Einleitung
Als Jugoslawien Anfang der 1990er Jahre in Blut und Chaos versank, meinte der damalige europäische Ratspräsident Jacques Poos: "Dies ist die Stunde Europas." Poos wäre längst vergessen, würden Europas verzweifelte Freunde und schadenfrohe Feinde seinen Spruch nicht immer dann zitieren, wenn Europa in der Außenpolitik versagt. Leider gibt der "Arabische Frühling" Anlass, an Poos zu erinnern. Dies müsste die Stunde Europas sein. Und wieder hat Europa versagt. Was hat es falsch gemacht?
Die Europäische Union (EU) hat keine gemeinsame Außenpolitik. Und wenn sie eine hätte, würden ihr die Mittel fehlen, sie umzusetzen: Die EU ist ein Papiertiger. Die europäische Haltung gegenüber der arabischen Welt ist imperialistisch geprägt. Und die EU unterschätzt die Rolle der Türkei als Modell für die islamische Welt und sieht zu, wie sich die Türkei von der EU abwendet. Es müsste das Gegenteil des Bisherigen getan werden: Die EU muss ernst machen mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Die EU muss auf die Demokratie in der arabischen Welt setzen, nicht auf die korrupten Eliten. Die EU muss begreifen, dass sie ohne die Türkei kein global player sein kann - und daher die Türkei aufnehmen.
Keine gemeinsame Außenpolitik
Am deutlichsten wird das Fehlen einer europäischen Außenpolitik in der Libyen-Frage. Als dieser Essay geschrieben wurde, waren Gegner des Diktators Muammar al Gaddafi dabei, in Tripolis einzumarschieren. Einige EU-Staaten, allen voran Großbritannien, Frankreich und Italien, hatten die Rebellen mit einem Luftkrieg unterstützt. Das unerklärte Ziel war regime change im nordafrikanischen Land. Andere EU-Mitglieder hielten sich heraus. Als im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 1973 eingebracht wurde, die den Militäreinsatz zum Schutz der libyschen Rebellen billigt, enthielt sich Deutschland zusammen mit den BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China). Die anderen im Sicherheitsrat vertretenen EU-Staaten - Großbritannien, Frankreich und Portugal - stimmten für die Resolution. Bei den Auseinandersetzungen innerhalb der EU um die Haltung zum Libyen-Einsatz standen die osteuropäischen Staaten eher auf der Seite Deutschlands, die west- und südeuropäischen auf der Seite Frankreichs.
Unabhängig davon, wie man zur Libyen-Aktion steht: Hier haben wir es mit einem Debakel zu tun. Der offene Dissens zwischen Deutschland und Frankreich markiert eine Zäsur.
Doch die Misere hat tiefere Wurzeln. Seit Jahren zeichnet sich ein deutsch-französischer Dissens in der Politik gegenüber den arabischen Staaten ab. Als Sarkozy 2007 seinen Plan für eine "Mittelmeerunion" vorstellte, die alle Mittelmeeranrainerstaaten plus Mauretanien und Jordanien umfassen (und die nördlichen EU-Länder, darunter Deutschland, außen vor lassen) sollte, wurde die Idee von Merkel torpediert. Die Kanzlerin sah in Sarkozys Projekt den Versuch, eine französische Interessensphäre zu schaffen, die als Gegengewicht dienen sollte zu einer aus Pariser Sicht bedrohlichen deutschen Interessensphäre, die von der Oder bis über den Kaukasus hinweg reicht. Europas Mittelmeerpolitik wird also nicht von gesamteuropäischen Interessen bestimmt, sondern von der strategischen Rivalität der beiden größten Mächte innerhalb der EU.
Europa hat zwar seit 2009 mit Catherine Ashton eine "Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik", aber keine gemeinsame Außenpolitik, die Frau Ashton vertreten könnte; und erst recht keine gemeinsame Sicherheitspolitik. Es wäre zwar falsch, Sicherheitspolitik auf militärische Fragen zu reduzieren. Aber ohne militärische Fähigkeiten bleibt Sicherheitspolitik eine Floskel. Auch hier kann Libyen als negatives Beispiel dienen.
Es waren vor allem Frankreich und Großbritannien, die auf eine Militäraktion gegen Muammar al Gaddafi drängten. Die Amerikaner waren zunächst not convinced. US-Verteidigungsminister Robert Gates kritisierte noch Anfang März "loses Gerede" über militärische Optionen.
Aus dem Libyen-Debakel haben Großbritannien und Frankreich Lehren gezogen und eine von beiden Seiten als "historisch" bezeichnete Ära der Kooperation eingeleitet. Gemeinsam wollen sie Flugzeugträger, U-Boote und Drohnen nicht nur entwickeln, sondern auch nutzen.
Welche Chancen hat da eine gemeinsame Außenpolitik? Mit der Schaffung des Amts eines "Hohen Vertreters", der mit "Doppelhut" sowohl in der Europäischen Kommission als auch im Europäischen Rat die Außen- und Sicherheitspolitik koordinieren soll, hat die EU ihren abstrakten Willen bekräftigt, eine gemeinsame Politik zu betreiben. Durch die Besetzung dieses Amts mit der weithin unbekannten, international unerfahrenen, farblosen und rhetorisch unbegabten "Lady Ashton" haben Europas Politiker aber dafür gesorgt, dass es nicht dazu kommt. Um hier weiterzukommen, müsste die Amtsinhaberin durch eine bekannte, erfahrene und ambitionierte Gestalt ersetzt werden, die alle Möglichkeiten des Amts ausschöpfen würde, nicht zuletzt die rhetorischen - etwa einen Joschka Fischer, Tony Blair oder Donald Tusk.
Freilich muss auch die europäische Öffentlichkeit nicht nur die Notwendigkeit gemeinsamer Außenpolitik, sondern auch den arabischen Raum als entscheidendes Feld dieser Politik erkennen. Bislang herrschte in Bezug auf die Region Ignoranz vor, selbst unter den europäischen Eliten. Durchaus typisch dürfte die vom European Council on Foreign Relations - nach eigener Darstellung der "erste paneuropäische Thinktank" - im März 2011 vorgelegte European Foreign Policy Scorecard 2010 sein, in der die außenpolitische Performance der EU bewertet wird.
Der von den meisten Bürgerinnen und Bürgern Europas begeistert begrüßte "Arabische Frühling" wird hoffentlich einer solchen atemberaubenden Fehleinschätzung der Prioritäten europäischer Außenpolitik ein Ende bereiten.
Europa tritt gegenüber der arabischen Welt imperialistisch auf
In seinem Buch "Imperien" schreibt Herfried Münkler, Europa müsse sich um seine "instabile Peripherie im Osten und Südosten" kümmern. Als "Subzentrum des imperialen Raums" der USA stünden die Europäer dabei "vor der - paradoxen - Gefahr, imperial überdehnt zu werden, ohne selbst ein Imperium zu sein".
Der Blick auf die arabische Welt als die zu stabilisierende "gegenüberliegende Küste" hat die Strategie der EU in der Region bestimmt. Mit großem propagandistischem Aufwand wurde 1995 auf einer Konferenz der EU-Außenminister und aller Mittelmeeranrainerstaaten außer Libyen die "Euro-Mediterrane Partnerschaft" (Euromed) aus der Taufe gehoben, die nach dem Konferenzort auch Barcelona-Prozess genannt wird. Als Ziel wurde die Schaffung eines "gemeinsamen Raums des Friedens und der Stabilität" mittels "umfassender Partnerschaft" ausgegeben. Sogar eine Euromed-Freihandelszone wurde in Aussicht gestellt.
Wie die frühere spanische Außenministerin Ana Palacio in einer vernichtenden Analyse feststellt,
Vor diesem Hintergrund wirkt der Skandal um Sarkozys Außenministerin Michèle Alliot-Marie wie eine Illustration der durchgängigen europäischen Haltung. Als Ende 2010 die "Jasminrevolution" in Tunesien tobte, nahm Alliot-Marie das Angebot eines dem Clan des tunesischen Diktators Ben Ali nahe stehenden Geschäftsmanns an, sie und ihre dem Ali-Clan durch Immobiliengeschäfte verbundenen Eltern in seinem Privatflugzeug nach Tunesien in den Sonnenurlaub zu fliegen. Nach Paris zurückgekehrt, bot Alliot-Marie dem bedrängten Ben Ali die Hilfe französischer Spezialkräfte an, um die Revolte niederzuschlagen.
Frankreich steht nicht allein da. Eng waren auch die Beziehungen Italiens über Jahrzehnte hinweg zum Öllieferanten Muammar al Gaddafi.
Dieses Denken in Sicherheitskategorien hat Europa in eine unheilvolle Allianz mit den arabischen Despoten manövriert. Dabei wurden - allen Erfahrungen zum Trotz - Europas Geschäfte mit dem Argument gerechtfertigt, die wirtschaftliche Entwicklung der arabischen Länder würde langfristig auch deren Demokratisierung herbeiführen. Aber abgesehen davon, dass in den meisten Ländern Missmanagement und Korruption wirtschaftlichen Fortschritt blockieren, genügt ein Blick auf die ölreichen Länder, um festzustellen, dass Reichtum in den Händen einer Herrscherclique allenfalls dazu benutzt wird, die Mehrheit der arbeits- und rechtlosen Bürgerinnen und Bürger durch Geschenke zu bestechen, um die für Demokratie kämpfende Minderheit umso brutaler unterdrücken zu können. Zum Beispiel mit Hilfe der Panzer, die Deutschland an Saudi-Arabien verkauft.
Was ist also zu tun? Die EU muss ihre imperialistische Politik, die auf die Stützung konservativer Herrscher im Namen der Sicherheit setzt, durch eine "neo-imperialistische" Politik ersetzen, die im Namen der Freiheit die Stärkung fortschrittlicher Kräfte durchsetzt. Diese Politik leugnet nicht, dass Europa eigennützige Interessen in der Region verfolgt. Aber sie versucht diese Ziele vor allem bottom up zu erreichen: Demokratie ist unser wichtigstes Exportgut.
Investitionen sind kontraproduktiv, wenn sie durch die Hände der herrschenden Cliquen gehen. Auch wenn jene Cliquen über "Neokolonialismus" zetern, sollte das EU-Parlament darum die Vergabe von EU-Investitionsgeldern an strikte Vorgaben binden und deren Einhaltung vor Ort überwachen. Firmen aus dem EU-Raum - wie die italienische Ölfirma ENI oder eben das Desertec-Konsortium - sollten durch europäische Gesetze gezwungen werden, einen Geschäftskodex einzuhalten, der die Förderung kleinerer Unternehmer oder die Anerkennung von Gewerkschaften einschließt. Noch sinnvoller als Investitionen allerdings wäre die Schaffung der versprochenen Freihandelszone, die auch Bauern und Kleinunternehmern die Märkte Europas öffnet.
Was für die Wirtschaft gilt, kann mutatis mutandis auf den Erziehungssektor übertragen werden. Es hat keinen Sinn, Schulen und Universitäten zu fördern, an denen intellektuell korrumpierte und eingeschüchterte Lehrerinnen und Lehrer unterrichten, wo Auswendiglernen und Nachbeten die bevorzugten Methoden sind, wo die Bibliotheken gesäubert und das Internet zensiert werden und Politik- und Geschichtskurse von einem widerlichen Mix aus Nationalismus und Antisemitismus durchdrungen sind. Wenn die EU in Bildung und Ausbildung investieren will, und das sollte sie, dann muss sie entweder die zu fördernden Institutionen selbst schaffen, oder - und auch hier werden die bislang Privilegierten über "Kulturimperialismus" zetern - als Gegenleistung Reformen der Lehrpläne und Lehrmethoden sowie eine Garantie der Informationsfreiheit fordern. Noch wichtiger aber ist die Öffnung des europäischen Bildungsmarkts für begabte und fleißige Studentinnen und Studenten aus dem arabischen Raum. Das Erlebnis der Freiheit ist die beste Werbung für die Freiheit.
Die Türkei ist der Schlüssel zur Zukunft der Region
Seit dem Ende des Osmanischen Reichs geistert die Gestalt Mustafa Kemal Atatürks durch die Region. Säkulare Modernisierer, die sich auf die Armee stützten und einen virulenten Nationalismus predigten, gelangten überall an die Macht und waren Partner der einen oder anderen Seite im Kalten Krieg: Gamel Abdel Nasser in Ägypten, Schah Reza Pahlewi in Persien, Saddam Hussein im Irak, die Assads in Syrien.
Je länger diese Diktatoren an der Macht blieben, je weniger sich ihre Versprechen verwirklichten, je umfassender ihre Geheimdienste die Gesellschaft kontrollierten, desto mehr wurde die Moschee zum Kristallisationspunkt der Opposition. Ayatollah Khomeinis iranische Revolution im Jahr 1979 markiert hier einen Wendepunkt. Den Westen stellte der Aufstieg des politischen Islam ("Islamismus") vor ein Dilemma. Aus Angst vor dem Islam banden sich westliche Mächte noch stärker an die säkularen Diktatoren, was wieder die Islamisten und den antiwestlichen Affekt stärkte. Aus diesem politischen und moralischen Dilemma suchten die USA nach den Angriffen des 11. September 2001 mit der "Bush-Doktrin" einen Ausweg: Die Welt sollte durch Demokratieexport für die Demokratie sicher gemacht werden.
Die Geschichte wird urteilen, ob Präsident George W. Bush, wie seine neokonservativen Apologeten behaupten, mit seiner Doktrin den "Arabischen Frühling" antizipierte, oder ob er, wie seine Kritiker sagen, mit den Kriegen in Afghanistan und dem Irak die Demokratie desavouierte. Klar ist jedoch, dass er das Dilemma nicht auflösen konnte. Schließlich konnten die USA nicht in jedes Land einmarschieren, das von einem Diktator regiert wurde. Die Lösung musste aus der Region selbst kommen. Wie die Türkei mit dem Kemalismus den islamischen Ländern ein Modell für das 20. Jahrhundert anbot, so bietet sie nun mit der Überwindung des Kemalismus durch die gemäßigt islamistische AK-Partei unter Recep Tayyip Erdoan und der Entmachtung der kemalistischen Generalität ein Modell für die Entwicklung einer islamischen Demokratie im 21. Jahrhundert.
Vergessen wir das EIDHR: Die Türkei ist Europas stärkstes Instrument zur Demokratisierung der Region. Dass die Türkei überdies diplomatisch und militärisch, wirtschaftlich und kulturell zur dominanten Macht der Region aufgestiegen ist und wieder an die osmanisch-mediterrane Vergangenheit anknüpfen will, zeigt, dass eine "Mittelmeerunion" unter europäischer Führung nicht denkbar ist, wenn die Türkei nicht zu Europa gehört.
Die Argumente der Gegner eines EU-Beitritts der Türkei klingen gerade in diesen Tagen besonders hohl. Es heißt, die EU würde durch die Türkei überdehnt und dadurch handlungsunfähig werden. Doch die gegenwärtige außenpolitische Handlungsunfähigkeit der EU ist nicht durch Überdehnung bedingt, sondern durch den Dissens zwischen zwei Mitgliedern des Gründungskerns: Deutschland und Frankreich. Und während die Ausdehnung der EU nach Osten weitgehend problemlos erfolgte, befindet sich die EU gegenwärtig wegen des Versuchs, mit dem Euro ein unauflöslich miteinander verbundenes "Kerneuropa" zu schaffen, in einer existenziellen Krise. Um es mit zwei Schlagwörtern zu sagen: Nicht die Erweiterung hat hier Probleme geschaffen, sondern die Vertiefung. Würde ein EU-Beitritt zu einer massenhaften Einwanderung von Türken führen? Kaum. Die Wanderungsbilanz etwa zwischen Deutschland und der Türkei ist negativ, es ziehen also mehr Menschen von Deutschland in die Türkei als in die andere Richtung. Und wenn es schließlich heißt, die Türkei würde nach einem Beitritt kraft ihrer Bevölkerungsgröße in den Organen der EU eine führende Rolle spielen, so fragt man sich angesichts der Fähigkeiten der gegenwärtigen Führungsriege, worin da das Problem liegen soll.
Wenn dem "Arabischen Frühling" der Demokratie nicht ein europäischer Herbst des Missvergnügens, der Lähmung und des Rückzugs entsprechen soll, muss also alles getan werden, um die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu einem guten Ende zu führen. An der Fähigkeit zu diesem Schritt wird sich zeigen, ob die Europäer bereit sind, in der Region eine führende Rolle zu spielen und langfristig aus dem Mittelmeer, das zurzeit zwei Kulturen trennt, wieder das verbindende "mare nostrum" zu machen, das Zentrum einer neuen, erst zu schaffenden euro-mediterranen Zivilisation.