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Politischer Islam in Indonesien seit 1998

Andreas Ufen

/ 17 Minuten zu lesen

Die Demokratisierung hat islamistischen Kräften neue Möglichkeiten zur Verbreitung ihrer Ideen gegeben. Doch gibt es Hinweise darauf, dass bestimmte Formen radikalen Islams schwächer geworden sind.

Einleitung

Indonesien befindet sich seit dem erzwungenen Rücktritt Suhartos im Mai 1998 in einem Prozess der Demokratisierung. Das Land war 1998 in der Region am schwersten von der Asienkrise betroffen und hatte eine nur schwach entwickelte Zivilgesellschaft - trotzdem kam es zügig zu umwälzenden politischen Reformen. Als die wichtigsten Revisionen der Verfassung beendet und 2004 zum zweiten Mal kompetitive und weitgehend faire Wahlen abgehalten worden waren, sprachen Beobachter davon, dass die Phase der Transition vom Autoritarismus zur Demokratie abgeschlossen sei und damit die Periode der Demokratiekonsolidierung beginnen könne. Auch die ersten direkten Präsidentschaftswahlen 2004 und 2009 sowie die zahlreichen Direktwahlen von Gouverneuren, Distriktchefs und Bürgermeistern seit 2005 wurden von nationalen und internationalen Wahlbeobachtern als im Wesentlichen "frei und fair" eingestuft, und mittlerweile wird das politische System von einer Mehrheit akzeptiert.

Allerdings verläuft diese Transition keineswegs linear. Laut Greg Fealy und Marcus Mietzner wurde die elektorale Demokratie bis etwa 2006 konsolidiert, seither ist es jedoch zu keiner nennenswerten Verbesserung der Demokratiequalität gekommen - in mancher Hinsicht hat sich diese sogar etwas verschlechtert. Indikatoren dafür sind die Rückschläge im Kampf gegen die Korruption, die zunehmende Kommerzialisierung der Politik, der Stillstand bei den Militärreformen und die Ernüchterung über die Parteien.

Seit ein paar Jahren bemerken Beobachter zudem, dass sich die Beziehungen zwischen dem muslimisch-sunnitischen Mainstream und Angehörigen religiöser Minderheiten sowie nicht-orthodoxen Muslimen verschlechtern. Das Meinungsforschungsinstitut LSI (Lembaga Survei Indonesia) hat beispielsweise 2007 in einer Studie gezeigt, dass 33 Prozent der Befragten Maßnahmen unterstützten, die typischerweise zu den Zielen islamistischer Organisationen zählen. So waren 43 Prozent für Steinigungen bei Ehebruch, 25 Prozent für die Pflicht zum Tragen eines Kopftuches, 34 Prozent für das Handabschlagen bei Diebstahl, 39 Prozent für das Zinsverbot, und 22 Prozent waren der Meinung, dass eine Frau nicht das Präsidentenamt übernehmen dürfe. Zu durchaus vergleichbaren Ergebnissen gelangte der Muslim Youth Survey 2010, der im November 2010 vom LSI in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut und der Friedrich-Naumann-Stiftung erstellt wurde.

Vor diesem Hintergrund wird der zunehmende Einfluss konservativer Muslime verständlicher. Seit mehreren Jahren werden in zahlreichen Distrikten Verordnungen erlassen, die sich an der Scharia orientieren; sie verbieten Prostitution, Alkoholkonsum und Glücksspiel oder schreiben bestimmte Kleidungsformen und Verhaltensweisen insbesondere für Frauen vor. In der Provinz Aceh auf der Insel Sumatra wurde 2009 sogar das islamische Strafrecht eingeführt, das unter anderem Steinigung bei Ehebruch vorsieht. 2008 setzten konservative Politiker im indonesischen Parlament das Pornografie-Gesetz durch: Es sieht hohe Strafen für vage definierte "unzüchtige" Darstellungen und Handlungen vor. Ein interministerielles Dekret erteilte vor ein paar Jahren Angehörigen der Ahmadiyya-Sekte die Erlaubnis, sich zu versammeln, nicht aber ihre Lehre zu verbreiten, woraufhin die Sekte vermehrt zur Zielscheibe von Islamisten wurde. Nach Angaben der indonesischen Nichtregierungsorganisation Setara kam es 2007 aus religiösen Gründen zu insgesamt 135 Angriffen auf Mitglieder anderer Glaubensgemeinschaften, 2010 waren es 216 und 2011 244. In Bogor, wo sich der Gouverneur derzeit über ein Urteil des Obersten Gerichtshofes hinwegsetzt und verhindert, dass Mitglieder der GKI Yasmin in ihrer Kirche Gottesdienste abhalten können, wird die Presbyterianer-Gemeinde von islamistischen Gruppierungen bedroht. In Pasuruan und Sampang (Ost-Java) ist es 2011 sowie zuletzt im Januar 2012 zu Übergriffen auf Internate von Schiiten gekommen. Als im Februar 2011 ein Priester von einem Distriktgericht wegen Blasphemie zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde, griffen Extremisten, denen das Urteil zu mild war (sie forderten die Todesstrafe), drei Kirchen in Temanggung (Zentraljava) an. Es kann angesichts der Häufung solcher Vorgänge nicht von isolierten Einzelfällen gesprochen werden.

Die Zunahme interreligiöser Spannungen und die größere Präsenz einer Vielzahl islamistischer Organisationen ist eine Folge der demokratischen Öffnung, die radikalen Muslimen neue Freiräume eröffnet hat, und der Globalisierung, die transnationale Einflüsse verstärkt und zugleich das Bedürfnis nach einer deutlichen Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden wachsen lässt. In Indonesien führt dies zu einer Pluralisierung und verminderter Toleranz gegenüber Minderheiten zugleich. Trotzdem ist in dieser Vielfalt ein politisch moderater Islam immer noch dominant, und die junge, elektorale Demokratie ist zumindest mittelfristig durch Islamisten nicht grundlegend gefährdet.

Intensivierung transnationaler Einflüsse und Pluralisierung des Islams

Im vorkolonialen Indonesien verbanden sich verschiedene islamische Lehren mit den schon bestehenden indigenen Ideensystemen, die selbst von hinduistischen und buddhistischen Vorstellungen geprägt waren. Dieser Synkretismus gilt vielen als typisch für Südostasien. Schon in den ersten Jahrhunderten der Ausbreitung des Islams ergaben sich also Idiosynkrasien (identitäre Eigenheiten), die man heute als transnationale oder als Globalisierungsphänomene analysieren würde. Auch danach gelangten islamische Staats-, Rechts- und Gesellschaftsmodelle aus dem Nahen Osten, zum Teil über Südasien, nach Südostasien. Azyumardi Azra hat zum Beispiel die Verbindungen indonesischer ulama (muslimische Gelehrte) in den damaligen Nahen Osten im 17. und 18. Jahrhundert nachgezeichnet. Ein weiteres Beispiel ist die Entstehung der Padri-Bewegung in Sumatra im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, die zu einem jahrzehntelangen Krieg führte, in dem Puristen und Traditionalisten gegeneinander kämpften.

Als politische Ideologie wurde der Islam von den niederländischen Kolonialherren unterdrückt, vor allem als sich Anfang des 20. Jahrhunderts, insbesondere unter arabischem Einfluss, neue Strömungen herausbildeten und islamische Organisationen formierten. 1912 bildete sich die von reformistischen Ideen inspirierte, modernistische Muhammadiyah, deren Gründung wiederum einer der auslösenden Faktoren für die Entstehung eines traditionalistischen Pendants war, der Nahdatul Ulama im Jahre 1926. Die koloniale Schwächung des politischen Islams hatte zur Folge, dass sich zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit im Jahre 1945 moderate Muslime und Angehörige religiöser Minderheiten gegen Islamisten, die in einem Verfassungszusatz die Befolgung der Scharia zur Pflicht aller Muslime machen wollten, durchsetzen konnten. 1957 war dieser Konflikt, der in der Verfassunggebenden Versammlung wieder aufflammte, einer der Gründe für die Einführung der sogenannten gelenkten Demokratie durch Präsident Sukarno. Die Machthaber der nachfolgenden "Neuen Ordnung" (1966-1998), einem vom Militär unter Suharto autoritär geführten Modernisierungsregime, setzten den im Wesentlichen säkularen Kurs fort und sorgten dafür, dass der politische Islam sich nicht entfalten konnte, wenngleich der Islam als unpolitisch definierte Kultur gefördert wurde - ähnlich wie es schon die Niederländer getan hatten.

Trotz der Kontrolle der Islamisten durch das Regime haben die transnationalen Verflechtungen in ihrer Intensität besonders seit den 1970er Jahren aufgrund der sich beschleunigenden Globalisierung zugenommen. So ist zum Beispiel die vor ein paar Jahren gegründete Partai Keadilan Sejahtera (PKS, Wohlfahrts- und Gerechtigkeitspartei) nach dem programmatischen und organisatorischen Vorbild der ägyptischen Muslimbrüder entstanden. Die Ursprünge der Partei liegen in der sogenannten dakwah-Bewegung der 1970er Jahre, die von der Salman-Moschee der Technischen Universität in Bandung ausging. Diese Salman-Aktivisten waren wie die Muslimbrüder in Zellen organisiert. Eine verwandte tarbiyah-Bewegung (Ausbildungsbewegung) breitete sich in den frühen 1980er Jahren aus.

Auch die vielleicht bedeutendste missionarische Bewegung in Indonesien ist von Ideen der Muslimbrüder geprägt. Hizbut Tahrir Indonesia (HTI, Partei der Befreiung Indonesiens) wurde in den frühen 1950er Jahren von dem Palästinenser Taqiuddin an-Nabhani in Ost-Jerusalem gegründet. Die Organisation, die sehr stark von außen kontrolliert wird, ist seit Anfang der 1980er Jahre in Indonesien präsent und will dort einen Islamstaat errichten, der als Vorstufe zu einem Kalifat betrachtet wird. Trotz dieser radikalen, antidemokratischen Ziele lehnt HTI Gewalt ab. An den nationalen Kongressen von HTI 2007 und 2011 sollen jeweils rund 100000 Anhänger teilgenommen haben. HTI setzt sich seit Jahren für ein Verbot der Ahmadiyya-Sekte ein und hat gute Verbindungen zur Machtelite bis hin zu Ministern und Generälen. Ein weiteres Beispiel für eine solche islamische missionarische Bewegung ist die Jama'ah Tabligh (Gemeinschaft der Verkündigung und Mission), die 1927 in Indien gegründet wurde, weltweit vielleicht die größte ihrer Art ist und sich auch in Indonesien ausbreitet.

Islamistische Gruppierungen wie HTI sind in Indonesien durchaus keine Randerscheinungen mehr. Es gibt daneben aber auch einflussreiche liberale Strömungen, die zum Teil schon unter Suharto entstanden waren. Sogenannte Neomodernisten wie Nurcholish Majid oder Abdurrahman Wahid forderten eine "Säkularisierung" des Islams - einen Rückzug aus der Politik sowie eine kulturelle Transformation der Gesellschaft. Diese neomodernistische Linie, die etwa Ende der 1960er Jahre entstand und auch stark von westlichen Konzepten geprägt ist, vereint sowohl traditionalistische als auch modernistische Elemente in sich. Ihre Vertreter legen die religiösen Lehren nicht buchstabengläubig aus. Die Trennung zwischen Weltlichem und Außerweltlichem ist dabei nicht mit einer unpolitischen Haltung verbunden, wohl aber mit der Vorstellung, dass politische Probleme nicht unter Berufung auf den Koran gelöst werden sollten. Der Islam muss aus ihrer Sicht nicht nur den Bedingungen der Moderne, sondern auch den spezifisch indonesischen Verhältnissen angepasst werden.

In der Nachfolge von Abdurrahman Wahid und Nurcholish Majid ist in Indonesien nach dem Sturz Suhartos ein "Netzwerk liberaler Islam" (Jaringan Islam Liberal, JIL) entstanden, das versucht, ein "unorthodoxes" Islamverständnis zu verbreiten. Gerade unter Intellektuellen, etwa im Sektor der Nichtregierungsorganisationen, in den Medien oder an Universitäten, sind solche Interpretationen weit verbreitet. Das bedeutet, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche neue Strömungen herausgebildet haben, die zum Teil westlich, zum Teil von anderen Importen geprägt sind, was zu einer Pluralisierung geführt hat.

Erscheinungsformen des gewaltbereiten Islamismus

Auch die bekanntesten gewaltbereiten Organisationen, also die inzwischen aufgelösten Laskar Jihad (LJ, "Dschihad-Krieger"), die Front Pembela Islam (FPI, "Front der Verteidiger des Islams"), die unter anderem durch "Aktionen gegen die Sünde" (also Überfälle auf Bars und Diskotheken) während des Fastenmonats von sich reden machte, und das heute ebenfalls wohl nur noch rudimentär existierende terroristische Netzwerk Jemaah Islamiyah (JI, "Islamische Gemeinschaft"), sind stark von transnationalen Einflüssen geprägt. Bezeichnenderweise sind viele radikale Muslime in Indonesien, die sich an einem puristischen, arabisierten Islam orientieren, arabischer Abstammung - so auch die (zum Teil ehemaligen) Anführer Habib Rizieq Shihab (FPI), Abu Bakar Ba'asyir (JI) oder Ja'far Umar Thalib (LJ). Unabhängig von zum Teil erheblichen ideologischen Differenzen wenden sich alle Radikalen gegen eine Verwestlichung, die sie mit Dekadenz und Morallosigkeit gleichsetzen, und gegen Tendenzen, Frauen größere Freiheiten einzuräumen. Sie legen die Offenbarungstexte skriptualistisch, also tendenziell wortwörtlich aus und streben die Errichtung eines islamischen Staates an. Laskar Jihad wurde im Januar 2000 in Yogyakarta gegründet, um - so die LJ-Version - die Errichtung eines christlichen Staates in den Molukken zu verhindern. Mehrere Tausend Dschihadisten wurden beim Bürgerkrieg in den Molukken eingesetzt, bevor sich die Gruppierung kurz nach den Terroranschlägen von Bali im Oktober 2002 auflöste. Jemaah Islamiyah, das unter anderem für diese Anschläge verantwortlich gemacht wird, entstand bereits in den 1980er Jahren und wird seit 2002 wirksam von den indonesischen Sicherheitskräften bekämpft. Die FPI, die viele junge Arbeitslose in den Städten rekrutiert, ist gegenwärtig am aktivsten und in den Medien dauerhaft präsent. Erst vor Kurzem hat sich aber eine zivilgesellschaftliche Bewegung gebildet (Indonesien Tanpa FPI, "Indonesien ohne FPI"), die mit Demonstrationen gegen die Gewalt auf sich aufmerksam macht.

Die Szenerie des gewaltbereiten Islamismus ist jedoch so unübersichtlich, dass selbst eine sehr gut informierte Nichtregierungsorganisationen wie die International Crisis Group (ICG) in immer neuen Berichten nur Momentaufnahmen machen und flüchtige Situationsbeschreibungen veröffentlichen kann. Laut ICG gibt es heute drei terroristische, dschihadistische Gruppierungen in Indonesien: die JI, deren Gewaltbereitschaft nachgelassen hat, die Anhänger des inzwischen getöteten Noordin Top, die durch Bombenanschläge den "Feind" systematisch schwächen wollen, und eine neue Gruppe, die Anfang 2010 in Aceh aufgeflogen ist und nun von woanders aus gezielt Anschläge verüben will. Die radikalsten islamistischen Gruppierungen verübten mehrfach Terroranschläge, etwa auf Bali 2002 und 2005 und zuletzt im Juli 2009 in Jakarta. Heute sollen sich einige JI-Mitglieder in einer neuen Organisation (Jemaah Ansharut Tauhid) zusammengefunden haben.

Es sind allerdings nur bestimmte Formen religiös motivierter Gewalt, die sich ausbreiten und häufiger geduldet werden: Der islamistische Terrorismus, dessen Hochphase etwa von 2001 bis 2005 war, ist heute geschwächt, und auch andere Formen eines kriegerischen Islamismus wie in den Molukken zwischen 1999 und 2002 treten heute nur noch sporadisch auf. Diese Gewaltformen sind von einem immer häufiger auftretenden Vigilantismus abgelöst worden, einer Art religiöser Selbstjustiz gegen Andersgläubige. Bei einigen kleinen Gruppen gehen zudem Vigilantismus und Terrorismus ineinander über. Da Vigilantismus bis in die höchsten politischen, wirtschaftlichen und administrativen Kreise hinein häufig geduldet, akzeptiert oder sogar unterstützt wird, ist eine solche Strategie gegenwärtig wohl am erfolgreichsten. Die Dezentralisierung und Lokalisierung politischer Machtkämpfe hat das Entstehen Hunderter solcher Gruppierungen erleichtert. Gerade auch muslimische Laien fühlen sich - ausgerüstet mit allen denkbaren Pamphleten aus dem Internet - berufen, im Namen religiöser Gewissheit für radikale politische Ziele zu kämpfen.

Moderater Islam in der Parteipolitik

Obwohl sich seit den 1950er Jahren nach Ansicht der meisten Indonesien-Experten und Islamwissenschaftler eine viele Bereiche umfassende Islamisierung vollzogen hat, lässt sich eine Schwächung islamischer bzw. islamistischer Parteien konstatieren. 1955 bekamen die beiden stärksten islamischen Parteien (die in der Verfassunggebenden Versammlung Ende der 1950er Jahre islamistische Positionen einnahmen), Nahdatul Ulama und Masyumi, zusammen knapp 40 Prozent der Stimmen. Damals ergab sich eine Art Pattsituation zwischen säkularen und islamischen bzw. islamistischen Parteien. Bei den Wahlen 1999, den ersten fairen und freien Wahlen seit 1955, waren hingegen säkular orientierte Parteien eindeutig am erfolgreichsten. Zu den säkularen Kräften zählen unter anderem viele Mitglieder der Partei der Ex-Präsidentin Megawati Sukarnoputri, PDI-P (Partai Demokrasi Indonesia-Perjuangan, "Demokratische Partei Indonesien-Kampf"), der Partai Golkar (die unter Suharto Regierungspartei gewesen ist) und der relativ neuen Partai Demokrat des jetzigen Präsidenten Susilo Bambang Yudhoyono. Die drei größten islamistischen Parteien erhielten dagegen zusammen nur rund 14 Prozent (1999), 18 Prozent (2004) bzw. 13 Prozent (2009) der Stimmen.

Die wichtigsten Ämter werden entweder von den Säkularisten oder von den laizistisch orientierten Muslimen besetzt, die unter anderem zur PKB (Partai Kebangkitan Bangsa, "Partei des Volkserwachens") und der PAN (Partai Amanat Nasional, "Partei des Nationalen Mandats") gehören. Die PKB entstand im traditionalistischen Milieu, in dem alte javanische Glaubenspraktiken eher toleriert und Angehörige aus bestimmten ulama-Familien besonders verehrt werden. Diese ulama betreiben in vielen Fällen Internate (pesantren) und stehen an der Spitze der schon erwähnten Nahdatul Ulama, die eine Zeit lang selbst eine politische Partei gewesen ist und heute - in einer sehr vagen Definition - 40 Millionen Mitglieder haben soll. Die PAN entstammt im Gegensatz dazu einem modernistischen, urban geprägten Milieu im Umfeld der angeblich 30 bis 35 Millionen Mitglieder starken Muhammadiyah. Allerdings sind die Beziehungen dieser insgesamt moderaten, zum Teil liberalen Massenorganisationen zu den beiden Parteien in den vergangenen Jahren immer mehr gelockert worden.

Warum spiegeln sich die oben angeführten Umfrageergebnisse und der allgemein verzeichnete Aufstieg eines zunehmend kämpferischen Islams nicht in den Wahlergebnissen wider? Offensichtlich trennen die indonesischen Wählerinnen und Wähler zwar häufig nicht in der Theorie, wohl aber in der Praxis zwischen Religion und Politik, denn die religiösen Parteien haben durch Korruption und Machtpolitik ihre Glaubwürdigkeit zum Teil verspielt. Das gilt auch für die PKS, die mehrere Jahre lang als die einzige Partei galt, die nicht von money politics beschmutzt worden ist. Politiker egal welcher Partei werden häufig als Teil der kartellartig zusammengeschlossenen politischen Klasse angesehen, die in großen Koalitionen und in Hinterzimmern Posten auskungeln und Schmiergelder zahlen. Die PKS kommt aber auch deshalb über ihre knapp acht Prozent nicht hinaus, weil sie - anders als die AKP in der Türkei oder die Islamisten in Ägypten - bisher nicht in der Lage war, neue Wählergruppen für sich zu gewinnen und ihren relativ engen Fokus auf urbane Mittelschichten zu weiten. Die Partei ist aber im Laufe der Jahre pragmatischer geworden. Beim nationalen Kongress im Juli 2010 präsentierte sie sich als Partei der Mitte, die auch Nicht-Muslime aufnimmt. Und bei dem Parteitag 2011 in Yogyakarta öffnete sie sich sogar der javanischen, synkretistischen Kultur.

Widerstandsfähige Demokratie

Der Soziologe Vedi Hadiz hat auf die in der Forschung häufig vernachlässigten Macht- und wirtschaftlichen Interessen muslimischer Akteure aufmerksam gemacht. Ihm zufolge ist für die Islamisierung entscheidend, dass unter der "Neuen Ordnung", im Zuge des Erdölbooms und der nachfolgenden exportorientierten Industrialisierung neue Klassen entstanden sind (einheimische Bourgeoisie, Mittelklasse, Proletariat). Die Repression der politischen Linken habe dazu geführt, dass die Kritik an der autoritären kapitalistischen Transformation religiös ausgedrückt wird. Daraus lässt sich schließen, dass der politische Islam geschwächt wird, wenn der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit parteipolitisch adäquat artikuliert wird.

Die Religion wird auch in vielfacher Form unmittelbar instrumentalisiert. Michael Bühler hat zum Beispiel gezeigt, dass die von der Scharia inspirierten Verordnungen auf lokaler Ebene häufig von säkularen Parteien durchgesetzt wurden. Die Einführung von Almosensteuern etwa scheint häufig einfach der Suche nach neuen Geldquellen geschuldet zu sein. Und das Beispiel der militanten FPI, der gute Beziehungen zur Polizei nachgesagt und Schutzgelderpressungen vorgeworfen werden, zeigt, dass islamistische Gewalt meistens nicht spontan entsteht, sondern gut organisiert ist: Die FPI ist aus Milizen hervorgegangen, die im November 1998 von konservativen, Suharto nahestehenden Kräften aufgestellt worden waren, um in erster Linie gegen Studenten vorzugehen, die für demokratische Reformen protestierten.

Es ist anzunehmen, dass viele dieser Gruppierungen private Geldgeber und Unterstützer im staatlichen Verwaltungs- und Sicherheitsapparat haben. Entsprechend werden islamistisch-militante Gruppierungen oft nur halbherzig von den Sicherheitskräften verfolgt. Das gilt nicht für terroristische Gruppierungen, wohl aber für Gruppierungen, die Minoritäten (Homosexuelle, Christen, Mitglieder islamischer Sekten, Anhänger eines liberalen Islams) unter Druck setzen und zum Teil offen Gewalt einsetzen. Dabei können sie auch mit der Tolerierung durch Teile der politischen Eliten bis hinauf zur Ministerebene rechnen.

In Indonesien treffen gegenwärtig unterschiedliche Strömungen aufeinander: Auf der einen Seite gibt es starke, die Demokratisierung unterstützende Kräfte, die sich teils auf "westliche", teils auf einheimische Modelle beziehen. Auf der anderen Seite stehen radikale Islamisten, welche die liberale Demokratie ablehnen und die Errichtung eines Islamstaats oder Kalifats anstreben. Dazwischen positionieren sich moderate Islamisten wie jene der PKS, die sich den demokratischen Spielregeln beugen, also an Wahlen teilnehmen und Koalitionen selbst mit christlichen Parteien eingehen.

Der Islam in Indonesien ist als Folge der Demokratisierung seit 1998 und der beschleunigten Globalisierung vielfältiger und wandelbarer geworden. Die Demokratisierung hat insbesondere islamistischen Kräften neue Möglichkeiten zur Verbreitung ihrer Ideen gegeben, zugleich gelangen durch die Globalisierung immer mehr transnationale Einflüsse wie Pamphlete, Glaubensinterpretationen, Missionare oder Bildungsinstitutionen ins Land. Interreligiöse Spannungen scheinen zuzunehmen und islamistische Gruppierungen sind in ihrer Bedeutung enorm gewachsen. Dennoch wäre es unangemessen, die Lage zu dramatisieren, gibt es doch durchaus Hinweise darauf, dass bestimmte Formen eines radikalen Islams heute schwächer sind als in den ersten Jahren nach dem Sturz Suhartos. Außerdem dominieren in der Parteipolitik moderate Kräfte; selbst islamistische Parteien wie die PKS öffnen sich zusehends.

Vieles spricht dafür, dass Islamisten in diesem "Kulturkampf" und in den politischen Auseinandersetzungen nicht die Oberhand gewinnen. Auch eine sich als islamistisch definierende Außen- oder Wirtschaftspolitik existiert nicht; Demokratie und Marktwirtschaft sind die von der Mehrheit der Bevölkerung favorisierten Modelle. Und diese Demokratie ist trotz der Rückschläge etwa im Antikorruptionskampf und islamistischer Anfechtungen stabil.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Edward Aspinall, Elections and the normalization of politics in Indonesia, in: South East Asia Research, 13 (2005) 2, S. 117-156.

  2. Vgl. Greg Fealy, Indonesian politics in 2011: democratic regression and Yudhoyono's regal incumbency, in: Bulletin of Indonesian Economic Studies, 47 (2011) 3, S. 333-353.

  3. Vgl. Marcus Mietzner, Indonesia's democratic stagnation: anti-reformist elites and resilient civil society, Democratization, iFirst, 24.5.2011, online: http://dx.doi.org/10.1080/13510347.2011.572620 (23.2.2012).

  4. Vgl. Lembaga Survei Indonesia, Trend Orientasi Nilai-Nilai Politik Islamis vs Nilai-Nilai Politik Sekuler dan Kekuatan Islam Politik, Jakarta 2007.

  5. Islamisten werden hier verstanden als Personen, die versuchen, einen wie auch immer definierten Islamstaat zu schaffen und islamisches Recht (auch Strafrecht) durchzusetzen. Das sagt noch wenig über politische Strategien und das Verhältnis zur Gewalt aus.

  6. Vgl. Muslim Youth Survey 2010, online: www.scribd.com/fullscreen/59580362?access_key=key-1qt11ndjse8qhfvkl7so (23.2.2012).

  7. Das Blasphemie-Gesetz aus dem Jahre 1965 wurde im April 2010 vom Verfassungsgericht bestätigt. Zuletzt wurde ein junger Mann in Sumatra wegen Blasphemie festgenommen, weil er die Facebook-Seite "Ateis Minang" (Minang Atheist) eingerichtet hatte.

  8. Vgl. Eric Tagliacozzo (ed.), Southeast Asia and the Middle East: Islam, Movement, and the Longue Durée, Stanford 2009.

  9. Vgl. Azyumardi Azra, The Origins of Islamic Reformism in Southeast Asia: Networks of Malay-Indonesian and Middle Eastern 'Ulamâ' in the seventeenth and eighteenth centuries, Honolulu 2004.

  10. Vgl. Christine Dobbin, Islamic Revivalism in a Changing Peasant Economy: Central Sumatra, 1784-1847, London 1983.

  11. In der Verfassung werden heute mit der Pancasila ("Fünf Säulen") sechs als monotheistisch definierte Religionen anerkannt (Islam, Protestantismus, Katholizismus, Hinduismus, Buddhismus, Konfuzianismus). Islamisches Recht wird bei Muslimen bei Eheschließung, Scheidung und Erbschaft angewandt.

  12. Vgl. Ahmad Norma Permata, Islamist Party and Democratic Participation: Prosperous Justice Party (PKS) in Indonesia, 1998-2006, Diss., Universität Münster 2008; Yon Machmudi, Islamising Indonesia. The Rise of the Jemaah Tarbiyah and the Prosperous Justice Party (PKS), PhD Diss., Australian National University Canberra 2006.

  13. Dakwah: "Ruf" zum Islam, also Mission im Sinne der Bekehrung oder der Intensivierung des Glaubens.

  14. Vgl. Ken Ward, Non-violent extremists? Hizbut Tahrir Indonesia, in: Australian Journal of International Affairs, 63 (2009) 2, S. 149-164.

  15. Vgl. Greg Barton, The Origins of Islamic Liberalism in Indonesia and Its Contribution to Democratisation, in: Michele Schmiegelow(ed.), Democracy in Asia, New York, 1997, S. 427-451.

  16. Zum demokratisch orientierten Islam vgl. Robert W. Hefner, Civil Islam: Muslims and democratization in Indonesia, Princeton, NJ 2000; Luthfi Assyaukanie, Islam and the Secular State in Indonesia, Singapur, 2009.

  17. Vgl. Noorhaidi Hasan, Transnational Islam in Indonesia, in: The National Bureau of Asian Research (ed.), Transnational Islam in South and Southeast Asia: Movements, Networks, and Conflict Dynamics, Seattle 2009, S. 121-140; Anthony Bubalo/Greg Fealy, Joining the Caravan? The Middle East, Islamism and Indonesia, Lowy Institute Paper 05, Sydney 2005; zur FPI siehe: Chaider S. Bamualim, Islamic Militancy and Resentment against Hadhramis in Post-Suharto Indonesia: A Case Study of Habib Rizieq Syihab and His Islamic Defenders Front, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East, 31 (2011) 2, S. 267-281.

  18. Ja'far besuchte das aus Saudi-Arabien finanzierte Institut für Islamische und Arabische Studien in Jakarta, studierte 1986 mit einem Stipendium in Saudi-Arabien, hielt sich am Maududi-Institut in Lahore (Pakistan) auf und schloss sich 1988/89 in Afghanistan den Mudschaheddin im Kampf gegen sowjetische Truppen an. Abu Bakar rief in den 1980er Jahren die sogenannte usroh-Bewegung ins Leben und bezog sich unter anderem auf Schriften Hasan al-Bannas, dem Gründer der ägyptischen Muslimbruderschaft. Kurz bevor er ins Gefängnis hätte gehen müssen, flüchtete er nach Malaysia. 1998 kehrte er in sein Heimatland zurück und gründete mit anderen im August 2000 den Mudschaheddinrat Indonesien (Majelis Mujahidin Indonesia, MMI). Habib Rizieq Shihab studierte in Saudi-Arabien und Malaysia, gründete 1998 die FPI und wurde 2008 zu einer 18-monatigen Haftstrafe verurteilt.

  19. Zu jüngsten Entwicklungen vgl. ICG, Indonesian Jihadism: Small Groups, Big Plans, Asia Report 204, Jakarta-Brüssel 2011.

  20. Im Englischen manchmal übersetzt mit Partisans of the Oneness of God.

  21. Vgl. dies., Indonesia: From Vigilantism to Terrorism in Cirebon, Asia Briefing 132, Jakarta-Brüssel 2012.

  22. Bei den meisten Wahlen schneiden islamistische Parteien relativ schlecht ab. Vgl. Charles Kurzman/Ijlal Naqvi, Do Muslims Vote Islamic?, in: Journal of Democracy, 21 (2010) 2, S. 55. Je freier die Wahlen waren, desto weniger Stimmen erhielten islamistische Parteien tendenziell.

  23. Vgl. Jacqueline Hicks, The Missing Link: Explaining the Political Mobilisation of Islam in Indonesia, in: Journal of Contemporary Asia, 42 (2012) 1, S. 39-66.

  24. Typisch ist heute in der Politik ein ungeheures Ausmaß an Heuchelei; dabei stehen die islamistischen und islamischen Parteien den großen, eher säkularen Parteien (PD, PDI-P und Golkar) in nichts nach. Selbst die vor allem in ihren Anfangsjahren besonders rigiden Moralvorstellungen folgende PKS wurde in der jüngsten Vergangenheit von mehreren Skandalen erschüttert.

  25. Vgl. Dirk Tomsa, Moderating Islamism in Indonesia: Tracing Patterns of Party Change in the Prosperous Justice Party, in: Political Research Quarterly, 64 (2011) 1, S. 1-13.

  26. Vgl. Mark Woodward et al., A New Cultural Path for Indonesia's Islamist PKS?, Report 1102, Consortium for Strategic Communication, Arizona State University 2011.

  27. Vgl. Vedi R. Hadiz, Indonesian Political Islam: Capitalist Development and the Legacies of the Cold War, in: Journal of Current Southeast Asian Affairs, 30 (2011) 1, S. 11.

  28. Vgl. Michael Bühler, Shari'a By-Laws in Indonesian Districts: An Indication for Changing Patterns of Power Accumulation and Political Corruption, in: South East Asia Research, 16 (2008) 2, S. 165-195.

  29. Vgl. Andrée Feillard/Rémy Madinier, The End of Innocence? Indonesian Islam and the temptations of radicalism, Honolulu 2011, S. 142.

Dr. phil.; wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA Institut für Asien-Studien; derzeit Vertretungsprofessur für Politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; GIGA, Rothenbaumchaussee 32, 20148 Hamburg. E-Mail Link: ufen@giga-hamburg.de