Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft
Ferdos Forudastan: Herr Professor Bade, ich gehe durch eine deutsche Behörde, eine Schule, eine Universität, ein Gericht oder ein Ministerium, ich betrachte die Spitzen der Parteien, Gewerkschaften oder Verbände, ich schlage die Zeitung auf, schalte das Radio oder Fernsehen ein - und gewinne den Eindruck: Hier scheinen fast nur Menschen zu leben, die selber, deren Eltern und Großeltern schon in Deutschland geboren sind. Anders ausgedrückt: Die Tatsache, dass rund 20 Prozent der Menschen in Deutschland eine persönliche oder familiäre Zuwanderungsgeschichte haben spiegelt sich in den meisten Institutionen kaum wider. In der Verwaltung einer deutschen Großstadt beispielsweise haben nur rund drei Prozent der Mitarbeiter ausländische Wurzeln. Woran liegt das?
Klaus J. Bade: Das liegt zunächst daran, dass viele Zuwanderer aus der ehemaligen "Gastarbeiterbevölkerung", also aus oft bildungsfernen Schichten stammen. Deren Kinder waren schon deswegen in der Schule, in der Ausbildung und damit in der Vorbereitung auf das Erwerbsleben benachteiligt und kamen zunächst entsprechend seltener in qualifizierte Jobs, wie es sie in der Verwaltung, der Wissenschaft oder in den Medien gibt. Natürlich war auch ein kleiner Teil der Kinder aus sogenannten Gastarbeiterfamilien in der Schule sehr erfolgreich, aber diese Kinder hatten Glück, etwa weil außergewöhnlich engagierte Nachbarn oder Lehrer sie unterstützten. Solche Bildungskarrieren waren lange eher Ausnahmen, welche die Regel des Bildungsrückstands bestätigten. Das galt auch, wenn die Eltern ihre Kinder in der Schule unterstützen wollten, dies aber selber nicht konnten. Dass Eltern sich zusammenschlossen, um gemeinsam die Bildung ihrer Kinder zu fördern, gelang nur selten wie im Fall der erfolgreichen spanischen Elternvereine. Das alles zusammengenommen bedeutete: Soziale Startnachteile von Zuwanderern haben sich auf ihre Kinder vererbt. Und unser Bildungssystem hat diese Vererbung noch befördert und befördert sie bis heute.
Sie spielen darauf an, dass schon in der 4. Klasse die Kinder darauf festgelegt werden, welche schulische Laufbahn sie einzuschlagen haben?
Das auch, aber meine Kritik setzt viel früher an. Wir haben zu lange zugelassen, dass viele der unter Sechsjährigen in einer Umgebung heranwuchsen, in der sie kaum, nicht einmal sprachlich, gefördert wurden. Die Väter waren den ganzen Tag weg, die Mütter im Haushalt gebunden, und fast niemand sprach mit den Kindern Deutsch. In der Schule lagen sie dann weit hinter deutschen Jungen und Mädchen zurück, nicht weil sie unbegabter waren, sondern oft schlicht deswegen, weil sie die Lehrkräfte nicht oder nur mühsam verstehen konnten. Das hat sich erst in Ansätzen gebessert.
Das heißt: Es muss sich etwas ändern, und zwar etwas Grundlegendes ...
So hart es klingen mag: Wir sollten Eltern nötigenfalls verpflichten, ihre kleinen Kinder in die Kita zu geben. Das sollte übrigens nicht nur für Kinder von Zuwanderern gelten. Es gibt bekanntlich auch eine wachsende Zahl von jungen Menschen ohne Migrationshintergrund, die kaum in der Lage sind, einen etwas längeren Text zu lesen und zu verstehen. Wir haben aber bislang viel zu wenige Kitas. Sie müssten flächendeckend über das Land verteilt sein und hochqualifizierte Erzieher beschäftigen. Und es müsste regelmäßig geprüft werden, ob die Kinder dort bei spielerischer Beschäftigung nicht nur genug Deutsch lernen, sondern auch, ob sie überhaupt lernen, zu lernen.
Eine allgemeine Kindertagesstättenpflicht? Ich sehe sie schon Sturm laufen, die Eltern aus der gehobenen Mittelschicht, die dagegen halten, sie wollten und könnten ihre Kinder zuhause fördern und erziehen.
Ich sagte "nötigenfalls" - also dann, wenn die Eltern nachweislich nicht imstande sind, ihren Kindern das mitzugeben, was sie brauchen, um später zumindest sprachlich problemlos dem Unterricht in einer deutschen Schule folgen zu können. Niemand würde beispielsweise englischsprachige Kinder von ausländischen Diplomaten, die später sowieso eine internationale Schule besuchen, zwingen wollen, in eine deutsche Kita zu gehen. Das Gleiche gilt für bildungsorientierte deutsche Eltern, die das alleine schaffen.
Heißt das, Sie stellen sich eine Art Elternprüfung vor? Und wenn diese tatsächlich durchgesetzt würde: Wie sollten Eltern verpflichtet werden, ihre Kinder in die Kita zu schicken?
Reden wir nicht um den heißen Brei herum: Eine Sprach- und Lernstandsmessung im Vorschulalter bedeutet immer auch indirekt, zu prüfen, ob die Erziehungsberechtigten in der Lage und willens sind, ihrer Aufgabe nachzukommen. Dort, wo das nicht gelingt, sind die Eltern meist in einer sozial sehr schwierigen Situation und oft von staatlichen Transferleistungen abhängig. Hier muss gelten: Eltern, die Sozialgeld und insbesondere Kindergeld beziehen, sind umso mehr verpflichtet, durch die Erziehung ihrer Kinder dafür zu sorgen, dass sich ihre eigene Transferabhängigkeit nicht vererbt. Unterlassen sie das, sollte die Förderung reduziert werden. Schicken sie ihre Kinder trotzdem nicht in die Kita, muss das Jugendschutzgesetz greifen. Mit anderen Worten: Der Staat entzieht den Eltern das Erziehungsrecht auf Zeit oder auch auf Dauer. Kindeswohl geht vor Elternrecht. Um diesem Gedanken gerecht zu werden, haben wir schon jetzt die notwendigen gesetzlichen und behördlichen Handlungsspielräume, wir wenden sie nur zu selten an. Wir müssten aber auch die Stellung der Lehrer stärken. Es ist ein Unding, dass sie Eltern zum Gespräch über Lern- oder Verhaltensprobleme ihrer Kinder einbestellen - und die kommen dann einfach nicht. So was könnte man durch Elternverträge regeln, welche die beiderseitigen und wechselseitigen Verpflichtungen ebenso klären wie die Folgen von Pflichtverletzungen. Außerdem müssen wir die Kooperation zwischen Lehrern, Sozialarbeitern und nötigenfalls Jugendgerichten verbessern.
Damit wäre das Problem der ungleichen Bildungschancen, das wiederum zu schlechteren Chancen auf dem Arbeitsmarkt führt, aber noch nicht gelöst, oder?
Nein, dieses Problem wäre so lange nicht gelöst, wie sich die Misere in den Schulen fortsetzt. Dort hocken nämlich nicht die Schüler, sondern im Grunde auch deren Eltern. Mütter und Väter, die selbst eine gute Bildung genossen haben oder gut verdienen, können ihren Kinder nachmittags selber helfen oder eben Nachhilfestunden bezahlen. Eltern die selbst kaum zur Schule gegangen sind oder wenig Geld haben, schaffen es nicht, die Unzulänglichkeiten unseres Schulsystems privat auszugleichen. Gäbe es flächendeckend Ganztagsschulen, würden auch Kinder aus bildungsfernen Familien besser gefördert, ob nun mit oder ohne Migrationshintergrund. Das hieße in der Konsequenz, mehr Kinder aus sozial schwachen Familien würden eine bessere Schulbildung genießen.
Und dann? Es gibt doch schon heute viele gut ausgebildete junge Menschen mit ausländischen Wurzeln, die trotzdem keine ihrer Qualifikation entsprechende Stelle in der Verwaltung, der Wissenschaft oder den Medien bekommen, wenn sie nicht "Müller", sondern "Yldrm" heißen, wie etwa in einer Studie der OECD nachzulesen ist.
Richtig, wobei allerdings die Benachteiligung schon früher, beim Übergang auf weiterführende Schulen und bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen, meist stärker greift als später bei gleicher Qualifikation am Arbeitsmarkt. Dass dort, wo es um attraktive Jobs wie im öffentlichen Dienst oder in Medien geht, oft weniger Menschen mit Migrationshintergrund zu finden sind, hat aber noch einen anderen Grund: In den meisten Institutionen weiß man nicht genug über den Wert interkultureller Kompetenz. Worauf nur wenige Chefs achten, sind Qualifikationen wie diese: Kennen Bewerber aus eigener Anschauung mehr als eine, die hiesige Kultur? Können sie sich - weil sie darin Erfahrung haben - rasch in eine andere Kultur einfinden, vielleicht sogar zwischen verschiedenen Kulturen pendeln und vermitteln? Sprechen sie andere Fremdsprache als die gängigen? Hat jemand in einem der Herkunftsländer von Einwanderern gelebt?
Wie könnte man Entscheider in den Personalabteilungen der verschiedenen Institutionen denn davon überzeugen, dass sie mehr Mitarbeiter aus Migrantenfamilien einstellen sollten?
Indem man zum Beispiel den Verantwortlichen in einer Arbeitsagentur nahe bringt, wie wertvoll es ist, wenn eine Sachbearbeiterin, die selbst türkische Wurzeln hat, weiß, wie sie mit einem türkischen Mann sprechen muss, der zunächst eigentlich nicht will, dass seine Frau erwerbstätig wird. Oder indem man der Leiterin einer öffentlichen Bibliothek erklärt, dass sie in ihrer Bücherauswahl der Tatsache gerecht werden muss, dass in ihrem Großstadtbezirk mehr als ein Drittel der Bevölkerung und bei der Jugend vielleicht schon fast die Hälfte aus anderen Ländern stammt und dass sie ihr Angebot viel besser auf Literatur auch aus den Herkunftsländern ausweiten kann, wenn sie bikulturelle Mitarbeiterinnen beschäftigt. Oder indem man Bildungsministerien davon überzeugt, dass es sinnvoll ist, Menschen aus den Hauptherkunftsländern von Migranten beratend hinzuzuziehen, wenn sie ihre Lehrpläne erstellen. Das würde etwa das Augenmerk in Geschichte oder Politik darauf lenken, wie sehr die jüngste deutsche Geschichte von Zuwanderung geprägt ist, wie sehr die Migration dieses Land verändert hat, dass Migrantenfamilien die Zeitgeschichte dieses Landes aber oft auch ganz anders erlebt haben als die Mehrheitsbevölkerung. Das wiederum könnte enorm motivierend für die vielen Schüler aus Zuwandererfamilien sein, denen der Unterrichtsstoff bisher oft den Eindruck vermittelt, es habe sie und ihre Familien in Deutschland gar nicht gegeben, von ein bisschen "Gastarbeitergeschichte" einmal abgesehen.
Man sollte Entscheidungsträgern in Institutionen etwas "nahe bringen", ihnen "etwas erklären", sie "überzeugen": Das klingt, mit Verlaub, sehr soft. Muss man nicht stärkeren Druck entfalten, zum Beispiel über Quoten für Einwanderer und ihre Nachfahren? Der öffentliche Dienst etwa könnte sich verpflichten, einen bestimmten Prozentsatz seiner Stellen an Menschen mit Migrationshintergrund zu vergeben.
Ich bin kein Freund von Quoten oder von Maßnahmen, die eine "positive Diskriminierung" bestimmter Bevölkerungsgruppen bedeuten. Zu sagen, x oder y bekommt den Job, weil er ein Migrant ist, ist weder gut für den Job, noch für den Kandidaten und schon gar nicht für den sozialen Frieden. Ein Migrant, der mit Hilfe einer starren Quote in eine Position gekommen ist, müsste mit dem Stigma leben, dass er es nur wegen seiner ethnischen Herkunft geschafft hat. Er könnte unter Umständen weniger gestalten, hätte geringeren Einfluss, wäre mehr als andere gezwungen, um Anerkennung und Respekt zu kämpfen. Das wäre nicht nur für diesen Menschen ein Problem. Es würde auch die jeweilige Institution belasten. Hinzu kommt, dass Quoten für Zuwanderer sehr wahrscheinlich auch Neid und Ausländerfeindlichkeit schüren würden. Diese Konsequenz kann niemand wollen.
Ein Teil Ihrer Argumente gegen die Quote für Migranten ähnelt den Argumenten gegen die Frauenquote. Trotzdem hat sie dafür gesorgt, dass endlich mehr Frauen an gute Jobs und in wichtige Positionen gekommen sind.
Gucken Sie sich die deutschen Universitäten an: Fast nirgendwo steht, dass dort für bestimmte Institute auf Gedeih und Verderb eine bestimmte Quote eingehalten werden muss. Aber es wird in der Regel festgehalten, dass das Geschlechterverhältnis ausgewogen zu sein hat. Solange dies nicht der Fall ist - und es ist überwiegend noch nicht der Fall - muss die Gleichstellungsbeauftragte darauf achten, dass bei gleich qualifizierten Bewerbern die Frauen vorgezogen werden. Das gleiche gilt zum Beispiel für Behinderte. Für Berufungsverfahren ist das eine ganz wichtige Regelung, an der man nicht so einfach vorbeikommt. Natürlich wird sie immer wieder trickreich unterlaufen. Aber seit es diesen Orientierungspunkt gibt, hat sich die Situation zugunsten der Frauen verbessert. Wenn wir so einen Orientierungspunkt auch für die Einstellung von Menschen mit ausländischen Wurzeln hätten, wären wir schon viel weiter.
Und wenn wir die Quote in den Parteien nicht hätten, wäre die deutsche Politik viel männlicher als jetzt.
Sicher, die Frauenquote hat hier zu einem Wandel im Bewusstsein vieler politischer Entscheidungsträger geführt: Sie tun sich heute nicht mehr so leicht wie früher, mehr Positionen mit Männern als mit Frauen zu besetzen. Niemand würde es auch heute mehr wagen, wie oft noch in den 1970er Jahren, im gleichen Atemzug von "Minderheiten wie Ausländern, Behinderten und Frauen" zu reden.
Sie haben in den USA gelebt und gearbeitet. Dort tut man sich mit festen Quoten für Migranten nicht so schwer. Positive Diskriminierung ist dort, anders als hier, kein Schreckgespenst.
So einfach ist das nicht: Die Affirmative Action (AA), also die positive Diskriminierung, hat sich in den USA nur bedingt bewährt: Schon bald klagte man über die Verletzung der Prinzipien von Chancengleichheit und Leitungsgerechtigkeit, über Opferrollen, Opferkonkurrenzen und Gruppenrivalitäten, aber auch über die Entwertung von Karrieren durch ihre Zurückführung auf AA, und schließlich über den Missbrauch von AA als Karrieretreiber durch Leute, die zwar einer benachteiligten Gruppe zugehörten, selber aber gar nicht benachteiligt waren. Um solche Fehlentwicklungen zu begrenzen, entstanden eine wuchernde Kontrollbürokratie und ein Beschäftigungsprogramm für Juristen und Gerichte. Mittlerweile gibt es in den USA als Folge entsprechender Gerichtsurteile sehr komplizierte Rahmenbestimmungen, wie AA aussehen darf und wie nicht. Die Erfahrungen aus den USA sind mithin nicht so ermutigend, dass man sie in Deutschland wiederholen müsste. Außerdem gibt es hier doch auch ganz praktische Wege, um den Anteil von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in allen möglichen Institutionen zu erhöhen.
Welche Wege meinen Sie?
Polizei, Schulen oder auch Ämter müssten nachdrücklicher um Auszubildende und Mitarbeiter mit Migrationshintergrund werben. Es müsste für diese Menschen viel mehr Schulungen, Integrationslotsen und Mentorenprogramme geben, um die fehlende Förderung in den Schulen ein Stück weit auszugleichen, nachholende Integrationsförderung nennt man das heute. Es geht nicht darum, die Standards zu senken, sondern darum, sie erreichbar zu machen. Nehmen Sie die Berliner Polizei: Sie weiß, wie wichtig Polizisten aus den unterschiedlichen Einwanderergruppen für den Kontakt mit Angehörigen dieser Gruppen sind. Also werden junge Migranten eingestellt, die sich für den Polizeiberuf interessieren, auch wenn sie in einigen Bereichen noch Leistungsschwächen haben. Man gibt ihnen die Chance die Schwächen im Verlauf des ersten Jahres auszugleichen und ihren nachgeholten Erfolg in einer Prüfung unter Beweis zu stellen. Dann dürfen sie im Vorbereitungsdienst bleiben. Auf diese Weise gewinnt man durch eine Art Nachqualifikation in der Einstiegsphase hoch motiviertes Personal, ohne die Standards zu senken. Alles in allem aber führt kein Weg daran vorbei, Entscheidungsträger davon zu überzeugen, dass mehr Mitarbeiter mit ausländischen Wurzeln einen großen Gewinn für die eigene Behörde, den eigenen Verband oder Sender darstellen.
Wir sprechen über den großen Gewinn für die Institutionen. Muss man nicht genauso fragen, welchen Wert hat die Zusammenarbeit für Frauen und Männer aus Zuwandererfamilien?
Natürlich, man muss sogar noch ein ganzes Stück weitergehen und sagen: In einer Demokratie kann man nicht einer Bevölkerungsgruppe Teilhabe verweigern, indem man es ihr außerordentlich erschwert, in der Verwaltung, der Politik, in Verbänden oder Medien zureichend mitzuwirken. Hier lebende Menschen ausländischer Herkunft haben ein Recht darauf, diese Gesellschaft durch ihre Mitarbeit in den unterschiedlichen Institutionen mitzugestalten.
Mal angenommen, es lassen sich nicht genügend Behördenleiter, Parteivorsitzende oder Chefredakteure davon überzeugen, wie wichtig es ist, mehr Menschen mit Zuwanderungsgeschichte einzustellen: Erledigt sich das Problem nicht irgendwann dadurch, dass den Deutschen der Nachwuchs ausgeht, dass die Zahl der Frauen und Menschen mit ausländischen Wurzeln wächst und es damit nur eine Frage der Zeit ist, bis Entscheidungsträger ihre Hände nach ihnen ausstrecken?
Der Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge ins Rentenalter, anhaltend niedrige Geburtenraten bei der deutschen, höhere bei der Zuwandererbevölkerung und sinkende Arbeitslosenzahlen bei wirtschaftlichem Aufschwung führen zweifelsohne zu einer gewissen Entspannung am Arbeitsmarkt. Heute wird vereinzelt schon mit Azubi-Stellen nach Bewerbern geworfen. Nur auf die Gnade des demografischen Wandels am Arbeitsmarkt zu setzen, reicht aber nicht. Institutionen müssen die Interkulturalität in der Gesellschaft begleiten. Dafür muss sich diese Interkulturalität in ihren eigenen Reihen widerspiegeln. Nur dann können die Institutionen ihre eigene Zukunft - und damit die der ganzen Einwanderungsgesellschaft - adäquat mitgestalten. Eine zunehmende interkulturelle Ausdifferenzierung im öffentlichen Dienst, in der Politik, in Verbänden steigert die Fähigkeit, in der Einwanderungsgesellschaft Entfremdungserfahrungen zu mindern.
Wie kriegt man diese beiden Bilder zusammen? Auf der einen Seite Institutionen, die sich bewusst für Menschen mit ausländischen Wurzeln öffnen; auf der anderen Seite eine Öffentlichkeit, die in Teilen heftig dem Buchautor Thilo Sarrazin applaudiert, der Migranten aus Hauptherkunftsländern als existenzielle Gefahr für Deutschland darstellt.
Wenn Thilo Sarrazin sagt: Wir wollen nicht "Fremde im eigenen Land" werden, dann hat er die Einwanderungsgesellschaft als Kulturprozess nicht zureichend verstanden. "Fremd im eigenen Land zu werden" ist die Vorstellung, dass die Minderheit über die Mehrheit kommt und die Mehrheit anschließend selbst zur Minderheit wird. Das geht von der falschen Vorstellung aus, Fremde bleiben immer Fremde und Einheimische bleiben immer Einheimische - ein Gedanke, der jeder kulturhistorischen Perspektive entbehrt; denn Kultur ist kein Zustand, den man sich wie einen Spiegel an die Wand nageln kann, sondern ein Prozess. Darin findet jede Zeit ihre eigene Form.
Ein schöner Satz, aber was bedeutet er genau? Und wie könnte er jene Bürger beruhigen, die meinen, die Lage sei so düster, wie Thilo Sarrazin sie malt?
Machen wir ein fiktives Experiment und drehen wir die deutsche Geschichte um ein halbes Jahrhundert zurück: Könnte man einem Berliner aus dem Jahr 1960 einen Film aus der Berliner U-Bahn oder S-Bahn des Jahres 2010 zeigen, dann würde er das vielleicht für eine Fälschung oder für einen Filmbericht aus New York oder San Francisco halten und sagen: "In einer solchen Zukunft würde ich nicht leben wollen, da wäre ich ja ein Fremder im eigenen Land!" Aber wir leben in diesem Deutschland des Jahres 2010 und wir kommen, glaube ich, doch ganz gut klar. Ebenso klar ist, dass es desintegrative Problemzonen und Spannungsfelder gibt, vor deren Wachstum ich, pardon, viele Jahre vor Thilo Sarrazin immer wieder nachdrücklich, aber folgenlos öffentlich gewarnt habe. Sie erfordern endlich nachdrückliches Handeln, aber sie bestätigen doch als Ausnahmen nur die Regel der friedvollen Integration insgesamt. Erfolgreiche Integration bleibt eben meist unauffällig. Auffällig sind die sozialen Betriebsunfälle. Aber niemand käme auf den absurden Gedanken, aus einer Statistik der Verkehrsunfälle das Geheimnis des ruhig fließenden Verkehrs ableiten zu wollen.
Trotzdem bekommt, wer mit spitzem Finger auf die Verkehrsunfälle zeigt, immer noch lauteren Beifall als der, der auf den ruhig fließenden Verkehr aufmerksam macht. Genauer: Trotzdem bekommt Thilo Sarrazin von einem Teil der Öffentlichkeit heftigen Beifall. Warum fällt es vielen Menschen so schwer zu akzeptieren, dass die deutsche Gesellschaft heute eine Einwanderungsgesellschaft ist?
Die Einwanderungsgesellschaft, in der wir leben, schließt Zuwandererbevölkerung und Mehrheitsbevölkerung ohne Migrationshintergrund ein. Weil deren Geburtenraten nach wie vor niedriger liegen als die - allerdings ebenfalls sinkenden - Geburtenraten der Zuwandererbevölkerung, setzt sich der interethnische Wandel in der Einwanderungsgesellschaft auch ohne Zuwanderung fort. Die Einwanderungsgesellschaft ist also ein sich ständig veränderndes Gebilde, das zwar immer alltäglicher, aber auch immer unübersichtlicher wird. Das verängstigt viele Menschen, ältere mehr als jüngere. Das noch verbreitete Bild von der ethno-national statischen Aufnahmegesellschaft, in die sich die Hinzukommenden gefälligst einzupassen, in der sie quasi spurlos aufzugehen haben, ist - ob uns das passt oder nicht - eine realitätsfremde Fiktion. Integration ist ein langer, mitunter Generationen übergreifender Kultur- und Sozialprozess mit fließenden Grenzen zur Assimilation, die übrigens als solche überhaupt nichts Schreckliches ist, die man im Gegensatz zum Bemühen um Integration aber nicht einfordern kann. Im Laufe der Zeit verändert Einwanderung beide Seiten der Einwanderungsgesellschaft, die sich dabei stets weiter ausdifferenziert. Damit müssen auch die Institutionen der Einwanderungsgesellschaft Schritt zu halten suchen. Behörden, Politik, Verbände, Medien: Sie und ihre Aufgaben verändern sich zwangsläufig, wenn immer mehr Menschen in diesem Land ausländische Wurzeln haben. Diesen eigenen Veränderungsprozess als alltägliche Herausforderung anzunehmen, ihn nicht nur passiv hinzunehmen, sondern im Rahmen des Möglichen aktiv zu gestalten, das ist eine Kernaufgabe des Lebens in der Einwanderungsgesellschaft. Darauf hat auch Bundespräsident Christian Wulff in seiner programmatischen Bremer Rede zum 3. Oktober 2010 hingewiesen.