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Einwanderer in Räten und Parlamenten | Anerkennung, Teilhabe, Integration | bpb.de

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Einwanderer in Räten und Parlamenten

Karen Schönwälder

/ 17 Minuten zu lesen

Die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund in den Parlamenten und Räten steigt an, liegt aber noch weit unter dem Bevölkerungsanteil dieser Gruppe. Vor allem Türkeistämmige haben politisch verantwortliche Positionen erreicht.

Einleitung

Wenn in der Bundesrepublik Deutschland über Integration debattiert wird, geht es noch selten um Teilhabe am politischen Leben. Einwanderer erscheinen als Menschen, die herangeführt werden müssen an die Formen und Institutionen des Lebens in Deutschland, gelegentlich auch als Menschen, die nachdrücklich zur Anpassung gedrängt werden sollten. Viel seltener noch sind Bilder von Bürgerinnen und Bürgern, die diese Gesellschaft aktiv mitgestalten und dabei die besonderen Erfahrungen, die sie selbst oder ihre Eltern durch ihre Migrationsgeschichte gemacht haben, einbringen. Erst langsam erkennen die politischen Parteien und Eliten, dass Integration und Integrationspolitik auch bei ihnen selbst stattfinden sollte, dass auch ihnen "Vielfalt gut tut".

Nun haben Migrantinnen und Migranten schon in den Anfangsjahren der Gastarbeiterrekrutierung in den 1950er und 1960er Jahren ihre Lebensbedingungen aktiv mitgestaltet. Bei den Unternehmen Bahlsen oder Buderus protestierten sie, gelegentlich durch Arbeitsniederlegungen, um zum Beispiel eine bessere Gesundheitsversorgung und Verpflegung durchzusetzen. In den Gewerkschaften sind Arbeitsmigranten schon seit Jahrzehnten aktive Mitgestalter der Politik. In der Bürgerrechts- und Friedensbewegung gehörten sie schon in den 1970er und 1980er Jahren fest dazu.

Neu aber ist der Auftritt der Nachkriegseinwanderer auf der großen politischen Bühne der Parlamente und Regierungen. Neu ist auch, dass die Volksparteien eine geringe Präsenz von Migrantinnen und Migranten in ihren Führungsgremien und Fraktionen - und nicht zuletzt in ihrer Mitgliedschaft - als Problem erkennen. So konstatierte die SPD 2010 einen "Erneuerungsbedarf" der Partei in Sachen Integration: "Sie ist nicht bunt, nicht vielfältig genug. Die gesellschaftliche Lebensrealität spiegelt sich nicht in unserer Partei, erst Recht nicht auf Führungsebene, wider." Ähnlich stellte auch die CDU fest, dass sie einen "Nachholbedarf bei der parlamentarischen Vertretung der Zuwanderer und Aussiedler" hat.

Wählerinnen und Wähler mit Migrationshintergrund: ein wachsendes Potenzial

Hintergrund dieser Neuorientierungen ist die seit den 1990er Jahren stark angewachsene Zahl deutscher Staatsangehöriger mit Migrationshintergrund. Zum einen stieg die Zahl der Einbürgerungen an, erleichtert durch erste Reformen in den frühen 1990er Jahren und dann vor allem durch das seit dem Jahr 2000 geltende neue Staatsangehörigkeitsrecht. Auf 2,4 Millionen wird die Zahl der ehemaligen Ausländerinnen und Ausländer unter den Wahlberechtigten geschätzt. Zweitens haben die großen Aussiedlerzuwanderungen der 1990er Jahre das Wählerpotenzial mit Migrationshintergrund stark erweitert. Etwa die Hälfte der 2009 wahlberechtigten Einwanderer sind wohl als Aussiedler gekommen; Russland und Kasachstan zusammengenommen sind als Herkunftsregion dreimal so häufig vertreten wie die Türkei. Insgesamt hatten bei der Bundestagswahl im September 2009 nach einer Schätzung des Bundeswahlleiters knapp neun Prozent der Wahlberechtigten einen Migrationshintergrund. Bei Kommunalwahlen, wo auch EU-Staatsangehörige wahlberechtigt sind, kann in Großstädten der Anteil der Wahlberechtigten, die selbst oder deren Eltern eingewandert sind, schon einmal bei etwa 20 Prozent liegen.

Auch wenn momentan wenige Einwanderer nach Deutschland kommen, wird der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in der Wählerschaft weiter wachsen: Denn die Kinder von Ausländern werden ja seit 2000 in vielen Fällen per Geburt Deutsche, und Einbürgerungen halten - wenn auch auf niedrigem Niveau - an. Im politischen Leben wird und sollte diese langsam größer werdende Gruppe in Zukunft an Gewicht gewinnen.

Warum Einwanderer (auch) durch Einwanderer repräsentiert werden sollten

Nun ist es keine Selbstverständlichkeit, dass unterschiedliche Bevölkerungsgruppen spiegelbildlich in den Parlamenten vertreten sein sollten (in der Fachliteratur wird dies als "deskriptive" oder "statistische" Repräsentation bezeichnet). Kaum jemand verlangt beispielsweise, dass 30 Prozent der Parlamentarier Katholiken sein sollten, weil dies dem Bevölkerungsanteil dieser Konfession entspricht. Allerdings wird die weit unter ihrem Bevölkerungsanteil liegende Repräsentanz von Frauen durchaus sehr verbreitet als problematisch angesehen. Die Argumente ähneln denen für eine höhere Repräsentation der eingewanderten Deutschen:

Erstens kann eine geringe Vertretung einer bestimmten Gruppe in den politischen Eliten Indiz für deren Benachteiligung im Zugang zu solchen Positionen sein. Dabei sind die möglichen Barrieren sowohl direkter als auch indirekter Art. Sie umfassen etwa die Verteidigung der Machtpositionen durch die bislang Etablierten, Stereotype über eine angeblich geringere Eignung von Frauen oder Menschen aus bestimmten Herkunftsländern für politische Führungsaufgaben, schwächere soziale Netzwerke und ein geringeres Maß der für das politische Engagement hilfreichen ökonomischen Unabhängigkeit.

Zweitens könnte sich eine Bevölkerungsgruppe, die "keinen der ihren" in den Parlamenten und Räten sieht, durch diese Organe nicht oder weniger vertreten fühlen, deren Entscheidungen in geringerem Maß akzeptieren. Nun gibt es bislang wenig Anlass, sich über das Vertrauen der Migranten in die deutsche Demokratie und deren Institutionen Sorgen zu machen. Umfragen zeigen ein hohes Vertrauen in Behörden und beispielsweise die Polizei. In einer für das Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften im Jahr 2009 in Nordrhein-Westfalen durchgeführten Umfrage zeigten sich diesbezüglich kaum Unterschiede zwischen Personen mit beziehungsweise ohne Migrationshintergrund. Nur 16 Prozent der Befragten mit Migrationshintergrund fanden, dass die Politiker der Stadt eher die Interessen der Deutschen und nicht die aller Menschen in ihrer Stadt vertreten. Allerdings war das Vertrauen in die politischen Parteien in der Stadt und in den Stadtrat eher gering. Unter den Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund benannten nur 39 Prozent eine Partei oder Gruppe in der Stadt, die ihren politischen Vorstellungen nahe kam. Hier klafft eine erhebliche Repräsentationslücke. Indem die deutsche Staatsangehörigkeit und damit gleiche politische Rechte immer mehr zur Selbstverständlichkeit werden, könnte die Unzufriedenheit wachsen.

Politische Parteien sind Vermittler zwischen Bevölkerung und Entscheidungsträgern. Ist eine Bevölkerungsgruppe in ihnen kaum vertreten, dann wissen die Parteien und in der Folge auch die Parlamente zu wenig über die Bedürfnisse und Meinungen in dieser Gruppe. Andersherum kann auch die Kommunikation der Entscheidungen von Parlamenten und Stadträten hin zu den Bürgern eingeschränkt sein, wenn Vermittler fehlen, die in den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen Ansehen und Vertrauen genießen. Deutliche Illustration dieser Defizite ist die Abhängigkeit politischer Entscheidungsträger in Deutschland vom Gespräch mit Migrantenorganisationen oder muslimischen Verbänden, wenn sie bestimmte Probleme bearbeiten wollen. Offensichtlich fehlt in den Parlamenten, Stadträten und Regierungen selbst die entsprechende Kompetenz und Repräsentanz.

Schließlich sind Politikerinnen und Politiker mit Migrationshintergrund häufiger Lobby für die Gleichberechtigung und die spezifischen Anliegen der eingewanderten Deutschen und Ausländer. Selbst wenn natürlich nicht jede Politikerin, deren Vater beispielsweise Italiener ist, für die Interessen von Flüchtlingen eintritt, so ist doch insgesamt anzunehmen, dass eigene oder familiäre Migrationserfahrungen das Verständnis für die Anliegen von Migrantinnen und Migranten erhöhen und eine gute Grundlage für eine Kompetenz in der Sache sind. Für weibliche Parlamentsmitglieder ist gut belegt, dass sie insgesamt durchaus spezifische Anliegen und Prioritäten vertreten. Umgekehrt bedeutet dies, dass bei einer starken Unterrepräsentation gerade unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen deren spezifische Anliegen und Bedürfnisse auf der politischen Agenda wahrscheinlich nicht adäquat vertreten sind.

Eine erhöhte Repräsentation der eingewanderten Bevölkerung in den Räten und Parlamenten ist also aus verschiedenen Gründen wünschenswert. Sie ist zudem in der Bevölkerung keineswegs unpopulär. So erklärten in der MMGKom-Umfrage in Nordrhein-Westfalen immerhin 67 Prozent aller Befragten, sie wünschten sich mehr Menschen mit Migrationshintergrund in politischen Führungspositionen; unter den Befragten mit Migrationshintergrund waren es 72 Prozent. Offenbar geht es hier auch um öffentliche Präsenz und Anerkennung - und nicht unbedingt um gruppenspezifische Interessen -, denn nur 37 Prozent der Migrantinnen und Migranten sahen eine erhöhte Zahl von Räten mit Migrationshintergrund als Mittel zu einer besseren Vertretung ihrer Interessen.

Räte und Abgeordnete mit Migrationshintergrund

Noch sind Einwanderer in deutschen Parlamenten und Räten selten, aber in den vergangenen Jahren hat sich die Einwandererpräsenz in deutschen Parlamenten deutlich erhöht. Von den 1825 Mitgliedern der 16 Parlamente der Bundesländer hatten im Sommer 2009 39 einen Migrationshintergrund, nach den Wahlen in Nordrhein-Westfalen sind es Mitte 2010 46. Noch im Jahr 2000 gab es erst 12 Abgeordnete in Landesparlamenten, die einen Migrationshintergrund hatten. Im Bundestag gibt es nun 20 Abgeordnete mit einer eigenen oder familiären Migrationsgeschichte; erst 1994 zogen hier mit Leyla Onur (SPD) und Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) die ersten Repräsentanten der Nachkriegsmigration ein. Auch auf der Ebene der Städte verändert sich das politische Leben: In den Großstädten Nordrhein-Westfalens wurden 2009 fast 80 Politikerinnen und Politiker mit Migrationshintergrund in die Räte gewählt. Eindeutig entwickelt sich hier eine neue politische Elite, und eindeutig verändern sich die Räte und Parlamente in Deutschland.

Ebenso eindeutig aber ist, dass die Zahl der Abgeordneten bei weitem nicht dem Bevölkerungsanteil der Einwanderer entspricht. Nimmt man die westdeutschen Bundesländer und Berlin, dann haben dort etwa 3 Prozent der Landesparlamentarier einen Migrationshintergrund; in der Bevölkerung sind es 22 Prozent. In den Großstädten Nordrhein-Westfalens liegt der Anteil der Räte mit Migrationshintergrund bei etwa 4 Prozent; in der Wahlbevölkerung dieser Städte aber lag zum Zeitpunkt der Kommunalwahl im August 2009 deren Anteil bei 13 bis 20 Prozent.

Zwischen Bundesländern und Städten gibt es große Unterschiede. Es wäre falsch, einen gleichmäßigen Trend zur erhöhten Präsenz von Einwanderern in Räten und Parlamenten anzunehmen. Bei den Bundesländern sticht die Diskrepanz zwischen Stadtstaaten und Flächenstaaten hervor. 30 der im Sommer 2009 39 Landtagsabgeordneten gehörten dem Abgeordnetenhaus Berlins beziehungsweise der Bürgerschaft der Stadtstaaten Hamburg und Bremen an, wo nur 5,8 von Deutschlands 82 Millionen Menschen leben. Im Landtag Nordrhein-Westfalens gab es lange keinen einzigen Abgeordneten mit Migrationshintergrund, erst nach der Wahl 2010 erhöhte sich deren Zahl von null auf sieben. In Baden-Württemberg ist Nikolas Sakellariou der einzige Landtagsabgeordnete, der eine familiäre Migrationsgeschichte hat. Dieses Ungleichgewicht ist nicht Ausdruck einer extremen Konzentration der eingewanderten Bevölkerung. Die Anteile der Deutschen mit Migrationshintergrund sind in den drei Stadtstaaten ähnlich hoch wie in Hessen und Baden-Württemberg.

Starke Ungleichgewichte findet man auch, wenn man die Rolle der politischen Parteien betrachtet. Etwa die Hälfte der Landesparlamentarier mit Migrationshintergrund wurden für Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke gewählt, beide Parteien stellen aber nur 18 Prozent der Abgeordneten in den 16 Parlamenten. Historisch waren es Die Grünen, beziehungsweise damals noch die Alternative Liste in Berlin, die als Erste Einwanderern den Weg in die Parlamente ebneten. 1987 zog Sevim Çelebi in das Berliner Abgeordnetenhaus ein, 1992 folgte Ismail Hakk Kosan, 1995 Rza Baran. Neben dem Engagement der Migranten selbst war das Selbstverständnis der Grünen als einwanderungsfreundliche Partei ein entscheidender Faktor für diese relative Offenheit.

Für die SPD zog als erster überregionaler Abgeordneter Hakk Keskin 1993 in die Hamburger Bürgerschaft ein, 1997 und 1999 folgten einzelne Abgeordnete auch in Flächenstaaten (etwa Mario Capezutto in Baden-Württemberg und Ikbal Berber im Saarland). Gerade die SPD hatte durchaus schon in den 1980er Jahren Mitglieder, die etwa als Gastarbeiter aus der Türkei in die Bundesrepublik gekommen waren. Die Gewerkschaften sowie sozialdemokratisch orientierte Organisationen in den Herkunftsländern stellten eine Brücke zur SPD dar. Lange aber wurden dieses Potenzial und dieser politische Integrationsvorsprung nicht genutzt. Erst in den vergangenen Jahren machen sich ein verstärktes Bemühen der Führungen - aber auch die Ambitionen der Mitglieder mit Migrationshintergrund selbst - in einer verstärkten Präsenz in Parlamenten und Räten deutlich: Nachdem seit 2010 auch im alten industriellen Kernland Nordrhein-Westfalen mit Ibrahim Yetim und Serdar Yüksel zwei Söhne von Einwanderern der SPD-Fraktion im Landtag angehören, ist die Zahl der SPD-Landesparlamentarier mit Migrationshintergrund auf 14 gestiegen.

Sechs Landesparlamentarier der CDU haben einen Migrationshintergrund. Die Zahl von neun CDU-Stadträten mit Migrationshintergrund unter den 679 CDU-Räten in Nordrhein-Westfalens 29 Großstädten signalisiert gleichzeitig, dass die Partei noch am Anfang einer politischen Inkorporation von Einwanderern steht. Immerhin kandidierten 46 Migrantinnen und Migranten für die CDU in diesen Städten, es gibt also durchaus ein Potenzial, das bereit ist, sich im Rahmen eines konservativen politischen Programms zu engagieren.

Auch in der FDP sind politische Repräsentanten mit Migrationsgeschichte noch eine Seltenheit. Ein Landtagsabgeordneter und vier Räte in den 29 Großstädten Nordrhein-Westfalens gehören den Liberalen an. Hintergrund dieser Repräsentationslücke dürfte die Diskrepanz zwischen den sozialen Interessen, als deren Vertreter die FDP gesehen wird, und dem sozialen Profil der eingewanderten Bevölkerung sein. Liberale Akzente in der Migrationspolitik scheinen nicht zu einer hohen Attraktivität der Partei unter politisch ambitionierten Deutschen mit Migrationshintergrund beigetragen zu haben.

Vielleicht am aktivsten um vordere Plätze für Politikerinnen und Politiker mit Migrationshintergrund bemüht hat sich Die Linke. In den Großstädten Nordrhein-Westfalens etwa sind 15 ihrer 97 Stadträte Migrantinnen oder Migranten, der höchste Anteil im Vergleich der Parteien. In den Landtagen hatten Mitte 2009 sieben Abgeordnete der Linken einen Migrationshintergrund. Vermutlich kann die Partei soziale Interessen der durchschnittlich eher schlechter gestellten Migrantenbevölkerung artikulieren und enttäuschte ehemalige Sozialdemokraten für sich gewinnen.

Bei den Kommunalwahlen konnten in Nordrhein-Westfalen 2009 auch zwei Listen Sitze erringen, die überwiegend Einwanderer aufstellten: das "Bündnis für Frieden und Freiheit" in Bonn und die "Bürgerinitiative (BI) Gelsenkirchen". Noch sind solche Listen kein massenhaftes Phänomen. Ihr Auftreten signalisiert aber, dass die großen Parteien sich offenbar nicht hinreichend offen zeigen für diese Wählergruppe und ihr kein ausreichend attraktives Programm anbieten. Denn die Zahl der Kandidatinnen und Kandidaten, die auf überwiegend von Migranten formierten Listen kandidierten, war in mehreren Städten durchaus beachtlich und überstieg gelegentlich die aller Bundestagsparteien zusammengenommen. Hier gibt es ein Potenzial Partizipation einfordernder Bürgerinnen und Bürger.

Über die Effekte der Kandidatur und Wahl von Politikerinnen und Politikern mit Migrationshintergrund und deren Interaktionen mit der Wählerschaft wissen wir noch wenig. Es gibt aber Anzeichen dafür, dass sie zusätzliche Wählerpotenziale mobilisieren können und damit auch zu einer erhöhten Partizipation der eingewanderten Bevölkerung beitragen. In Duisburg etwa erzielte die CDU bei den Kommunalwahlen mit einem türkeistämmigen Wahlkreis-Kandidaten ein besonders gutes Wahlergebnis, in Köln gelang Entsprechendes der SPD mit Politikerinnen und Politikern mit türkischen beziehungsweise portugiesischen Wurzeln.

Politikerinnen und Politiker mit Migrationsgeschichte werden aber sicher nicht überwiegend von Wählerinnen und Wählern mit Migrationshintergrund in die Räte und Parlamente gewählt. Aufgrund der geringen Siedlungskonzentration eingewanderter Gruppen in Deutschland wäre eine "ethnische Mobilisierung", wie sie etwa in den USA durchaus gängig ist und als völlig legitim gilt, nicht erfolgversprechend. Und darüber hinaus ist kaum anzunehmen, dass diese Wählergruppe geschlossen wählt. Deutsche ohne Migrationsgeschichte andererseits sind durchaus bereit, Einwanderer in die Räte und Parlamente zu wählen. Dies zeigen die Wahlergebnisse ebenso wie Antworten in der MMGKom-Befragung in Nordrhein-Westfalen, in der über 70 Prozent ihre Bereitschaft dazu bekundeten.

Die Türkeistämmigen: Vorbild in Sachen politische Integration

Wer sind die gewählten Volksvertreter mit Migrationshintergrund? Blickt man auf die Herkunftskontexte der migrantischen politischen Elite, dann überrascht der sehr hohe Anteil türkeistämmiger Politikerinnen und Politiker. Die so oft aufgrund vermeintlicher Integrationsdefizite oder gar einer unterstellten Integrationsverweigerung gescholtene Gruppe erweist sich im Bereich der Politik als ein Vorbild der Integration.

20 von 39 Landtagsabgeordneten mit Migrationshintergrund stammen aus der Türkei oder haben Eltern, die aus der Türkei nach Deutschland einwanderten. Entsprechendes gilt für 43 von 79 Ratsmitgliedern in den Großstädten Nordrhein-Westfalens. In der Bevölkerung mit Migrationshintergrund dagegen stellt diese Gruppe nur etwa 20 Prozent, unter den von den Statistikern identifizierten Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund bei der Bundestagswahl 2009 machte sie nicht einmal 10 Prozent aus. Wie lässt sich diese starke Präsenz der Türkeistämmigen unter Parlamentariern und Ratsmitgliedern erklären?

Zunächst einmal haben offenbar sehr viele Deutschtürken die Bereitschaft und die Motivation, sich zu engagieren. Dabei könnten die besonders benachteiligte Position der türkeistämmigen Bevölkerung, die Erfahrung kollektiver oder sogar individueller Diskriminierung eine Rolle spielen. In der Literatur wird darüber hinaus gelegentlich angenommen, dass Einwanderer darauf reagieren, welche Karrierewege ihnen eher offen stehen oder verschlossen sind: Politische Karrieren könnten für diejenigen attraktiver sein, denen zum Beispiel eine Karriere in der Wirtschaft versperrt wird.

Zweitens ist die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland eine hoch politisierte Gruppe. Die Erfahrungen der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen im Kontext des Militärputsches von 1980 haben viele geprägt. Etliche Türkeistämmige, darunter viele Kurden, kamen als politische Flüchtlinge nach Deutschland. Erfahrungen in politischen Organisationen im Heimatland oder in Migrantenorganisationen in Deutschland sind ein auch in den deutschen politischen Parteien einsetzbares kulturelles Kapital. Wer politisch interessiert und engagiert ist, ist dies oft in Herkunfts- wie Einwanderungsland.

Die relativen starken Community-Strukturen könnten die Basis für die Entwicklung von Eliten darstellen und auch das Selbstbewusstsein, das für eine politische Karriere notwendig ist, stärken. Sie bieten gleichzeitig Möglichkeiten für eine gezielte Ansprache und Mobilisierung der Gruppe, da es beispielsweise breit gelesene Zeitungen speziell für die Türkischsprachigen gibt. Letzteres gilt ansonsten nur für die russischsprachige Bevölkerung Deutschlands.

Schließlich haben die politischen Parteien unter Umständen ein besonderes Interesse daran, türkeistämmige Kandidatinnen und Kandidaten aufzustellen. Unterstellt man, dass gerade die türkeistämmige Wählerschaft ein starkes Gruppenbewusstsein hat, und dass gerade sie auf die Aufstellung von Kandidaten mit gleichem Herkunftshintergrund positiv reagieren wird, könnte eine solche gezielte Strategie attraktiv sein.

Insgesamt sind die Ursachen von Mobilisierungsunterschieden zwischen Migrantengruppen noch wenig erforscht. Arbeiten zu asiatischen Gruppen in den USA verweisen darauf, dass langfristig im Herkunftsland entstandene Einstellungen zum Staat und zur Politik in diesem Fall die Distanz zum politischen Engagement verstärken können - ähnlich könnten Traditionen des Misstrauens in Staat und Politik auch unter osteuropäischen Migrantinnen und Migranten weiter wirken.

Nicht nur der hohe Anteil türkeistämmiger Deutscher in der neuen politischen Elite ist überraschend. Entgegen gängigen Erwartungen ist die neue politische Elite zudem relativ weiblich. In Nordrhein-Westfalen fanden wir 37 Frauen unter 79 Räten mit Migrationshintergrund, dies sind 46 Prozent. Von den 39 Landtagsabgeordneten mit Migrationshintergrund im Sommer 2009 waren 17 - oder 44 Prozent - weiblich, höhere Anteile als unter den Parlamentariern insgesamt.

Beachtlich schließlich ist, dass zumindest unter den Ratsmitgliedern (in unserer Untersuchung, also in den Großstädten Nordrhein-Westfalens) und Landesparlamentariern über die Hälfte Einwanderer der ersten Generation sind, also Menschen, die nicht in Deutschland geboren wurden. Dies ist insofern nicht selbstverständlich, als die Eingewöhnung von Einwanderern in ein politisches System zumeist als längerfristiger Prozess gesehen wird. Hier geht es ja um so vielfältige Aspekte wie das Verständnis der herrschenden Regeln und Prozeduren, die Identifikation mit landesspezifischen politischen Programmen und Akteuren, den Aufbau von Netzwerken, die eine politische Karriere unterstützen können, und natürlich die Einbürgerung. Offenbar gelingt es einer beachtlichen Zahl von Einwanderern, solche keineswegs niedrigen Hürden zu überwinden.

Die Inkorporation von Einwanderern in ein politisches System ist ein langfristiger Prozess. In den USA werden bis in die dritte Generation Unterschiede in der politischen Partizipation von Menschen mit familiärer Migrationsgeschichte festgestellt. Diese haben vielfältige Ursachen. Es ist generell so, dass Menschen mit geringer formaler Bildung und einem niedrigen Einkommen - und dies trifft überdurchschnittlich auf die eingewanderte Bevölkerung zu - weniger als Andere in formellen Formen wie Wahlen oder als Mitglieder politischer Parteien am politischen Prozess teilnehmen. Hinzu kommen spezifische Barrieren, zu denen die Sprache, aber auch negative Einstellungen gegenüber bestimmten Migrantengruppen oder die Verteidigung von Machtpositionen durch etablierte Akteure gehören. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre und die zum Teil überraschende Zusammensetzung der migrantischen politischen Elite zeigen, dass eine bemerkenswerte Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund die Fähigkeiten und das Engagement aufbringen, um derartige Barrieren zu überwinden.

Dennoch wird - wie die Erfahrungen in anderen Ländern und die Erfahrung der Frauen zeigen - Chancengleichheit wohl nicht im Selbstlauf beziehungsweise allein durch die Initiative der Migrantinnen und Migranten selbst erreicht werden. Es bleibt abzuwarten, ob politische Organisationen einschließlich der politischen Parteien bereit sein werden, sich auch durch gezielte Interventionen weiter für Menschen mit Migrationshintergrund zu öffnen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. "Vielfalt tut gut" heißt ein Bundesprogramm des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in Deutschland, online: www.vielfalt-tut-gut.de (30.9.2010).

  2. Vgl. Manuela Bojadijev, Die windige Internationale: Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster 2008; Mark J. Miller, Foreign Workers in Western Europe. An Emerging Political Force, New York 1981.

  3. Arbeitsprogramm 2010 des SPD-Parteivorstandes vom 18.1.2010, online: www.spd.de/linkableblob/3750/data/
    20100118_arbeitsprogramm_2010_
    des_spd-parteivorstandes.pdf (30.9.2010).

  4. So Hermann Gröhe, Generalsekretär der CDU, auf eine Bürgeranfrage am 26.11.2009, online: www.abgeordnetenwatch.de/hermann_groehe-575-37607.html (30.9.2010).

  5. Vgl. die Pressemitteilung des Bundeswahlleiters, 5,6 Millionen Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund, vom 11.9.2009, online: www.presseportal.de/pm/74247/der_
    bundeswahlleiter (30.9.2010). Vermutlich wird gerade die Zahl der Aussiedler hier unterschätzt.

  6. Dies war beispielsweise in Bielefeld, Leverkusen, Wuppertal und Solingen der Fall, vgl. Karen Schönwälder/Christiane Kofri, Diversity in Germany's Political Life? Immigrants in City Councils, Max Planck Institute for the Study of Religious and Ethnic Diversity, Working Paper, Göttingen 2010.

  7. Vgl. Anne Philipps, The Politics of Presence, Oxford 1995; Jane Mansbridge, Should Blacks Represent Blacks and Women Represent Women: A Contingent "Yes", in: Journal of Politics, 61 (1999), S. 628-657.

  8. Vgl. Bertelsmann Stiftung, Zuwanderer in Deutschland. Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von Menschen mit Migrationshintergrund (im Frühjahr 2009), o.O., 2009, S. 35, online: www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms
    _28825_28831_2.pdf (30.9.2010).

  9. Bei dieser telefonisch durchgeführten Umfrage (im Folgenden als MMGKom-Umfrage) wurden im August 2009 1026 Wahlberechtigte bei der Kommunalwahl, also deutsche und EU-Staatsangehörige ab 16 Jahren, befragt. Die Befragten hatten etwa zur Hälfte einen Migrationshintergrund.

  10. Die Siebenbürgische Zeitung artikulierte kürzlich Sorgen über eine fehlende Vertretung wichtiger Aussiedlergruppen im 2009 gewählten Bundestag, vgl. "Bundestag ohne Spätaussiedlervertreter" vom 7.10.2009.

  11. Vgl. Pippa Norris, The Impact of Electoral Reform on Women's Representation, in: Acta Politica, 41 (2006) 2, S. 197-213.

  12. Eigene Berechnungen. Von einem Migrationshintergrund ist hier die Rede, wenn die Betreffenden selbst nach Deutschland eingewandert sind oder einer ihrer Eltern einwanderte. Den hier gemachten Angaben liegen umfangreiche Recherchen zugrunde, dabei kann aber nicht ganz ausgeschlossen werden, dass es weitere Abgeordnete gibt, deren Migrationshintergrund noch nicht bekannt ist.

  13. Streng genommen haben auch Abgeordnete wie Hans Raidel (Mitglied des Bundestages von 1990-98 und 2002-09) und Detlev von Larcher (1990-2002), die in Rumänien geboren wurden, einen Migrationshintergrund.

  14. Vgl. K. Schönwälder/C. Kofri (Anm. 6). Einbezogen sind hier die 29 Städte in Nordrhein-Westfalen mit mehr als 100000 Einwohnern.

  15. Eigene Berechnungen für Mitte 2009, Bevölkerungszahlen auf Basis des Mikrozensus 2009, vgl. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Ergebnisse des Mikrozensus 2009. Fachserie 1, Reihe 2.2, Wiesbaden 2009. Alle Angaben zu den Landesparlamenten beziehen sich, wo nicht anders vermerkt, auf das Stichdatum Juli 2009.

  16. Vgl. die Tabelle in K. Schönwälder/C. Kofri (Anm. 6). Dies ist der Bevölkerungsanteil der deutschen und EU-Staatsangehörigen ab 16 Jahren, dem Alter, das zur Teilnahme an Kommunalwahlen berechtigt.

  17. In früheren Wahlperioden hatte es bereits einzelne Abgeordnete mit Migrationshintergrund gegeben.

  18. Für sie war David McAllister 1998 der erste Landesparlamentarier mit Migrationshintergrund, es folgte 2002 Milad El-Khalil in Sachsen.

  19. Nach dem Aufrücken Philipp Röslers in die Bundesregierung ist Mark Ella der einzige regionale FDP-Abgeordnete mit Migrationshintergrund.

  20. In weiteren Städten kandidierten solche Listen, so die Alternative Bürgerinitiative (ABI) Köln, die Duisburger Alternative Liste oder die Interkulturelle Wählerinitiative in Recklinghausen.

  21. In Gelsenkirchen zum Beispiel kandidierten 32 Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund für die BIG und nur elf weitere für die fünf Bundestagsparteien. In Recklinghausen kandidierten 26 der 32 Kandidaten mit Migrationshintergrund für die Interkulturelle Wählerinitiative (IWI).

  22. Vgl. Karen Schönwälder/Janina Söhn, Siedlungsstrukturen von Migrantengruppen in Deutschland: Schwerpunkte der Ansiedlung und innerstädtische Konzentrationen, WZB Discussion Paper, Nr. SP IV 2007-601. Genaue Zahlen für Wahlkreise existieren nicht. Vermutlich gibt es heute selbst bei Kommunalwahlen kaum einen Wahlkreis, in dem die Wählerschaft mit Migrationshintergrund die Mehrheit stellt.

  23. In welchem Maße Personen mit Migrationshintergrund Kandidaten mit ähnlichen Erfahrungen wählen, wissen wir nicht. Welche Parteien sie wählen, ist ebenfalls nicht umfassend bekannt. In den gängigen Befragungen nach Verlassen der Wahllokale, den so genannten exit polls, wird im Allgemeinen nicht nach Migrationshintergrund differenziert. Über Parteiidentifikation und Wahlabsichten liegen wenige Informationen vor, vgl. Andreas M. Wüst, Wahlverhalten und politische Repräsentation von Migranten, in: Der Bürger im Staat, 56 (2006) 4, S. 228-234; Martin Kroh/Ingrid Tucci, Parteibindung von Migranten, in: Wochenbericht des DIW, (2009) 47, S. 821-827; Martina Sauer, Teilhabe und Orientierungen türkeistämmiger Migrantinnen und Migranten in Nordrhein-Westfalen. Ergebnisse der zehnten Mehrthemenbefragung 2009, Essen 2009.

  24. Vgl. Lise Togeby, The political representation of ethnic minorities. Denmark as a deviant case, in: Party Politics, 14 (2008), S. 325-343, hier: S. 340; Taeku Lee, Race, Immigration, and the Identity-to-Politics Link, in: Annual Review of Political Science, 11 (2008), S. 457-478.

  25. Vgl. Kurt Salentin, Ziehen sich Migranten in "ethnische Kolonien" zurück?, in: Klaus J. Bade/Michael Bommes/Rainer Münz (Hrsg.), Migrationsreport 2004. Fakten - Analysen - Perspektiven, Frankfurt/M.-New York 2004.

  26. Zu positiven Effekten ethnischer Organisiertheit vgl. Jean Tillie, Social Capital of Organisations and their Members. Explaining the Political Integration of Immigrants in Amsterdam, in: Journal of Ethnic and Migration Studies, 30 (2004) 3, S. 529-541.

  27. Vgl. Janelle S. Wong/Pei-te Lien/M. Margaret Conway, Activity amid Diversity: Asian American Political Participation, in: Jane Junn/Kerry L. Haynie (eds.), New Race Politics in America, Cambridge 2008, S. 70-94, hier: S. 88.

  28. Für die Länderparlamente wird ein Frauenanteil von durchschnittlich 33 Prozent und für Städte über 100000 Einwohner von 32 bis 36 Prozent genannt, vgl. Waltraud Cornelißen (Hrsg.), 1. Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland. Erstellt durch das Deutsche Jugendinstitut e.V. in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt, München 2005, S. 373, S. 376.

  29. Vgl. S. Karthick Ramakrishnan, Democracy in Immigrant America. Changing Demographics and Political Participation, Stanford 2005; Karen Schönwälder, Einwanderer als Wähler, Gewählte und transnationale Akteure, in: Politische Vierteljahresschrift, 50 (2009) 4, S. 832-849.

Dr. phil. habil., geb. 1959; Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften, Hermann-Föge-Weg 11, 37073 Göttingen. E-Mail Link: schoenwaelder@mmg.mpg.de