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Neue Deutsche, Postmigranten und Bindungs-Identitäten. Wer gehört zum neuen Deutschland? | Anerkennung, Teilhabe, Integration | bpb.de

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Neue Deutsche, Postmigranten und Bindungs-Identitäten. Wer gehört zum neuen Deutschland?

Naika Foroutan

/ 17 Minuten zu lesen

Das "neue Deutschland" wird sich in der Zukunft nicht mehr durch Herkunft, Genetik und Abstammungsstrukturen definieren können. Deutschsein wird eine Chiffre sein für die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Land.

Einleitung

Jeder fünfte Einwohner Deutschlands, darunter jedes dritte Kind unter sechs Jahren, hat einen Migrationshintergrund. In Ballungsräumen wie Frankfurt oder Berlin trifft dies bereits auf über 60 Prozent der Kinder zu, die dieses Jahr eingeschult wurden. Wenn Pluralität für Kinder und Jugendliche zur Normalität wird, ist es unzeitgemäß, über einen Migrantenschlüssel für Schulklassen nachzudenken - wie auch Forderungen nach einem Zuwanderungsstopp für "fremde Kulturkreise" in Zeiten der Globalisierung anachronistisch wirken. Vielmehr wäre es angebracht, in einer Zukunftsdebatte über einen veränderten Blick auf die hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund nachzudenken und zu fragen, ob es nicht an der Zeit ist, diese im Sinne einer fraglosen Zugehörigkeit als deutsche Bürger anzusehen, gar als "Neue Deutsche"? Interessanterweise wird mit dem Gedanken der Globalisierung vorrangig die Öffnung der weltweiten Märkte verbunden. Dagegen ist noch nicht verinnerlicht, dass mit einer Entgrenzung der Märkte nicht nur Güter freier beweglich sind, sondern auch Menschen. Transnationale Migration, im Rahmen derer Menschen in andere Länder ein- und auswandern, ist ein selbstverständliches Zeichen der globalisierten Gegenwart.

Wo Migration auch mit settlement verbunden wird, wandelt sich die Bevölkerungsstruktur - nicht nur demografisch und soziostrukturell, sondern auch identitär und ideell. Spätestens in der zweiten Generation der Einwanderung stellt sich ein Moment ein, in dem identitäre Verortung nicht mehr eindimensional zu einem Herkunftsland vorgenommen werden kann. Während für die meisten Migranten der ersten Generation ein Herkunftsbezug durch eine aktive Migrationserfahrung bestehen bleibt und in vielen Fällen mit einer zumindest emotionalen Rückkehroption gekoppelt wird, enthält im Falle der Nachfolgegenerationen der Herkunftsbezug und der Gedanke der "Rückkehr" bereits einen Moment von invented tradition. Bei einem Drittel der Menschen mit Migrationshintergrund ist Migration sogar keine selbsterlebte Erfahrung mehr. Sie bleibt jedoch als Element der biografischen Kernnarration bestehen - entweder durch die Familienlegende oder durch außerfamiliäre Zuschreibungen, bedingt durch phänotypische Merkmale wie Aussehen, Akzent, Kleidung oder Namen.

Vom Ausländer zur Person mit Migrationshintergrund

Deutschlands "Gesicht" wandelt sich stetig, was zu Verunsicherungen in der Bezeichnungspraxis führt. Die herkunftsdeutsche Bevölkerung weiß häufig nicht, wie sie sich selbst oder jene bezeichnen soll, die lange Jahre als "Ausländer" oder "Fremde" galten und nun offensichtlich zu Deutschland gehören wollen und sollen. Immer häufiger hört man zur Selbstbeschreibung ironisierend den Begriff "Bio-Deutsche", da "autochthone Deutsche" zu wissenschaftlich und "Deutsch-Deutsche" zu redundant klingt. Hingegen erzeugt der Begriff "echter Deutscher" einen ausgrenzenden Effekt, da er die Menschen mit Migrationshintergrund offensichtlich als "nicht echte" Deutsche kennzeichnet. Immer mehr Menschen nehmen mittlerweile für sich in Anspruch, deutsch zu sein, auch wenn sie "anders" aussehen, "fremd" klingende Namen oder eine andere Religionszugehörigkeit haben. Trotzdem gehören die Menschen mit Migrationshintergrund im öffentlichen Bewusstsein eines Großteils der Bevölkerung noch immer "nicht richtig" dazu. Mit dem Wort Migration ist eine Neuzuwanderung verbunden, der Migrationshintergrund markiert daher seine Träger als tendenziell "neuer" als jene ohne und in der öffentlichen Wahrnehmung auch als tendenziell fremd, auch wenn sie die deutsche Staatsangehörigkeit in dritter und vierter Generation besitzen. "Wer irgendwo neu ist, sollte sich erst mal mit weniger zufrieden geben", sagen 53,7 Prozent der Bevölkerung laut der Studienreihe "Deutsche Zustände" vom Bielefelder Institut für Konflikt und Gewaltforschung (IKG). Dabei bleibt offen, wie lange dieses "Neu-Sein" eigentlich Bestand hat und welche Effekte es für das Selbstverständnis als deutscher Staatsbürger mit sich bringt. Tatsächlich beschreibt das Wort Migrationshintergrund in seinem analytischen Kontext die Lebensrealität der Angesprochenen korrekter als nationale Kategorien wie etwa "Türke", "Spanier", "Chinesen", die nur eine einseitige Herkunftsverortung vornehmen. Es ist auch exakter als das Wort "Migrant" oder "Ausländer", da ersteres auf jene nicht zutrifft, die nicht aktiv zugewandert sind und letzteres jene falsch bezeichnet, die eine deutsche Staatsangehörigkeit haben. Allerdings, so neutral der Begriff auch im Entstehungsmoment definiert wurde, verbindet sich mit ihm durch den öffentlichen Diskurs eine Bezeichnungspraxis, der eine soziale Praxis folgt, die vorwiegend Differenz-Momente hervorhebt und die in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem mit Defiziten und Problemen verbunden wird.

Postmigranten

Es fehlt derzeit an einer etablierten Bezeichnung, welche die nationale und kulturelle Mehrfachzugehörigkeit und -identifikation von Individuen wertneutral beschreibt. Während Mehrfachzugehörigkeit im identitären Kontext als postmoderne Normalität anerkannt wird, gilt für die nationalen, ethnischen und kulturellen Zugehörigkeiten zumindest in Deutschland noch immer das Kriterium der einseitigen Entscheidung, die mit dem Gedanken der Assimilation als Vision einer gelungenen Integration einhergeht. Versuche, Ersatzdefinitionen zu finden, hat es bereits 1994 mit dem Begriff "Andere Deutsche" gegeben, um zu verdeutlichen dass "die Gültigkeit des Anspruchs, deutsch zu sein, sich nicht an der Erfüllung bestimmter Kriterien der Physiognomie, der Abstammung oder auch der 'kulturellen' Praxis bemisst". Michael Wolffsohn spricht von "Paradigma-Neudeutschen" , und der Kabarettist Alparslan Marx richtete sogar eine Webseite unter dem Namen "D-Länder" ein, um nach einem gemeinsamen Namen zu suchen.

Die Verbundenheit mit Deutschland als Heimat findet auf mehreren Ebenen statt. Die kognitive und pragmatische Bezeichnung von Deutschland als Heimat, als "dort, wo mein Haus steht, und dort, wo meine Familie wohnt", kann dabei teilweise die emotionale Bindung an einen Sehnsuchtsort in der Ferne, der ebenfalls mit Heimat assoziiert wird, nicht ersetzen. Dies liegt an dem der Migration inhärenten Moment, der immer mit dem Verlassen eines Zuhauses oder einer Heimat einhergeht. Diese teilweise nur tradierte Vergangenheit wird im Kontext der familiären Erzählstruktur und der nicht erfahrenen Alltagsentzauberung zu einem Wunschort stilisiert, der in jedem Moment der Unzufriedenheit eine virtuelle Rückzugsoption anbietet - auch wenn diese realiter nicht gegeben ist. Zusätzlich wird von Seiten der ersten Generation der Einwanderer, der Familie oder Community teilweise Druck auf die Folgegenerationen aufgebaut, sich den ursprünglichen Herkunftsländern nicht zu entfremden.

Die zum Teil fehlende emotionale Verbundenheit mit Deutschland liegt allerdings auch an Diskriminierungserfahrungen sowie mangelnder Aufnahmebereitschaft von Seiten der autochthonen Gesellschaft, welche noch immer teils bewusst, teils unbewusst das "Deutschsein" auf phänotypische Merkmale reduziert. Es liegt aber auch an den spezifischen Kriterien der deutschen nationalen Identität, die es auch Herkunftsdeutschen nicht leicht macht, affirmativ die Nationalitätszugehörigkeit zu artikulieren. Eine Zugehörigkeit zu Deutschland wird als etwas suggeriert, das sich "Migranten" erst erarbeiten müssen. Gleichzeitig ist festzustellen, dass trotz Fortschritten in der strukturellen Integration (Bildung und Arbeit) eine kulturelle Integration über den Verfassungspatriotismus hinaus erwartet wird, die an Anpassungen an eine nicht näher definierbare deutsche Leitkultur gekoppelt wird.

Gerade für jenes Drittel der Postmigranten, die vom Mikrozensus als "Menschen ohne eigene Migrationserfahrung" erfasst werden, ist Integration ohnehin kein Diskussionskriterium ihrer Selbstbeschreibung. Migrationshintergrund und Mehrsprachigkeit werden vor allem als Bereicherung wahrgenommen. Für diese Postmigranten sind Deutsch- oder Integrationskurse etwas, das bestenfalls noch ihre Eltern betreffen könnte, eher ihre Großeltern und eben neu Zugewanderte. Bei ihnen ist stattdessen verstärkt ein mehrkulturelles Selbstbewusstsein zu beobachten, ohne ihre "Wurzeln" vergessen zu wollen, samt einer für sich selbst angenommenen postintegrativen Perspektive: Sie sind längst in dieser Gesellschaft angekommen, zumindest aus ihrer Sicht und aus der Sicht jenes Teils der Bevölkerung, der in Deutschland ein plurales, heterogenes und postmodernes Land sieht.

Zugehörigkeit, Angehörigkeit, Authentizität

Die Zugehörigkeit zu Deutschland definiert sich jedoch nicht nur über die eigene Fähigkeit zur Identifikation mit dem Mehrheitskollektiv, sondern auch über den Grad und die Häufigkeit der Anerkennung durch eben jenes. Erst diese erlaubt eine Identifikation im Sinne der Angehörigkeit. Und erst der Dreiklang von Anerkennung, fragloser Zugehörigkeit und Angehörigkeit lässt einen glaubwürdigen, authentischen Moment von "Deutschsein" entstehen.

Dabei stellen gerade in Einwanderungsgesellschaften statische Ansichten auf identitäre Kernnarrationen wie Kultur oder Nation Exklusionsmechanismen her, deren Überwindung für die soziale Kohäsion solcher Patchwork-Gesellschaften notwendig ist. Gerade im Falle Deutschlands stellen sich hierbei multiple Überwindungshürden auf. Während die deutsche Identität als etwas Exklusives angeboten wird, dessen Erlangung mit Hürden wie Sprachkompetenz, Landeskunde und Absage an ehemalige Herkunftsländer verbunden wird, ist nach Erlangung dieses "Ritterschlags" weder die Anerkennung durch die autochthone Gesellschaft noch eine authentische Verbundenheit mit dieser nationalen Identität gewährleistet. Dies ist auch eine Erklärung dafür, warum viele der Menschen mit Migrationshintergrund bei der Frage nach ihrer Zugehörigkeit problemlos die Stadt nennen, aus der sie kommen. Ihre Selbstbezeichnung als Berliner, Hamburger oder Schwabe sehen sie als faktisch und authentisch an, während sie die Selbstbezeichnung als "Deutsche" eher als Konstruktion oder künstlich empfinden, da sie diese immer erklären müssen.

Die Selbstbezeichnung muss mit der Fremdzuschreibung korrespondieren, sonst entstehen Unschlüssigkeiten in der personalen Identität. Wenn eine Person, die phänotypisch als asiatisch, arabisch oder afrikanisch markiert wird, in ihrer eigenen Wahrnehmung deutsch ist, gelingt ihr die Selbstbezeichnung als "Deutsche" gegenüber der Mehrheitsgesellschaft immer nur mit einer anhängenden Erklärung: "Ich bin deutsch, aber mein Großvater kam aus Marokko." Es ist die fraglose Zugehörigkeit und somit die Authentizität (im Sinne von Echtheit und Glaubwürdigkeit), die jenen Menschen mit Migrationshintergrund verwehrt wird, die durch äußere Zuschreibung zunächst als nicht-deutsch gesehen werden - was immer "Deutschsein" heutzutage auch sein mag - und die zu unterschiedlichen Reaktionsmechanismen bei diesen Menschen führt: von Rückzug und Apathie über Wut und Aggression bis hin zu Trotz und selbstbewusster Einforderung von Teilhabe.

Zumindest das Bezeichnungsdilemma könnte in Anlehnung an die im angloamerikanischen Raum etablierte Bezeichnungspraxis der hyphenated identities (Bindestrich-Identitäten) aufgefangen werden, indem durch eine affirmative Nennung der multiple Herkunftskontext benannt wird: Diese können auch als Bindungs-Identitäten bezeichnet werden, da sie eine wie auch immer geartete emotionale oder staatsbürgerliche Bindung an bestimmte Herkunftskontexte signalisieren. Bindungs-Identitäten wie Deutsch-Türken oder Türkei-Deutsche, Deutsch-Russen oder Russland-Deutsche würden den Deutsch-Deutschen die Möglichkeit geben, Unsicherheiten in der Nennung zu umgehen, aber auch dem Nenner den deskriptiven Zugang zu seinen multiplen Erfahrungskontexten in der Selbstbezeichnung erleichtern und die stete Erklärung ersparen. Dabei kann die Positionierung der Herkunftsländer verdeutlichen, welcher Zustand der Herkunftsbezogenheit vorliegt. Da die Wortbildungsregeln der deutschen Sprache besagen, dass bei Zusammensetzungen das am Ende stehende Wort die wesentliche Bedeutung trägt, würde die Bezeichnung Türkei-Deutsche eine Person beschreiben, die sich als deutsch sieht und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, aber gleichzeitig einen türkischen Migrationshintergrund hat. Umgekehrt würde der Begriff Deutsch-Türke signalisieren, dass die Person sich als türkisch, aber in Deutschland lebend bezeichnet. Schwieriger wird es bei nicht erprobten Bindestrich-Identitäten: Während die Bezeichnung Deutsch-Iranerin noch recht flüssig klingt, hört sich Iran-Deutsche etwas holprig an, desgleichen gilt für Deutsch-Spanier und Spanien-Deutscher.

In Zeiten sich ständig bereichernder Wortschätze darf man die Fähigkeit der Etablierung von Bezeichnungen nicht unterschätzen. Auch das Wort Migrationshintergrund war vor fünf Jahren noch neu, obwohl es wesentlich sperriger als Türkei-Deutscher oder Libanon-Deutsche klingt. Hier liegt es auch an Signalen aus der autochthonen Gesellschaft, die Öffnung der Begrifflichkeit für ein "Deutschsein" zu ermöglichen, dass multiple Zuschreibungsmomente normalisiert. Vor allem muss der Moment der Bindung zur (neuen) Heimat erleichtert und beidseitig internalisiert werden - er muss irgendwann authentisch werden. Es ist an der Zeit, eine Bezeichnungspraxis zu etablieren, welche die hybride Alltagsrealität nicht nur von Menschen mit Migrationshintergrund, sondern auch eines immer größer werdenden Teils der globalisierten deutsch-deutschen Bevölkerung erfasst.

Wer sind die Neuen Deutschen?

Die Bezeichnung "Neue Deutsche" könnte in diesem Kontext zunächst einmal als Beschreibungsangebot dienen für jene Menschen, die über eine deutsche Staatsbürgerschaft und einen Migrationshintergrund verfügen. So liest man immer wieder in Interviews mit postmigrantischen Künstlern diese lapidar formulierte Selbstbeschreibung: "Wir sind nicht mehr die Türken, die Araber, die Afrikaner, die unsere Eltern vielleicht waren. Wir sind die neuen Deutschen." Songs von postmigrantischen deutschen Rappern verweisen auf die Dilemmata, aber vor allem die Ressourcen der mehrkulturell orientierten Jugendlichen und ihr innovatives Potenzial für die kulturelle Entwicklung der Gesellschaft. Sie heben damit das emanzipatorische Moment der hybriden Lebensführung einer Generation hervor, die mit ihren eigenen Selbstentwürfen der Gesellschaft längst vorlebt, was die Öffentlichkeit noch diskutiert. Aber auch für den Fußball scheint die Bezeichnung "Neue Deutsche" zu greifen. Ebenso ist er bereits in einigen Blogs zu finden.

Das zentrale Dilemma des Begriffes ist jedoch, dass er, wenn er nur für Menschen mit Migrationshintergrund etabliert oder mit Zuwanderung assoziiert wird, selbst wiederum eine Differenzmarkierung vornimmt, weil er die diskursive Trennungslinie zwischen multiethnischen und monoethnischen Bürgern Deutschlands reproduziert. Weiterhin macht er einen Unterschied zwischen jenen Einwohnern mit Migrationshintergrund, die einen deutschen Pass haben, und jenen, die die deutsche Staatsbürgerschaft nicht besitzen.

Unvermeidlich ist bei der Nennung des Begriffs "Neue Deutsche" auch die Frage danach, wer die "alten" Deutschen seien. In Anlehnung an die Untersuchungen des IKG könnte hier der Begriff der "alteingesessenen Deutschen", die für sich Etabliertenvorrechte reklamieren, aufgegriffen werden: "Etabliertenvorrechte umfassen die von Alteingesessenen gleich welcher Herkunft beanspruchten Vorrangstellungen, die gleiche Rechte vorenthalten und somit die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Gruppen verletzen." Trotzdem erscheint die Trennung in "neue" versus "alte" Deutsche entlang ethnischer oder kultureller Markierungen oder dem Kriterium der Zuwanderung kulturalisierend. Man könnte die ethnische Differenzmarkierung des Begriffes auch entschärfen, indem die Bezeichnung "Neue Deutsche" für jene Generation herangezogen wird, die vorrangig nach dem Mauerfall im wiedervereinten Deutschland sozialisiert wurde. Die "Neuen Deutschen" wären demnach eine neue Generation von Deutschen. Dann jedoch würde eine Grenzmarkierung zwischen jung und alt gesetzt, was auch eine Verkürzung wäre.

Denkbar wäre es daher, die "Neuen Deutschen" einer Ideenwelt zuzuordnen - einer Betrachtungsweise, die mit einem neuen Blickwinkel einhergeht: Deutschland als Einwanderungsland, global player, politisch normativer Friedensakteur. Das postmoderne Deutschland als plurales, multiethnisches, vielfältiges Bürgerland. In diesem Sinne wären die "Neuen Deutschen" die Bürger eines hybriden, neuen Deutschland, das es in seiner heterogenen Komposition schon längst gibt. Die Trennlinie würde entlang einer Haltung und Einstellung verlaufen. Hier wäre der Begriff in einer gesellschaftspolitischen Arena eingebettet und könnte als ein postmodernes Konstrukt verstanden werden, um Identitätsbildungsprozesse als prinzipielle Inklusionsprozesse zu verstehen. Er könnte verdeutlichen, dass die ehedem ethno-kulturellen Zuschreibungskriterien für "deutsch" nicht die reale Bevölkerungsstruktur und Zusammensetzung des Landes widerspiegeln, sondern auf essenzialisierenden Konstruktionen von Kultur, Nation und Ethnie beruhen. Damit wären noch immer nicht die strukturellen Probleme eines postmodernen Einwanderungslandes gelöst. Es wird weiterhin Bildungsproblematik, Sozialtransfers und Kriminalität in Deutschland geben. Nur wenn die Zugehörigkeit nicht mehr in Frage steht, können diese Probleme in Abhängigkeit von Sozialstrukturen diskutiert werden und nicht in Verbindung mit der ethnisierenden oder kulturalisierenden Frage nach deutsch oder nicht-deutsch? "Wenn jemand 'dazugehört', kann dieser Jemand übrigens durchaus Probleme bereiten. Auch die Insassen der Strafanstalten, jedweder Konfession, gehören zu Deutschland, die Junkies gehören zu Deutschland, die Bettler, die Buddhisten, die Millionäre und die Stripperinnen. Angela Merkel ist auch die Kanzlerin der Alkoholiker, der Exhibitionisten und der Bettnässer, oder wollen wir die alle ausbürgern? Will allen Ernstes irgendwer Leute mit deutschem Pass zu Deutschen zweiter Klasse erklären, nur, weil sie die falsche Religion haben?"

Die Idee, Deutschland neu zu denken, ist weder häretisch, noch führt sie dazu, dass das Land sich abschafft. Vielmehr reiht sich dieser Gedanke in vielfältige Visionen ein, die mit der Idee Deutschlands einhergehen: Deutschland war im kühnsten Moment seiner Entstehung eine politische Vision, eine politisch weltoffene Idee, die nicht an ethnische Herkunft und Exklusivität gebunden war. In der Debatte über Grundrechte in der Frankfurter Paulskirchenverfassung erklärte der Berliner Abgeordnete Wilhelm Jordan: "Jeder ist ein Deutscher, der auf dem deutschen Gebiet wohnt (...) die Nationalität ist nicht mehr bestimmt durch die Abstammung und die Sprache, sondern ganz einfach bestimmt durch den politischen Organismus, durch den Staat. Das Wort 'Deutschland' wird fortan ein politischer Begriff." Die nationale Identität basierte nicht auf ethnischen oder kulturellen Merkmalen. Wie in Preußen auch, galt ein territorialer Bezugsrahmen: Die legitimen Einwohner Preußens waren deutsch-, polnisch-, litauisch-, sorbisch- oder französischsprechend. Es gab weder eine ethnische Konstruktion von Zugehörigkeit noch eine sprachliche Einheit, obwohl August Wilhelm von Schlegel und Johann Gottlieb Fichte den Versuch unternommen hatten, die Sprache als Kategorie natürlicher geistiger Vergemeinschaftung zu etablieren. Auch Johann Gottfried Herder sah in der gemeinsamen Sprache die Möglichkeit, eine Gemeinschaft zu konstituieren, die der deutschen Nation eine Existenz jenseits der Schaffung eines staatlichen Rahmens ermöglichen sollte. Die deutsche Gemeinschaftsbildung sollte über eine gemeinsame Kultur erfolgen. Dieser Gedanke war zwar kulturell exklusiv, erlaubte aber eine über die Staatengrenze hinausgehende identitäre Verbundenheit mit späteren deutschsprachigen Nationen. Dennoch: Die Suche nach dem, was letztlich das Deutschsein definierte, kulminierte in rassischen und genetischen Definitionen und erschwerte somit den Zugang zu dieser Frage nachhaltig.

Die nicht zu greifende "deutsche Leitkultur" wird in Zeiten der gesellschaftlichen Verunsicherung durch Finanzkrise, Arbeitsplatzverlust und demografischen Wandel immer häufiger herbeigesehnt, das wenigstens eine identitäre Konstante darstellen könnte - als letzte vermeintlich stabile Ressource. Leider lässt sie sich in ihrer fundamentalen "Luftigkeit" nur greifen anhand der Markierung jener, die scheinbar nicht dazugehören. Wenn heutzutage schon Homo-Ehe und Patchwork-Familien in die deutsche Leitkultur integriert werden müssen, dann bitte nicht noch den Islam.

Neues Deutschland

Der längst eingetretene identitäre Wandel ist eine alltägliche Banalität, in Zahlen messbar und für die Zukunft prognostizierbar. Auch wenn sich im Moment ein Großteil der Deutschen die Zeit vor dem Anwerbeabkommen mit der Türkei im Jahr 1961 herbeizusehnen scheint, so wird das nicht passieren. Abgesehen davon, dass für den anderen Großteil diese Zeit nicht das "goldene Zeitalter" (Thilo Sarrazin) darstellt, sondern ein vermieftes, biederes, geschlossenes, schlechtgelauntes und getrenntes Deutschland. Im heutigen Deutschland umarmen sich sogar die Männer zur Begrüßung, während sie ihren eigenen Vätern immer noch nur steif die Hand reichen, man sitzt abends draußen auf der Straße, trinkt und ist laut - gerne auch bis in den November hinein. Die herkunftsdeutschen Kinder heißen nicht nur Sophie, Karl und Heinrich, sondern auch Mandy, Kevin, Ramona und Guido, ab und zu auch Leila, Tarek oder Minou.

Dennoch richtet sich das Orientierungswissen in einigen Teilen der Gesellschaft weniger an dieser Realität als an einer homogenen Fiktionalität aus, die weder das gegenwärtige noch das vergangene Deutschland widerspiegelt, welches immer heterogen war - abgesehen von einer kurzen Periode homogener Struktur, die für die Kernverfasstheit des politischen Diskurses maßgebliche Relevanz zu haben scheint. Deutschlands Sehnsucht nach Homogenität muss dabei aus seiner Eigenart als postfaschistischer Gesellschaft heraus verstanden werden: "Wir sind aufgewachsen in einer Bundesrepublik, die so rein deutsch war wie noch nie irgendein Deutschland in der deutschen Geschichte. (...) Dieses Erbe der Nazis hielten wir für normal. Halten viele von uns noch immer für normal. Es war aber nichts anderes als das Resultat einer gewalttätigen ethnischen Säuberung." Das Verhältnis der autochthonen Deutschen zu ihrer Nationalität rührt nicht nur aus dieser traumatischen Vergangenheit - es rührt zum Teil auch aus der Fremdzuschreibung, die Deutschland in Folge dessen seit Jahrzehnten entgegenschwappt: Deutschland galt als effektiv, aggressiv, kognitiv. Deutschsein war uncool.

Obwohl Deutschland in seiner Politik in den vergangenen Jahrzehnten, im Kontext europäischer Vergleichsnationen wie Frankreich, Polen oder Belgien, weniger populistisch, im Vergleich zu Großbritannien oder Italien friedensbewegter, im Vergleich zu allen genannten ökologischer und selbstkritischer war, schaffte es den Imagewechsel vor allem durch das weltweit ausstrahlende Bild des vielfältigen, unkonventionellen Berlins und durch die beiden Fußball-Weltmeisterschaften 2006 und 2010. Es wurde als weltoffener wahrgenommen, als "lebenswerter und liebenswerter", wie es Bundespräsident Christian Wulff in seiner Antrittsrede am 3. Oktober 2010 in Bremen formulierte. Auch Menschen wie Mesut Özil, Philipp Rösler oder Sibel Kekilli verkörpern nun das neue Gesicht Deutschlands. Umso verwunderlicher ist die Ablehnung, mit der ein Teil der Republik auf das neue Bild Deutschlands reagiert, als ob man sich von dem Bild des ugly old German nicht trennen mag.

Seitdem die "Sarrazin-Debatte" offensichtliche Exklusionsmechanismen zu Tage förderte, die bis tief in die Mitte der Gesellschaft hinein vertreten werden, sind auch überraschend klare Selbstverteidigungsreaktionen bei Menschen mit Migrationshintergrund zu beobachten. Aus den multiplen Wir-Identitäten, welche die Zugehörigkeitskontexte dieser Menschen mitbestimmen, artikuliert sich immer häufiger der Gedanke einer neuen deutschen Identität in-between. Offen wird eine Stimmung verhandelt, in der trotzig ein "Wir gehören dazu" und "Das ist auch unser Land" artikuliert wird. Als hätte ein Moment der Angst um den Verlust der Heimat das Bewusstsein geschaffen, dass man ein postmodernes Bekenntnis artikulieren möchte. In dieses Bekenntnis reihen sich auch jene Herkunftsdeutschen ein, für die die Debatte die Frage aufwirft, mit wem man sich selbst in seinem Land eher assoziiert, und mit wem man eine vergleichbare Ideenwelt oder aber eine Vorstellung von Zukunft teilt. Eine parodierende Variante dessen lautete in den 1980er Jahren: "Ausländer, lasst uns mit den Deutschen nicht allein." Geändert hat sich seitdem, dass diese "Ausländer" zu einem wesentlichen Bestandteil Deutschlands geworden sind. Dabei bedeutet die Idee, sich Deutschland ohne Multikulturalität nicht mehr vorstellen zu wollen, keineswegs, dass man religiösem Extremismus nicht aktiv entgegenträte - nein: man tritt ihm nur gemeinsam entgegen - genauso wie dem Rechtspopulismus.

Deutschland ist nach der "Sarrazin-Debatte" ein gespaltenes Land. Aber die Trennlinie verläuft nur oberflächlich zwischen "den Muslimen" und "dem Rest" und nur temporär zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und jenen ohne. Die Trennlinie verläuft zwischen den "alten" und den "neuen" Deutschen und ihrer jeweiligen Vision von der Zukunft ihres Landes. Es sind zwei unterschiedliche Vorstellungen von Deutschland, die hier aufeinanderprallen. Das neue Deutschland wird sich in der Zukunft nicht mehr durch Herkunft, Genetik und Abstammungsstrukturen definieren können - dies erlaubt schon der demografische Wandel nicht mehr. Es wird sich trotzdem nicht abschaffen - es wird nur ethnisch und kulturell vielfältiger sein. Und Deutschsein gilt dann als Chiffre für die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Land.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Bundesjugendkuratorium, Pluralität ist Normalität für Kinder und Jugendliche, April 2008.

  2. Vgl. Kai-Uwe Hunger, Junge Migranten online: Suche nach sozialer Anerkennung und Vergewisserung von Zugehörigkeit, Wiesbaden 2009, S. 251.

  3. Vgl. Eric Hobsbawm/Terence Ranger, The Invention of Tradition, New York 1983.

  4. Die neuesten Forschungsergebnisse des IKG erscheinen im Dezember 2010. Die hier genannte Frage ist nach Aussagen des IKG nicht in der Druckausgabe enthalten. Konkrete Fragen dazu können an das IKG direkt gerichtet werden: ikg@uni-bielefeld.de. Für eine weitergehende Analyse vgl. Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände, Folge 8, Frankfurt/M. 2010.

  5. Von den 15,6 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund sind mehr als die Hälfte deutsche Staatsbürger (8,3 Millionen), und bei zwei Dritteln ist die Migration aktiv erlebt.

  6. Paul Mecheril/Thomas Teo, Andere Deutsche, Berlin 1994, S. 10.

  7. So seine Bezeichnung für Professor Bassam Tibi, der in Syrien geboren, jedoch seit Jahrzehnten deutscher Staatsbürger ist, zit. nach: Karl Friedrich Ulrichs, Islam-Wissenschaftler Bassam Tibi verlässt Uni, in: Göttinger Tageblatt vom 29.10.2009.

  8. Vgl. www.d-laender.de (20.10.2010).

  9. Vgl. Iman Attia, Die "westliche Kultur" und ihr Anderes, Bielefeld 2009.

  10. Vgl. Heiner Keupp, Identitätskonstruktionen: Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek 2008.

  11. Vgl. Michael Walzer, Über Toleranz: Über die Zivilisierung der Differenz, Hamburg 1998, S. 131ff.

  12. Vgl. Tanja Wunderlich, Die neuen Deutschen - Subjektive Dimensionen des Einbürgerungsprozesses, Stuttgart 2005.

  13. So Rapper Harris in einem Interview mit dem Stern am 8.10.2010.

  14. Vgl. Sammy de Luxe mit "Dis wo ich herkomm" oder Blumio mit "Hey Mr. Nazi".

  15. Vgl. http://dieneuendeutschen.wordpress.com/(21.10.2010).

  16. www.uni-bielefeld.de/ikg/gmf/einstellungen.html (21.10.2010). Diese Bezeichnung trifft auf etwa 53 Prozent der "alten" Deutschen zumindest hinsichtlich der Einstellung zu, dass bei der Verteilung von Gütern - finanzieller und ideeller Natur - den Neuhinzugezogenen weniger zustehe, als jenen, die schon länger hier sind.

  17. Vgl. Alexander Smoltczyk, Moral: Die neuen Deutschen, in: Spiegel online, 23.8.2010, online: www.spiegel.de/spiegel/a-713293.html (20.10.2010).

  18. Ironisch, aber treffend: Harald Martenstein, Länder verändern sich, in: Der Tagesspiegel vom 17.10.2010.

  19. Franz Wigard, Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Frankfurt/M. 1848/1849, S. 737.

  20. Vgl. Stefan Reiss, Fichtes "Reden an die deutsche Nation" oder "Vom Ich zum Wir", Berlin 2006, S. 124.

  21. Vgl. Axel Hacke/Giovanni di Lorenzo, Wofür stehst Du? Was in unserem Leben wichtig ist, Köln 2001.

  22. Arno Widmann in: Frankfurter Rundschau (FR) vom 5.2.2010.

Dr. rer. pol., geb. 1971; Leiterin des von der VW-Stiftung geförderten Forschungsprojekts "Hybride europäisch-muslimische Identitätsmodelle/HEYMAT" an der HU Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin. E-Mail Link: heymat.sowi@hu-berlin.de
Externer Link: www.heymat.hu-berlin.de