Einleitung
Ein großes Problem von Frauen im Zusammenhang mit Menschenrechten ist die Verteilung von Sorge und Fürsorge (Care). Es geht dabei um Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in Bezug auf Wertschätzung und Bezahlung, und es geht um Ressourcen, die anscheinend "natürlich" vorhanden sind, die ganz offensichtlich aber auch knapp werden können. Care-Arbeit stellt nicht nur die soziale Einbettung von Produktion dar. Sie ist selbst außerordentlich zentrale gesellschaftliche Produktion, nämlich die Produktion des biologischen und gesellschaftlichen Lebens selbst, die immer Reproduktion ist.
Die amerikanische Soziologin Arlie Hochschild hat in ihren Arbeiten dazu die weitestgehenden theoretischen Überlegungen angestellt. In ihrem zusammen mit Barbara Ehrenreich herausgegebenen Buch Global Woman
Forschungen zu kommerzieller Leihmutterschaft in Indien zeigen, wie das Austragen von Kindern als ein marktförmig organisierter, widersprüchlicher, körperliche, emotionale, soziale und kulturelle Ressourcen ausbeutender Produktionsprozess organisiert wird.
Care-Leistungen, Sorge und Fürsorge im weitesten Sinne, sind, ob unbezahlt oder bezahlt, ob privat oder öffentlich, überwiegend von Frauen geleistete Arbeiten, die weitgehend unsichtbar bleiben. Sie werden gesellschaftlich ungenügend anerkannt und thematisiert, und dies, obwohl Care-Arbeit zu den am stärksten wachsenden gesellschaftlichen Arbeitsbereichen gehört. Die Gründe hierfür liegen auf unterschiedlichen Ebenen:
Wandel der Geschlechterverhältnisse:
Die Frauenerwerbsquote ist stetig angestiegen. Trotzdem ist die Beteiligung von Männern an Putz- und Haushaltstätigkeiten, aber auch im Bereich Sorge und Fürsorge eher gering geblieben. Egalitäre Geschlechterarrangements scheitern nicht selten an "Traditionalisierungsfallen".
Demografischer Wandel:
Die Gruppe der Personen im Erwerbsalter schrumpft; der Anteil altersbedingt unterstützungsbedürftiger Personen wird dagegen stark ansteigen. Ende 2009 waren in Deutschland gut 2,3 Millionen Menschen pflegebedürftig, bis 2030 wird mit einem Anstieg auf 3,4 Millionen gerechnet.
Umstrukturierung des Wohlfahrtssystems:
Die aktivierende Sozialstaatspolitik, die auf eine Senkung der staatlichen Ausgaben zielt, trägt in vielfacher Hinsicht zu einer widersprüchlichen Re-Familialisierung von Care-Aufgaben bei. Mit einem Ausbau der Kinderbetreuung wird einerseits die Etablierung eines Adult-worker-Modells unterstützt.
Bisher ist es nicht gelungen, die verschiedenen Diskussionsstränge aus der Frauen-, Familien-, Sozial-, Gesundheits-, Steuer-, Arbeitsmarkt-, Migrations- und Außenpolitik zusammenzuführen. Care-Arbeit wird bis heute nicht als ein gesellschaftspolitisch zentrales, zusammenhängendes Politikfeld gesehen und entsprechend bearbeitet. Genau dies aber wäre nötig, um den künftigen Herausforderungen wirksam begegnen zu können.
Neue weibliche Arbeitsmigration nach Europa
Die Feminisierung der Migration in Europa und weltweit hat zugleich zu einer Veränderung von Migrationsprojekten und Migrationsnetzwerken geführt. Gegenüber der dauerhaften Migration durch Zuzug von Gruppen sowie durch Familienzusammenführung ist die neue Zuwanderung nach Westeuropa nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Desintegration Jugoslawiens geprägt durch transnationale pendelnde und zirkuläre Arbeitsmigrationen sowie durch undokumentierte Migration insbesondere von allein einreisenden Frauen. Daneben führt die Nachfragesituation in Bezug auf Arbeit im Care-Bereich zur Zuwanderung ausländischer - häufig illegaler - Pflegekräfte aus der globalen Peripherie. Die geschlechtsspezifische Betrachtung erweist dabei durchaus widersprüchliche Entwicklungen, die teilweise zu Lasten der Frauen gehen, teilweise aber auch einen Autonomiegewinn für die Frauen bedeuten. Der hohe Frauenanteil in den neuen Migrationsbewegungen in Europa kann sowohl auf die Nachfragesituation in Bezug auf Arbeit im Dienstleistungsbereich zurückgeführt werden, als auch auf die Typik der postkommunistischen Situation. Als Erben des Staatssozialismus war die Mehrheit der Frauen ökonomisch aktiv, aber aufgrund weiter bestehender patriarchalischer Normen und Machtverhältnisse wurden sie die ersten Opfer der postkommunistischen Umstrukturierungen.
Kennzeichnend für die neue Migrationssituation in Europa ist die Irregularisierung der Migrationsbewegungen im Zuge der Globalisierung, die zu neuen Mustern der Migration gegenüber denen der klassischen Arbeitsmigrationen im Rahmen von Anwerbeverträgen geführt haben. Wir denken zum Beispiel an die Situation derjenigen Frauen, die Saskia Sassen als "feminization of survival"
Care Chains - Care Drain
Arlie Hochschild prägte das Konzept der Care Chains, der "globalen Betreuungsketten".
Betreuungsketten bilden sich entlang von Armutsgrenzen, von Süden nach Norden und von Osten nach Westen. Eine solche Ost-West-Verbindung untersuchte das Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft "Landscapes of Care Drain. Care provision and Care Chains from the Ukraine to Poland and from Poland to Germany". Auf der Grundlage ihrer Ergebnisse plädieren Helma Lutz und Ewa Palenga-Möllenbeck für eine Differenzierung der Forschungsperspektiven auf Care Chains. Ihre empirischen Analysen weisen auf Verzweigungen der Betreuungsketten hin. Es sind nicht die nach Deutschland migrierenden Polinnen, die Betreuungsaufgaben an Ukrainerinnen weitergeben. Sie versuchen, Betreuungsarrangements mit Verwandten, Nachbarn und Freunden zu etablieren. Stattdessen sind es Polinnen aus mittelständischen Familien, die Ukrainerinnen für Haus- und Familienarbeiten beschäftigen.
Irreguläre Arbeitsverhältnisse
Nach einer repräsentativen Umfrage haben 18 Prozent der deutschen Haushalte schon einmal jemanden "schwarz" im Haushalt beschäftigt. Als Gründe wurden angegeben, dass es weniger koste, dass die Hilfe nicht angemeldet werden wollte, dass das Verfahren zu kompliziert sei, dass man sich noch nicht mit der Frage beschäftigt habe, dass man nicht gewusst habe, dass das nötig ist, und schließlich, dass man bisher keine Zeit gehabt habe.
Ob sich diese Situation mit der erweiterten Arbeitnehmerfreizügigkeit seit dem 1. Mai 2011 ändern wird, ist fraglich. Zwar ist nun die grenzüberschreitende Entsendung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus allen EU-Staaten mit Ausnahme von Rumänien und Bulgarien in alle Branchen nach Deutschland möglich, und bereits vor diesem Stichtag gab es eine Vielzahl von Vermittlungsagenturen, die osteuropäische Haushaltshilfen auf der Grundlage der europäischen Dienstleistungsrichtlinie als "Selbstständige" in deutsche Haushalte vermittelten. Die erweiterte Freizügigkeit wird jedoch, so die skeptische Annahme der Sozialrechtlerin Dorothee Frings, voraussichtlich nicht zu einer Abnahme irregulärer Beschäftigung in Privathaushalten führen. Stattdessen rechnet sie damit, dass sich die Beschäftigung der mittel- und osteuropäischen Frauen in besser bezahlte Arbeitsbereiche verlagert und Frauen aus Drittländern in die Privathaushalte nachrücken.
Hinsichtlich der konkreten Tätigkeiten, so erfuhr Juliane Karakayali in biografischen Interviews mit regulär und irregulär beschäftigten Care-Arbeiterinnen aus Osteuropa, gibt es kaum Unterschiede zwischen ihnen. Unter Umständen ist es für irregulär arbeitende Migrantinnen sogar leichter, sich zu wehren, zum Beispiel durch einen Wechsel des Arbeitsplatzes.
Care, Citizenship und Geschlechtergerechtigkeit
Der moderne Wohlfahrtsstaat westlicher Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg basiert auf der traditionellen Geschlechterordnung des 19. Jahrhunderts. Die Freiheit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu bestreiten und so in den Besitz von Citizenship, von Bürgerrechten, zu gelangen, erstreckte sich nicht auf die häuslichen Arbeiten von Frauen, die somit nicht die Möglichkeit hatten, durch ihre Tätigkeit gleiche Rechte zu erlangen. Die Domestizierung von Care-Arbeit bildete somit die Basis des Ausschlusses von staatsbürgerlichen Rechten.
Citizenship ist ein Konzept, das in seiner Entstehung eng verbunden ist mit der Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat, aber auch mit Zugehörigkeit zu einer Zivilgesellschaft in einem weiteren Sinn. Letzteres ist insbesondere von feministischen Forscherinnen und Forschern unterstrichen worden, die Gender, Class und Race zu jenen Kategorien zählen, die Einschlüsse und Ausschlüsse in der Zivilgesellschaft jenseits von bloßer Staatsangehörigkeit regeln. Dieses Verständnis erweitert das Konzept von Citizenship, wie T.H. Marshall es bahnbrechend 1950 entwickelt hatte. Marshall analysierte die Aufeinanderfolge von zivilen, politischen und sozialen Rechten in Großbritannien als eine historische Evolution vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Nach seinem Verständnis ist diese Triade aufgebaut auf einem Geflecht von Institutionen, welche die Rechte, Zugänge und Zugehörigkeiten von Individuen zu einem Gemeinwesen bestimmen.
Es gibt seit langem zwei unterschiedliche Strategien, welche die staatsbürgerlichen Rechte von Frauen stärken wollen. Die eine Strategie zielt darauf, die Stellung von Frauen im Arbeitsmarkt und in der Politik zu festigen. Die andere Strategie sucht die von Frauen geleistete Arbeit in der Reproduktionsarbeit als Grundlage für Citizenship und will dabei insbesondere den Zugang zu sozialen Rechten stärken. Die verschiedenen Formulierungen gleicher Rechte für Männer und Frauen durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und später die EU folgten der erstgenannten Strategie. Eine Aufwertung häuslicher unbezahlter Pflegearbeit als eigenständige Quelle von Rechten erfolgte nicht.
In dieser Logik wurden auch staatliche und EU-Hilfen für die Integration von Migrantinnen auf der Grundlage des Konzepts der legalen Vollzeitarbeit konzipiert. Diese enthalten zwar den Anspruch auf vollen Zugang zu sozialen Rechten für Migranten mit einem gefestigten Aufenthaltsstatus, aber dieser kann paradoxerweise gerade durch die Inanspruchnahme solcher sozialen Rechte (wie Bezug von Sozialhilfe) gefährdet werden und im Extremfall zur Ausweisung führen.
Rhacel Parreñas thematisierte den bis heute weltweit anhaltenden Widerstand gegen die Entlassung von Frauen aus Care-Aufgaben. Die Persistenz der Ideologie weiblicher Häuslichkeit, die "force of domesticity",
Ute Gerhard sieht den Kern feministischer Citizenship-Konzepte darin begründet, Care als integralen Teil staatsbürgerlicher Pflichten unabhängig vom Geschlecht zu etablieren.
Die Europäische Union hat - entgegen der Annahme einer gleichförmigen Globalisierung universaler Gerechtigkeitsansprüche - mit dem Ende der Ost-West- Teilung den Beginn einer besonderen europäischen Staatsbürgerschaft realisiert. Seit dem Maastrichter Vertrag von 1993 existiert eine formelle EU-Staatsbürgerschaft, welche jede Person besitzt, welche die Nationalität eines Mitgliedsstaates hat.
Neue Dimensionen erhält das Konzept der Staatsbürgerrechte durch die vielfältigen Prozesse der Migration. Obwohl die westeuropäischen Länder seit mehr als vier Jahrzehnten Ziel von Einwanderungsprozessen sind, gibt es lediglich Ansätze einer gesamteuropäischen Einwanderungspolitik und häufig auch keine geregelten einzelstaatlichen Eingliederungsprozeduren. Integrationsbemühungen bleiben somit auch gesamteuropäisch Elemente einer Notstandspraxis. Nicht nur undokumentierte Einwanderer, sondern auch Aufenthaltsberechtigte haben zumeist keine Chance, die Bürgerrechte an ihrem neuen Aufenthaltsort zu erlangen. Arbeitsmigranten aus Mitgliedsländern der EU haben zwar die europäische Staatsbürgerschaft, aber dies berechtigt sie nicht zur Teilnahme an nationalen Wahlen und damit zur effektiven Vertretung ihrer Interessen.
Nicht zu übersehen ist dabei, dass der Aufbau einer europäischen Staatsbürgerschaft von unten, nämlich die Zusammenführung unterschiedlichster nationaler Regeln zur sozialen Teilhabe von EU-Einwohnern einerseits (Nested Citizenship), die Einführung einer Antidiskriminierungsrechtsprechung andererseits, möglicherweise nicht intendierte (durchaus positiv zu wertende) Nebenfolgen hat. Diese Regelungen sind nämlich geeignet, soziale und politische Bewegungen zu unterstützen, die den gleichen Zugang zu Citizenship-Rechten für alle Bürger als universale Rechte fordern.