenn man nicht erkenne, wie sie sich zeigen und was sie anrichten bei jenen, die ihnen ausgesetzt sind. Die intergenerationelle Sozialisation ist dabei nur einer unter vielen Faktoren, die Akteur:innen beim Sprechen in der Öffentlichkeit mitbringen.

ist Doktorandin und Lehrbeauftragte am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück. E-Mail Link: liane.schaefer@uni-osnabrueck.de