Einleitung
Politische Sprache bedeutet den politischen Gebrauch der Sprache. Wenn widerstreitende Kräfte in der Gesellschaft die Sprache für ihre Machtkämpfe öffentlich einsetzen, nutzen sie die Sprache politisch. Gelingt es diesen Kräften, die Meinungen und Einstellungen oder gar die Verhaltensweisen der Menschen zu beeinflussen und Mehrheiten für sich zu gewinnen, dann hat sich dieser Gebrauch gelohnt. Daher ist die "politische Sprache" nicht mit der Sprache der Politiker gleichzusetzen. Nicht nur Politiker vermögen politisch zu sprechen, sondern auch Führungskräfte in der Wirtschaft, wenn sie ihr Handeln öffentlich legitimieren, oder Intellektuelle, wenn sie Ideologien kritisch entlarven und so den Nährboden für den Machtzuwachs mancher Kräfte austrocknen und manch anderer düngen. Die Sprache der Politiker hingegen umfasst stilistische Eigenheiten, liebgewonnene Formulierungen und gewöhnliche Floskeln,
Grundbegriffe, Stil und Methoden
Zur politischen Sprache gehört erstens das Institutionsvokabular (z.B. "Bundestag", "Ministerpräsident", "Regierungskoalition"), zweitens das Interaktionsvokabular, das politische Interaktionen oder sprachliche Handlungen bezeichnet (z.B. "Skandal", "Beschluss", "Kompromiss" oder "fordern", "zustimmen", "diskutieren") und schließlich das Ressortvokabular, welches die Fachsprache der jeweiligen Sachressorts umfasst, wie die diplomatische Sprache, die Finanzsprache oder die Umweltsprache usw.
Wenn man von Sprache spricht, so denkt man unwillkürlich an Grammatik, Rechtschreibung oder Stilistik. Und wenn Politiker im Fokus stehen, so fallen einem bestimmte Wörter und Sätze ein wie "Wir gehen davon aus, dass ...", "Bitte lassen sie mich ausreden. Ich habe ihnen ja auch zugehört", "Wir brauchen Visionen", "Wir werden es gemeinsam schaffen", "Die Menschen da draußen können es nicht mehr verstehen", "Der kleine Mann auf der Straße" usw. Diese Wendungen sind vielen Bürgerinnen und Bürgern aus Interviews oder Talkshows vertraut. Hinzu kommen Substantivierungen oder Passivkonstruktionen, die den Staub der Behördensprache immer wieder aufwirbeln und jede Verantwortung von Politikern fernhalten. Nur wer anders spricht und abweichend formuliert, wirkt frisch und erfrischend.
Wir kommunizieren nie unschuldig. Die politische Sprache ist ein Kampf mit Wörtern um Wörter. So lässt sich Deutungshoheit über Sachverhalte gewinnen, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Die drei bekanntesten und gängigsten Methoden sind dabei: benennen, besetzen und beschönigen.
Benennen (labeling). "Dies hat mir die größte Mühe gemacht: einzusehen, dass unsäglich mehr daran liegt, wie die Dinge heißen, als was sie sind (...). Es genügt, neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue Dinge zu schaffen." Mit dieser Einsicht fasste Friedrich Nietzsche (Die Fröhliche Wissenschaft, § 58) den Vorgang und die Absicht von Benennungen treffend zusammen. Wer Dinge neu zu benennen versteht, hebt eine neue Realität aus der Taufe - so zumindest die Hoffnung. "Neue Mitte", "Neue Soziale Marktwirtschaft", "Neoliberalismus" sind beispielsweise Namen, die für "neue" Sachverhalte stehen sollen - reale oder vermeintliche. "Arbeitsagentur" ist ein weiterer Name, der einen früheren ersetzt (nämlich "Arbeitsamt") und den Mentalitätswechsel in der Verwaltung andeutet - "bürgerfreundlich", "schnell", "serviceorientiert". Aus dieser Absicht erwächst auch der Gebrauch des englischen Namens "Jobcenter". Ob allerdings diese nominalistische Sicht, welche den Realitätswandel vom Sprachgebrauch abhängig macht, in diesem Umfang zutrifft, sei dahingestellt.
Besetzen ("Begriffe besetzen"). Eine andere bekannte "Kampfmethode" ist die Besetzung von Begriffen. Wer Begriffe neu deutet und deren Inhalt (Denotation) samt emotionaler Ausstrahlung (Konnotation) neu definiert, hat gute Chancen, die eigene Position mehrheitsfähig zu machen. Man denke nur an die Versuche, Definitionshoheit über Begriffe wie "Familie", "Bildung" oder "Soziale Marktwirtschaft" zu erlangen. Da die Bedeutung von Wörtern in ihrem Gebrauch liegt, wächst einer politischen Kraft in dem Maße Macht zu, in dem sie den Gebrauch bestimmter Wörter in der Öffentlichkeit und den Medien durchsetzt.
In der Debatte um die Neuregelung des Paragraphen 218 Anfang der 1970er Jahre entbrannte zum Beispiel ein Streit um das Wort "Schwangerschaftsunterbrechung". Wer gegen eine Fristenlösung war, interpretierte dieses Wort als Verschleierung einer Tötungstat. "Unterbrechung" legte die Vorstellung nahe, dass eine Frau die Schwangerschaft später fortsetzen könne.
Auch das Wort "Elite" hat eine ambivalente Geschichte. In Deutschland ist es aufgrund seiner Verwendung im "Dritten Reich" vorbelastet, weil es seinerzeit rassenideologisch angehaucht war. Im Hintergrund schwebt also immer die Vorstellung der "Auslese". Der Gegensatz "Elite - Masse" trat im nationalsozialistischen Schulsystem im Rahmen der Eliteerziehung deutlich hervor. Erst in den 1960er und 1970er Jahren wurde dem Wort der Begriff "Chancengleichheit" entgegengesetzt und es so entstigmatisiert. Weitere Wortbildungen wie "Verantwortungselite", "Funktionselite" "Leistungselite" oder "Eliteuniversitäten" haben der Bezeichnung "Elite" inzwischen positiven Inhalt verliehen.
Ähnlich verhält es sich auch mit den Wortanfängen "Atom-" und "Kern-". Das Wort "Atom" ist heute negativ konnotiert. Es nährt Vorstellungen wie "Atombombe" oder "Atomkrieg". In der Diskussion um die Atombewaffnung der Bundeswehr (Ende der 1950er Jahre) wurden der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer von der Opposition als "Atomkanzler" und sein Verteidigungsminister Franz Josef Strauß als "Atom-Strauß" beschimpft. Dann trat das Lexem "Kern-" auf und löste das umstrittene Lexem "Atom-" ab. Viele Pazifisten deuteten diese Umbenennung als Anbiederung der Politik an die Atomlobby. So benutzen Atomkraftgegner heute noch vorwiegend das Lexem "Atom-", während Energieunternehmen das Wort "Kernenergie" bevorzugen, um negative Assoziationen zu vermeiden.
Beschönigen. Auch Euphemismen, wozu die political correctness gehört, zählen zu den beliebten Methoden. Sie sind beschönigende Ausdrücke für tabuisierte Wörter oder Ideen
Ideologie
Im politischen Wettstreit sind stets Ideologien am Werke - teils bekannt, teils unbekannt. Sie sind handlungsorientierte Überzeugungen, einfache und allgemeine, die absolut gesetzt werden und im Handeln selbst jeder Kritik entzogen bleiben. Mit ihrer Hilfe meistern Menschen ihr Leben oder sichern politische Kräfte ihre Macht. Mögen Ideologien, einschließlich der in ihnen enthaltenen Vorurteile, auch falsch sein - nützlich und notwendig sind sie daher allemal. Ohne sie könnten Menschen überhaupt nicht handeln. Da im politischen Kampf alle Teilnehmer (Parteien, Verbände, Unternehmen usw.) auf Gesichtswahrung in der Öffentlichkeit bemüht sind,
Geschichtlich betrachtet ist die Zeit der großen Ideologien vorbei. Aber vom "Ende der Ideologien" zu sprechen, wäre aus den erwähnten Gründen verfehlt. Der bekannte Gegensatz zwischen "Gerechtigkeit" und "Freiheit" ist und bleibt in der Bundespolitik nach wie vor maßgebend. Die Erfindung der "Neuen Mitte" oder neuerdings nur der "Mitte" ist ein Versuch, diesen Gegensatz zu überwinden, doch gerinnt dieser Name selbst zu einem ideologischen Kampfbegriff, der wiederum besetzt werden muss. "Soziale Marktwirtschaft" und "Globalisierung" sind weitere Begriffe, die im öffentlichen Diskurs ideologisch gebraucht werden.
Rhetorische Zunge
Politische Sprache als solche ist nicht nur ideologisch, sondern auch rhetorisch, das heißt, sie ist auf Überzeugung angelegt. Dieser appellative Zug ist zwar auch in der schriftlichen Kommunikation sichtbar, aber das mächtigstes Instrument der politischen Sprache ist die Rede. Sie geht aus fünf Schritten hervor: inventio (Ideen sammeln, Recherche), dispositio (Gliederung des Stoffes, Argumentation), elocutio (Formulierung), memoria (Einprägen) und actio (Vortrag). An dieser Stelle sollen vor allem der zweite und der dritte betrachtet werden.
Im Unterschied zum Beweis besteht das Ziel der rhetorischen Argumentation nicht darin, "die Folgen aus bestimmten Prämissen abzuleiten, sondern die Übereinstimmung eines Publikums mit den Thesen, die man seiner Zustimmung unterbreitet, hervorzurufen oder zu verstärken".
Umrahmungen gehen in der politischen Sprache in alle möglichen Formulierungen ein: Rahmt eine Organisation den Sachverhalt "Homo-Ehe" mit dem Begriff "Verantwortungsgemeinschaft" ein, dann stattet dieser den Sachverhalt "Homo-Ehe" mit Vorstellungen von "Verantwortung" und "Gemeinschaft" aus, die unserer Wertewelt entsprechen. "Bürgerversicherung", "Lohnzurückhaltung" oder "gerechte Entlohnung" sind weitere Beispiele, die zeigen, wie die Praxis des Benennens, Besetzens und Beschönigens ebenfalls in diesen Werten wurzelt und aus Werteumrahmungen schöpft.
Zu diesen Werten gehören auch kulturelle Vorurteile, die als Werturteile unser Denken und Handeln leiten und auch als Ideologien bezeichnet werden können. Einige dieser Vor- und Werturteile sind: Die Zukunft ist besser als die Vergangenheit; das Neue ist besser als das Alte; Dynamik (Kraft) ist besser als Statik; Frieden ist besser als Krieg.
Schlagwörter wie "Neue Kraft", "Zukunft gestalten" oder "Neue Mitte" sind inzwischen vertraute Wendungen. Politiker haben diese Umrahmungstechnik so stark verinnerlicht, dass sie Gegensätze (Zukunft/Vergangenheit, neu/alt usw.) mit Rahmungen aufzuheben vermögen. So gelingt es ihnen sogar, Kriege mit "Frieden" (oder "Gerechtigkeit") zu umrahmen und zu rechtfertigen.
Zeitgeist und Antipolitik
Werte und deren Deutungen unterliegen dem geschichtlichen Wandel und hängen von Kulturräumen ab. So hat jede Zeit und jeder Kulturraum einen eigenen "Zeitgeist"
Schon im 18. Jahrhundert haben die Menschen erkannt, dass Wissen geschichtlich verfasst ist, und dass das ideale Wissensmodell der Zeitlosigkeit, verkörpert in der Mathematik, hinfällig ist. Ausgleich schafft nun zeitweise der Zeitgeist: Er bestimmt, was in einer bestimmten Epoche und in einem bestimmten Land gültig, ungültig, richtig und falsch ist. Wer in der Öffentlichkeit erfolgreich handeln will, muss diesen Zeitgeist als absolut anerkennen. Daher kann Politik ihm nicht widersprechen, wenn sie erfolgreich sein will, aber sie muss ihn auch ändern, wenn sie führen soll. Dieser Spannung ist auch die politische Sprache ausgesetzt, weshalb "antipolitische" Skepsis stets geboten ist - auch als Korrektiv zum Politischen.
Antipolitisch ist in dieser Hinsicht, sehen wir von der privaten Sprache ab, die Fiktion. Max Frisch hat in einer seiner Poetikvorlesungen die Kunst als "Gegen-Position zur Macht" definiert - nicht als "Gegen-Macht", welche wiederum innerhalb der politischen Sprache bliebe. Frisch führte dazu aus: "Da viele aber nicht sagen können, wie sie erleben, fühlen sie sich verpflichtet, so zu erleben, wie diese Herrschaftssprache es der schweigenden Mehrheit vorschreibt. Wie man erlebt. Die Herrschaftssprache hat die Tendenz, uns zu entmündigen, um uns verfügbar zu machen. Sie kastriert uns politisch Tag für Tag. Was Literatur leistet: (...) Der Schriftsteller blickt um sich. Indem er den Redensarten (der politischen Sprache, Anm. d. A.) eine andere Sprache entgegensetzt, die Sprache seiner Erfahrung, entlarvt er die Herrschaftssprache als Herrschaftssprache, als Trug-Sprache (...)."
Frisch definiert hier die politische Sprache als eine Herrschaftssprache und setzt das "Man" mit dem Zeitgeist gleich. Zusammengefasst heißt dies: Das "Man" ist der Träger des Zeit- und Raumgeistes und seine Sprache ist die politische. Gerade darin zeigt sich auch die politisch relevante Seite der Fiktion: Das "Man" des Zeitgeistes weicht dem "Ich" der Person, des Einzelnen, des Einmaligen.
In einer demokratisch verfassten Gesellschaft brauchen wir nicht nur "Gegen-Mächte" innerhalb der politischen Sprache, sondern wir brauchen außerhalb davon auch "Gegen-Positionen zur Macht". Erst in diesem Gleichgewicht vermag die Freiheit jene frische Luft zu bringen, die wir als Bürger zum Atmen brauchen.