Einleitung
Sinti und Roma werden häufig nur als Randgruppe wahrgenommen, jedoch bilden sie mit mehr als zehn Millionen Menschen die größte Minderheit in Europa. Wo liegen ihre historischen Wurzeln? Wie sieht ihre Lebenssituation aus? Weshalb ist dieses Volk immer wieder von Emigration betroffen?
Zunächst ist festzuhalten: Die Menschheitsgeschichte kennt eine nicht geringe Zahl von Migrationsprozessen. Zu den bekanntesten gehört die Völkerwanderung. Zu den wichtigsten Ursachen solcher Wanderungsbewegungen zählen Krieg und Hungersnöte (abstoßende Faktoren) sowie bessere Lebensbedingungen im Einwanderungsland (anziehende Faktoren). Diese Ursachen gelten für die historische Migration der Sinti und Roma wie auch für die derzeitige Migration osteuropäischer Roma nach Westeuropa.
Aufgrund sprachlicher Verwandtschaft des Romanes (der Sprache der Sinti und Roma) mit den nordwestindischen Sprachen gilt die indische Herkunft der Roma mittlerweile als gesichert. Den wichtigsten historischen Einschnitt erlebten die Sinti und Roma durch den afghanischen Fürsten Mahmud von Ghazni: Er eroberte im 11. Jahrhundert die nordwestindischen Regionen Panjab, Sindh und Rajastan. Die dortige Bevölkerung geriet in die Sklaverei oder wurde vertrieben. Diese Ereignisse führten zu ersten Migrationsbewegungen von Sinti und Roma. In Europa wurden sie zunächst geduldet. So erhielten sie im Heiligen Römischen Reich sogar königliche Schutzbriefe. Diese Periode fand jedoch mit den Reichstagen von 1496 und 1498 ein Ende: Sinti und Roma wurden angesichts der osmanischen Expansion für vogelfrei erklärt, denn sie galten nun als türkische Spione und Feinde der Christenheit. Im 18. Jahrhundert waren unter Kaiserin Maria Theresia Eheschließungen unter Roma untersagt. Roma-Kinder nahm man ihren Eltern weg, um sie christlichen Pflegeeltern zu übergeben. Auch in Spanien gab es im selben Jahrhundert Assimilationsversuche: Den dort lebenden Roma war es untersagt, ihre Muttersprache zu sprechen.
Selbstverständlich haben Roma im Verlauf ihrer Geschichte neben ihrem historisch-indischen Erbe auch kulturelle und sprachliche Elemente anderer Völker und Länder aufgenommen. Daher kann mit Bestimmtheit gesagt werden, dass die Roma ein pluralistisches Volk sind. Hinzu kommt, dass ihre Lebenssituation häufig davon abhängt, inwieweit sie sich gegenüber der Mehrheitsgesellschaft positionieren, um das eigene Überleben und die Identität zu sichern. Selbst in unserem demokratischen Zeitalter stellte das Europäische Parlament erst 2005 fest, dass Roma Opfer ethnischer Säuberungen wie auch Vertreibungen in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens gewesen sind.
Die populistische Maßnahme, Roma auszuweisen, kam nicht etwa von einer rechtsextremen Gruppierung, sondern von der bürgerlichen Regierung Nicolas Sarkozys in Frankreich. Es gibt aber auch Positives zu berichten. Immer mehr Roma ergreifen die Möglichkeit eines akademischen Werdegangs. Ein interessantes Beispiel ist hierbei Elli Jonuz, deren Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland emigrierten. Als Erzieherin schaffte sie es, über den zweiten Bildungsweg zu promovieren. In ihrer Dissertation hat sie belegt, dass der soziale Aufstieg der als "Gastarbeiter" eingewanderten Roma erst unter Geheimhaltung der eigenen Herkunft möglich war.
Auch Nichtroma sind als gute Vorbilder zu nennen. Hierzu gehört Jonathan Mack:
Ungarn - innere Unsicherheit, gute PR
Nach der Parlamentswahl 2010 ist klar geworden, dass Ungarn eine radikale innere Veränderung braucht; deshalb hat die national-konservative Regierungspartei, der Ungarische Bürgerbund (FIDESZ), zwei Drittel der Stimmen erhalten. Europaweit wird meist nur über das umstrittene Mediengesetz berichtet, nicht aber über die Entmachtung des Verfassungsgerichts und vorgeschlagene Verfassungsänderungen.
Unter den Vorschlägen der FIDESZ betreffen verschiedene Punkte die Roma unmittelbar: die Absenkung des Schulpflichtalters auf 16 Jahre ist einer von ihnen. Der Zusammenbruch des Kommunismus hat den Roma Mitteleuropas eher geschadet. Viele der einfachen Fabrikjobs, in denen sie gearbeitet hatten, verschwanden mit den dazugehörigen Industrien. Im ersten postkommunistischen Jahrzehnt verdoppelte sich die Armut unter den ungarischen Roma, und die Arbeitslosigkeit schoss in die Höhe. Die wachsenden Einkommensunterschiede haben der gesellschaftlichen Isolation in den Bereichen Wohnen und Bildung Vorschub geleistet und die Diskriminierung angeheizt. Die Roma-Bevölkerung war schon zu sozialistischen Zeiten aus dem integrierten Schulsystem ausgeschlossen. Heute besucht ein Großteil der Roma-Kinder Sonderschulen.
"Machtergreifung" und Angst
Weil "Verbrechen gegen das Eigentum" durch die lokalen Behörden "nicht mehr kontrollierbar waren", hat der Bürgermeister von Gyöngyöspata die Bürgerwehr "Schönere Zukunft" um Hilfe gebeten. Am 10. März 2011 marschierten über tausend Anhänger in dem Ort mit rund 2500 Einwohnern (wie es die Rechten ausdrücken, "mit 2000 Ungarn und 500 Zigeunern") auf, um zu verhindern, dass der "Zigeunerterror" eine "Bürgerkriegssituation" erzeugt.
Am Tag der Demonstration der ultrarechten "Jobbik" war die Polizei in Gyöngyöspata, schritt aber nicht ein, obwohl die Roma-Gemeinde an den Innenminister geschrieben und von einer "Bedrohung" gesprochen hatte.
Obwohl in den Jahren 2009 und 2010 sechs Menschen mit Roma-Hintergrund ermordet worden sind (unter ihnen zwei Kinder), schien es Europa nicht zu reichen, um einzusehen, was in Ungarn passiert, und zu verstehen, dass dieser Prozess europaweit kein neues Phänomen ist.
Die Zeiten ändern sich
Mit dem Lied und dem Album "The Times They Are a-Changin'", das diesem Beitrag seinen Namen gibt, wurde Bob Dylan im Jahr 1964 zu einer Persönlichkeit der amerikanischen Folkmusik. Es hatte den Anschein, dass ein authentischer Revolutionär stellvertretend für eine Generation auftrat, die sich nach Veränderungen und turbulenten Zeiten sehnte. Doch die überlebenden Rockstars des turbulenten Jahrzehnts behaupteten sich bald als "neue Reiche", und der kraftvolle Sound des Undergrounds wurde brutal kommerzialisiert, bis er seine Essenz verlor.
Geschichte wiederholt sich, und manchmal hat etwas, das zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort geschah, deutliche Parallelen zu unserer heutigen superglobalisierten Gesellschaft, die sich kreisförmig, in einer fortwährenden Suche nach Sinn und Identität bewegt. Die Gemeinschaft der spanischen Roma, wir nennen uns "Gitanos", schreitet voran, wächst und lebt vor allem auf eine andere Weise. Vermutlich kennen nur wenige Gitanos den Namen und die Lieder des Sängers aus Minnesota. Gleichwohl kennt jeder von ihnen - vom Jüngsten bis zum Ältesten - die Legende von dem berühmten Sänger Camaron de la Isla. Vermutlich kennen nur wenige Gitanos die Heldentaten von Napoleon; die spanischen Roma haben ihre eigenen Helden und Bauern, ihre eigene Geschichte und Folklore. Unsere Roma- oder Kali-Kultur ist tiefgründig und von unzähligen Verästelungen und Einflüssen geprägt. Zum Beispiel können in einem bestimmten Kontext benutzte Worte in der Gitano-Gemeinschaft eine völlig andere Bedeutung haben, als wenn sie von Nicht-Gitanos verwendet werden. Die spanische Gitano-Gemeinschaft besitzt eine Philosophie und Weltanschauung, die sie einzigartig und verschieden macht. Jedoch wurde und wird dieser kulturelle und historische Reichtum von einigen als Bedrohung wahrgenommen.
Roma kamen um 1425 nach Spanien. Offensichtlich gab es zunächst keinerlei Probleme, bis es zu einem politischen Klimawechsel kam, der das Konzept vom "Gitano" als etwas Negatives festschrieb. Das soziale und kulturelle Bild der (Mehrheitsgesellschaft über die) Gitanos wurde von Seiten der Soziologie und Philosophie studiert. Der Philosoph und Gitano Isaac Motos spricht von einem stigmatisierenden Diskurs, der uns seit Cervantes und Telecinco begleitet. Auch wenn das Problem offensichtlich ist, die Lösung ist zu weit entfernt, um überhaupt denkbar zu sein.
Im Umgang mit den Roma-Gemeinschaften wird Spanien oft als "gutes Beispiel" angeführt, aber das Spanien des Jahres 2011 ist kein gutes Beispiel, denn in Spanien gibt es keine homogene Politik gegenüber den Gitanos. Während wir in einem Dorf gut behandelt werden, vertreibt der Bürgermeister des Nachbardorfes die Gitano-Straßenhändler von ihren traditionellen Plätzen, und deren Kinder werden zur gleichen Zeit in Sonderschulen geschickt; nicht zu reden von den Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten, die Roma aus Osteuropa ertragen müssen. Dies ist die dunkle Seite Spaniens, die andere Seite der Medaille, die sich Europa als gutes Beispiel präsentiert. Um es in Shakespeares Worten zu sagen: "Es ist etwas faul in Spanien."
Dennoch haben die jungen Gitanos die Hoffnung auf Veränderung nicht aufgegeben. Gitano-Jugendliche haben Hoffnung auf eine Veränderung der sozialen und politischen Wahrnehmung, vor allem auf eine Veränderung der Medien, die uns mehr denn je erniedrigen.
Gitano-Organisationen entstehen und entwickeln sich in ungeahntem Ausmaß, wie zum Beispiel die Philadelphia-Gemeinde, die trotz eines Mangels an Flexibilität und Laizität (Weltlichkeit) heute einen Begegnungsraum für viele Gitano-Jugendliche darstellt. Dank der Sozialen Netzwerke ist es Gitanos möglich, ohne Grenzen zu kommunizieren und Ideen auszutauschen. Unsere Kultur befindet sich in einer ständigen Entwicklung, verändert sich schnell, aber ist auch von einem starken Zusammenhalt geprägt.
Wir befinden uns in unserem ganz persönlichen Tal von Elah einem Riesen gegenüber, der den mythischen Goliath klein und zerbrechlich erscheinen lässt. Unsere Generation kämpft zwischen Sieg - der für viele alles verändern könnte - und Niederlage gegen die Berlusconis dieser Welt, die sich auf demokratischen Adern wie Stechfliegen niederlassen und sich von ihrer Schwäche ernähren. "Die Zeiten ändern sich", wie Bob Dylan einst sang ... oder sagen wir besser: Sie könnten sich ändern, hoffentlich dieses Mal zum Besseren.
So sieht unsere Demokratie aus!
Im Jahre 1954 schrieb der rumänische Schriftsteller Eugène Ionesco in dem Stück "Amédée, ou Comment s'en débarrasser" über einen Corpus, der nach dem Tod zu wachsen beginnt und damit eine zweite, unendliche Existenz als Leiche erfährt. So wie dieses unheimliche Etwas nicht aufhören will zu existieren, so bleibt auch die Frage, ob die Roma jemals in unserer Gesellschaft akzeptiert werden können: nicht in den Gesetzen oder auf offiziellen Papieren, nicht in den Diskursen der Politiker, nicht in den Programmen für Kinder, von denen alle anderen mehr profitieren als die Kinder. Es geht um einen Platz im täglichen Leben; in unserer immer noch vom alten Faschismus durchzogenen Welt, in der wir es gewohnt sind alles zu diskriminieren, was nicht unserer grauen Mentalität entspricht.
Wir wollen Tausende von Menschen wegschicken, aus unserem Blickfeld entfernen, die seit Generationen diesen von Kriegen und Zerstörung gezeichneten Teil der Erde mit uns teilen. Ihre Musik, die kulturellen Einflüsse können sie hier lassen, aber sie selbst müssen weg, auch wenn keiner weiß, wohin. In Rumänien, wo sie von der Gesellschaft immer noch als Sklaven, als unterster Teil betrachtet werden, obwohl die offizielle Befreiung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts stattfand, haben Roma auf Grund von Ausgrenzung und einer schlechten Wirtschaftslage kaum eine Möglichkeit, sich eine gesicherte Existenz aufzubauen. Im reicheren Westeuropa will sich keiner mit diesen Binnenflüchtlingen auseinandersetzen, weil sie sich nicht verantwortlich fühlen. Sollen sie doch zurück nach Rumänien gehen! Aus den Augen, aus dem Sinn. Aber das Problem liegt nicht bei den Roma.
Noch immer gibt es in Rumänien keine offizielle Anerkennung für die Opfer des Holocaust, auch keine Erinnerung an das, was die rumänischen Faschisten den Roma angetan haben. Sie pferchten Familien zusammen und schickten sie in Lager nach Transnistrien. Im Winter 1942/43 starben auf Grund einer Anordnung des rumänischen Marschalls und Ministerpräsidenten Ion Antonescu rund 11000 Roma. In einem Land, in dem der Präsident gefährliche, diskriminierende Bemerkungen über Roma macht und trotzdem gewählt wird,
Gibt es eine Stadt oder ein Dorf, in dem die Roma nicht isoliert in den Randbezirken leben, an den schmutzigsten, verseuchtesten Orten, unter Bedingungen, die nicht in deinen schlimmsten Albträumen Platz fänden? Sie leben ein Leben in der ständigen Furcht, geräumt zu werden, kein Geld für Kleidung und Lebensmittel zu haben, gezeichnet von der Angst der Verzweifelten, die in Armut leben.
Übersetzung aus dem Englischen von Verena Spilker.
Auf dem Balkan
Nach den Balkankriegen sowie der EU-Osterweiterung als auch durch die Einführung der Visafreiheit für einige Balkanstaaten kam es zu einer neuen Wanderungswelle in Richtung der EU-Gründungsmitglieder. Es wäre zu fragen, warum diese Menschen vorwiegend aus Serbien, Mazedonien und dem Kosovo in Deutschland Asyl suchen - es sind überwiegend Roma. Die Zahl der Asylanträge serbischer Staatsbürger stieg von 581 im Jahre 2009 auf 4978 im Jahre 2010. Bei Mazedoniern kletterten die Zahlen im selben Zeitraum von 109 auf 2466. Sowohl die Anträge der Serben als auch der Mazedonier werden von den deutschen Behörden nahezu ausnahmslos als unbegründet abgelehnt.
In den einzelnen Balkanstaaten unterscheiden sich die Lebensumstände der Roma stark voneinander. Im Kosovo leben heute rund 40000 Roma, Ashkali und Ägypter; ursprünglich waren es 120000 (Schätzungen liegen viel höher). Das Romanes ist lokal als Amtssprache anerkannt, und laut Verfassung haben die Roma Anspruch auf einen von 120 Abgeordnetensitzen im Parlament. Ihnen werden dieselben Rechte zugesprochen wie der Mehrheitsgesellschaft, nach dem Grundsatz, alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Jedoch lässt die Umsetzung dieser Rechte zu wünschen übrig. Die gesellschaftliche und politische Teilhabe, welche eine Mindestvoraussetzung für eine erfolgreiche Integration wäre, ist durch kumulative Diskriminierung und Verfolgungsgefahren aufgrund von Kollaborationsvorwürfen mit den Serben versperrt. Ein Großteil der Roma besitzt nicht einmal gültige Ausweise.
In Mazedonien sind die Roma laut Verfassung als ethnische Minderheit anerkannt, was ihnen unter anderem die Möglichkeit zu einer Grundschulausbildung in ihrer Muttersprache eröffnet. Darüber hinaus spricht ihnen die Verfassung einen freien Sitz und Stimme im Parlament zu, wodurch ihre unmittelbare Interessenvertretung gewährleistet ist. Jedoch machen sich diese Zugeständnisse kaum in der politischen Wirklichkeit bemerkbar. Ihr Leben am Rand der Städte setzt sich in der Politik fort. Nach einer gezielten Integrationspolitik sucht man vergebens. Ein Bericht der EU-Kommission bestätigt der Republik Mazedonien sogar eine negative Entwicklung bei der Bekämpfung der Diskriminierung von Roma.
Im Nachbarstaat Serbien genießen Roma ebenfalls den Status einer staatlich anerkannten nationalen Minderheit, ihre Lage ist jedoch prekärer. Sie leiden unter behördlicher Diskriminierung und unter rassistischen Übergriffen.
Es ist daher nicht verwunderlich, warum sich so viele Roma aus den Ländern Südosteuropas auf dem Weg in Richtung der EU-Gründungsmitglieder machen. In Südosteuropa haben sie keine Lobby. In Zeiten der Unsicherheit und der auf dem Balkan immer noch anhaltenden Nachwirkungen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise sind sie besonders stark betroffen. So werden sie in den Medien des Öfteren als demografische Bedrohung dargestellt und des Missbrauchs der (kaum vorhandenen) Sozialhilfesysteme beschuldigt. Die historisch bedingte Heterogenität der Roma tut ihr Übriges. Die existierenden Parteien und Organisationen sind oft nicht zur Kooperation bereit, sodass sie keine eigenen Initiativen in Gang setzen können. Hier sollten die EU-Mitgliedstaaten stringente Richtlinien zur Integration von Minderheiten festlegen, welche bei einer fehlerhaften Umsetzung zu Sanktionen führen müssen.