Einleitung
Jeder fünfte Einwohner Deutschlands, darunter jedes dritte Kind unter sechs Jahren, hat einen Migrationshintergrund. In Ballungsräumen wie Frankfurt oder Berlin trifft dies bereits auf über 60 Prozent der Kinder zu, die dieses Jahr eingeschult wurden. Wenn Pluralität für Kinder und Jugendliche zur Normalität wird,
Wo Migration auch mit settlement verbunden wird, wandelt sich die Bevölkerungsstruktur - nicht nur demografisch und soziostrukturell, sondern auch identitär und ideell. Spätestens in der zweiten Generation der Einwanderung stellt sich ein Moment ein, in dem identitäre Verortung nicht mehr eindimensional zu einem Herkunftsland vorgenommen werden kann. Während für die meisten Migranten der ersten Generation ein Herkunftsbezug durch eine aktive Migrationserfahrung bestehen bleibt und in vielen Fällen mit einer zumindest emotionalen Rückkehroption gekoppelt wird, enthält im Falle der Nachfolgegenerationen der Herkunftsbezug und der Gedanke der "Rückkehr" bereits einen Moment von invented tradition.
Vom Ausländer zur Person mit Migrationshintergrund
Deutschlands "Gesicht" wandelt sich stetig, was zu Verunsicherungen in der Bezeichnungspraxis führt. Die herkunftsdeutsche Bevölkerung weiß häufig nicht, wie sie sich selbst oder jene bezeichnen soll, die lange Jahre als "Ausländer" oder "Fremde" galten und nun offensichtlich zu Deutschland gehören wollen und sollen. Immer häufiger hört man zur Selbstbeschreibung ironisierend den Begriff "Bio-Deutsche", da "autochthone Deutsche" zu wissenschaftlich und "Deutsch-Deutsche" zu redundant klingt. Hingegen erzeugt der Begriff "echter Deutscher" einen ausgrenzenden Effekt, da er die Menschen mit Migrationshintergrund offensichtlich als "nicht echte" Deutsche kennzeichnet. Immer mehr Menschen nehmen mittlerweile für sich in Anspruch, deutsch zu sein, auch wenn sie "anders" aussehen, "fremd" klingende Namen oder eine andere Religionszugehörigkeit haben. Trotzdem gehören die Menschen mit Migrationshintergrund im öffentlichen Bewusstsein eines Großteils der Bevölkerung noch immer "nicht richtig" dazu. Mit dem Wort Migration ist eine Neuzuwanderung verbunden, der Migrationshintergrund markiert daher seine Träger als tendenziell "neuer" als jene ohne und in der öffentlichen Wahrnehmung auch als tendenziell fremd, auch wenn sie die deutsche Staatsangehörigkeit in dritter und vierter Generation besitzen. "Wer irgendwo neu ist, sollte sich erst mal mit weniger zufrieden geben", sagen 53,7 Prozent der Bevölkerung laut der Studienreihe "Deutsche Zustände" vom Bielefelder Institut für Konflikt und Gewaltforschung (IKG).
Postmigranten
Es fehlt derzeit an einer etablierten Bezeichnung, welche die nationale und kulturelle Mehrfachzugehörigkeit und -identifikation von Individuen wertneutral beschreibt. Während Mehrfachzugehörigkeit im identitären Kontext als postmoderne Normalität anerkannt wird, gilt für die nationalen, ethnischen und kulturellen Zugehörigkeiten zumindest in Deutschland noch immer das Kriterium der einseitigen Entscheidung, die mit dem Gedanken der Assimilation als Vision einer gelungenen Integration einhergeht. Versuche, Ersatzdefinitionen zu finden, hat es bereits 1994 mit dem Begriff "Andere Deutsche" gegeben, um zu verdeutlichen dass "die Gültigkeit des Anspruchs, deutsch zu sein, sich nicht an der Erfüllung bestimmter Kriterien der Physiognomie, der Abstammung oder auch der 'kulturellen' Praxis bemisst".
Die Verbundenheit mit Deutschland als Heimat findet auf mehreren Ebenen statt. Die kognitive und pragmatische Bezeichnung von Deutschland als Heimat, als "dort, wo mein Haus steht, und dort, wo meine Familie wohnt", kann dabei teilweise die emotionale Bindung an einen Sehnsuchtsort in der Ferne, der ebenfalls mit Heimat assoziiert wird, nicht ersetzen. Dies liegt an dem der Migration inhärenten Moment, der immer mit dem Verlassen eines Zuhauses oder einer Heimat einhergeht. Diese teilweise nur tradierte Vergangenheit wird im Kontext der familiären Erzählstruktur und der nicht erfahrenen Alltagsentzauberung zu einem Wunschort stilisiert, der in jedem Moment der Unzufriedenheit eine virtuelle Rückzugsoption anbietet - auch wenn diese realiter nicht gegeben ist. Zusätzlich wird von Seiten der ersten Generation der Einwanderer, der Familie oder Community teilweise Druck auf die Folgegenerationen aufgebaut, sich den ursprünglichen Herkunftsländern nicht zu entfremden.
Die zum Teil fehlende emotionale Verbundenheit mit Deutschland liegt allerdings auch an Diskriminierungserfahrungen sowie mangelnder Aufnahmebereitschaft von Seiten der autochthonen Gesellschaft, welche noch immer teils bewusst, teils unbewusst das "Deutschsein" auf phänotypische Merkmale reduziert.
Gerade für jenes Drittel der Postmigranten, die vom Mikrozensus als "Menschen ohne eigene Migrationserfahrung" erfasst werden, ist Integration ohnehin kein Diskussionskriterium ihrer Selbstbeschreibung. Migrationshintergrund und Mehrsprachigkeit werden vor allem als Bereicherung wahrgenommen. Für diese Postmigranten sind Deutsch- oder Integrationskurse etwas, das bestenfalls noch ihre Eltern betreffen könnte, eher ihre Großeltern und eben neu Zugewanderte. Bei ihnen ist stattdessen verstärkt ein mehrkulturelles Selbstbewusstsein zu beobachten, ohne ihre "Wurzeln" vergessen zu wollen, samt einer für sich selbst angenommenen postintegrativen Perspektive: Sie sind längst in dieser Gesellschaft angekommen, zumindest aus ihrer Sicht und aus der Sicht jenes Teils der Bevölkerung, der in Deutschland ein plurales, heterogenes und postmodernes Land sieht.
Zugehörigkeit, Angehörigkeit, Authentizität
Die Zugehörigkeit zu Deutschland definiert sich jedoch nicht nur über die eigene Fähigkeit zur Identifikation mit dem Mehrheitskollektiv, sondern auch über den Grad und die Häufigkeit der Anerkennung durch eben jenes. Erst diese erlaubt eine Identifikation im Sinne der Angehörigkeit. Und erst der Dreiklang von Anerkennung, fragloser Zugehörigkeit und Angehörigkeit lässt einen glaubwürdigen, authentischen Moment von "Deutschsein" entstehen.
Dabei stellen gerade in Einwanderungsgesellschaften statische Ansichten auf identitäre Kernnarrationen wie Kultur oder Nation Exklusionsmechanismen her, deren Überwindung für die soziale Kohäsion solcher Patchwork-Gesellschaften notwendig ist. Gerade im Falle Deutschlands stellen sich hierbei multiple Überwindungshürden auf. Während die deutsche Identität als etwas Exklusives angeboten wird, dessen Erlangung mit Hürden wie Sprachkompetenz, Landeskunde und Absage an ehemalige Herkunftsländer verbunden wird, ist nach Erlangung dieses "Ritterschlags" weder die Anerkennung durch die autochthone Gesellschaft noch eine authentische Verbundenheit mit dieser nationalen Identität gewährleistet. Dies ist auch eine Erklärung dafür, warum viele der Menschen mit Migrationshintergrund bei der Frage nach ihrer Zugehörigkeit problemlos die Stadt nennen, aus der sie kommen. Ihre Selbstbezeichnung als Berliner, Hamburger oder Schwabe sehen sie als faktisch und authentisch an, während sie die Selbstbezeichnung als "Deutsche" eher als Konstruktion oder künstlich empfinden, da sie diese immer erklären müssen.
Die Selbstbezeichnung muss mit der Fremdzuschreibung korrespondieren, sonst entstehen Unschlüssigkeiten in der personalen Identität. Wenn eine Person, die phänotypisch als asiatisch, arabisch oder afrikanisch markiert wird, in ihrer eigenen Wahrnehmung deutsch ist, gelingt ihr die Selbstbezeichnung als "Deutsche" gegenüber der Mehrheitsgesellschaft immer nur mit einer anhängenden Erklärung: "Ich bin deutsch, aber mein Großvater kam aus Marokko." Es ist die fraglose Zugehörigkeit und somit die Authentizität (im Sinne von Echtheit und Glaubwürdigkeit), die jenen Menschen mit Migrationshintergrund verwehrt wird, die durch äußere Zuschreibung zunächst als nicht-deutsch gesehen werden - was immer "Deutschsein" heutzutage auch sein mag - und die zu unterschiedlichen Reaktionsmechanismen bei diesen Menschen führt: von Rückzug und Apathie über Wut und Aggression bis hin zu Trotz und selbstbewusster Einforderung von Teilhabe.
Zumindest das Bezeichnungsdilemma könnte in Anlehnung an die im angloamerikanischen Raum etablierte Bezeichnungspraxis der hyphenated identities
In Zeiten sich ständig bereichernder Wortschätze darf man die Fähigkeit der Etablierung von Bezeichnungen nicht unterschätzen. Auch das Wort Migrationshintergrund war vor fünf Jahren noch neu, obwohl es wesentlich sperriger als Türkei-Deutscher oder Libanon-Deutsche klingt. Hier liegt es auch an Signalen aus der autochthonen Gesellschaft, die Öffnung der Begrifflichkeit für ein "Deutschsein" zu ermöglichen, dass multiple Zuschreibungsmomente normalisiert. Vor allem muss der Moment der Bindung zur (neuen) Heimat erleichtert und beidseitig internalisiert werden - er muss irgendwann authentisch werden. Es ist an der Zeit, eine Bezeichnungspraxis zu etablieren, welche die hybride Alltagsrealität nicht nur von Menschen mit Migrationshintergrund, sondern auch eines immer größer werdenden Teils der globalisierten deutsch-deutschen Bevölkerung erfasst.
Wer sind die Neuen Deutschen?
Die Bezeichnung "Neue Deutsche" könnte in diesem Kontext zunächst einmal als Beschreibungsangebot dienen für jene Menschen, die über eine deutsche Staatsbürgerschaft und einen Migrationshintergrund verfügen.
Das zentrale Dilemma des Begriffes ist jedoch, dass er, wenn er nur für Menschen mit Migrationshintergrund etabliert oder mit Zuwanderung assoziiert wird, selbst wiederum eine Differenzmarkierung vornimmt, weil er die diskursive Trennungslinie zwischen multiethnischen und monoethnischen Bürgern Deutschlands reproduziert. Weiterhin macht er einen Unterschied zwischen jenen Einwohnern mit Migrationshintergrund, die einen deutschen Pass haben, und jenen, die die deutsche Staatsbürgerschaft nicht besitzen.
Unvermeidlich ist bei der Nennung des Begriffs "Neue Deutsche" auch die Frage danach, wer die "alten" Deutschen seien. In Anlehnung an die Untersuchungen des IKG könnte hier der Begriff der "alteingesessenen Deutschen", die für sich Etabliertenvorrechte reklamieren, aufgegriffen werden: "Etabliertenvorrechte umfassen die von Alteingesessenen gleich welcher Herkunft beanspruchten Vorrangstellungen, die gleiche Rechte vorenthalten und somit die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Gruppen verletzen."
Denkbar wäre es daher, die "Neuen Deutschen" einer Ideenwelt zuzuordnen - einer Betrachtungsweise, die mit einem neuen Blickwinkel einhergeht: Deutschland als Einwanderungsland, global player, politisch normativer Friedensakteur. Das postmoderne Deutschland als plurales, multiethnisches, vielfältiges Bürgerland. In diesem Sinne wären die "Neuen Deutschen" die Bürger eines hybriden, neuen Deutschland, das es in seiner heterogenen Komposition schon längst gibt. Die Trennlinie würde entlang einer Haltung und Einstellung verlaufen. Hier wäre der Begriff in einer gesellschaftspolitischen Arena eingebettet und könnte als ein postmodernes Konstrukt verstanden werden, um Identitätsbildungsprozesse als prinzipielle Inklusionsprozesse zu verstehen. Er könnte verdeutlichen, dass die ehedem ethno-kulturellen Zuschreibungskriterien für "deutsch" nicht die reale Bevölkerungsstruktur und Zusammensetzung des Landes widerspiegeln, sondern auf essenzialisierenden Konstruktionen von Kultur, Nation und Ethnie beruhen. Damit wären noch immer nicht die strukturellen Probleme eines postmodernen Einwanderungslandes gelöst. Es wird weiterhin Bildungsproblematik, Sozialtransfers und Kriminalität in Deutschland geben. Nur wenn die Zugehörigkeit nicht mehr in Frage steht, können diese Probleme in Abhängigkeit von Sozialstrukturen diskutiert werden und nicht in Verbindung mit der ethnisierenden oder kulturalisierenden Frage nach deutsch oder nicht-deutsch? "Wenn jemand 'dazugehört', kann dieser Jemand übrigens durchaus Probleme bereiten. Auch die Insassen der Strafanstalten, jedweder Konfession, gehören zu Deutschland, die Junkies gehören zu Deutschland, die Bettler, die Buddhisten, die Millionäre und die Stripperinnen. Angela Merkel ist auch die Kanzlerin der Alkoholiker, der Exhibitionisten und der Bettnässer, oder wollen wir die alle ausbürgern? Will allen Ernstes irgendwer Leute mit deutschem Pass zu Deutschen zweiter Klasse erklären, nur, weil sie die falsche Religion haben?"
Die Idee, Deutschland neu zu denken, ist weder häretisch, noch führt sie dazu, dass das Land sich abschafft. Vielmehr reiht sich dieser Gedanke in vielfältige Visionen ein, die mit der Idee Deutschlands einhergehen: Deutschland war im kühnsten Moment seiner Entstehung eine politische Vision, eine politisch weltoffene Idee, die nicht an ethnische Herkunft und Exklusivität gebunden war. In der Debatte über Grundrechte in der Frankfurter Paulskirchenverfassung erklärte der Berliner Abgeordnete Wilhelm Jordan: "Jeder ist ein Deutscher, der auf dem deutschen Gebiet wohnt (...) die Nationalität ist nicht mehr bestimmt durch die Abstammung und die Sprache, sondern ganz einfach bestimmt durch den politischen Organismus, durch den Staat. Das Wort 'Deutschland' wird fortan ein politischer Begriff."
Die nicht zu greifende "deutsche Leitkultur" wird in Zeiten der gesellschaftlichen Verunsicherung durch Finanzkrise, Arbeitsplatzverlust und demografischen Wandel immer häufiger herbeigesehnt, das wenigstens eine identitäre Konstante darstellen könnte - als letzte vermeintlich stabile Ressource. Leider lässt sie sich in ihrer fundamentalen "Luftigkeit" nur greifen anhand der Markierung jener, die scheinbar nicht dazugehören. Wenn heutzutage schon Homo-Ehe und Patchwork-Familien in die deutsche Leitkultur integriert werden müssen, dann bitte nicht noch den Islam.
Neues Deutschland
Der längst eingetretene identitäre Wandel ist eine alltägliche Banalität, in Zahlen messbar und für die Zukunft prognostizierbar. Auch wenn sich im Moment ein Großteil der Deutschen die Zeit vor dem Anwerbeabkommen mit der Türkei im Jahr 1961 herbeizusehnen scheint, so wird das nicht passieren. Abgesehen davon, dass für den anderen Großteil diese Zeit nicht das "goldene Zeitalter" (Thilo Sarrazin) darstellt, sondern ein vermieftes, biederes, geschlossenes, schlechtgelauntes und getrenntes Deutschland. Im heutigen Deutschland umarmen sich sogar die Männer zur Begrüßung, während sie ihren eigenen Vätern immer noch nur steif die Hand reichen, man sitzt abends draußen auf der Straße, trinkt und ist laut - gerne auch bis in den November hinein. Die herkunftsdeutschen Kinder heißen nicht nur Sophie, Karl und Heinrich, sondern auch Mandy, Kevin, Ramona und Guido, ab und zu auch Leila, Tarek oder Minou.
Dennoch richtet sich das Orientierungswissen in einigen Teilen der Gesellschaft weniger an dieser Realität als an einer homogenen Fiktionalität aus, die weder das gegenwärtige noch das vergangene Deutschland widerspiegelt, welches immer heterogen war - abgesehen von einer kurzen Periode homogener Struktur, die für die Kernverfasstheit des politischen Diskurses maßgebliche Relevanz zu haben scheint. Deutschlands Sehnsucht nach Homogenität muss dabei aus seiner Eigenart als postfaschistischer Gesellschaft heraus verstanden werden: "Wir sind aufgewachsen in einer Bundesrepublik, die so rein deutsch war wie noch nie irgendein Deutschland in der deutschen Geschichte. (...) Dieses Erbe der Nazis hielten wir für normal. Halten viele von uns noch immer für normal. Es war aber nichts anderes als das Resultat einer gewalttätigen ethnischen Säuberung."
Obwohl Deutschland in seiner Politik in den vergangenen Jahrzehnten, im Kontext europäischer Vergleichsnationen wie Frankreich, Polen oder Belgien, weniger populistisch, im Vergleich zu Großbritannien oder Italien friedensbewegter, im Vergleich zu allen genannten ökologischer und selbstkritischer war, schaffte es den Imagewechsel vor allem durch das weltweit ausstrahlende Bild des vielfältigen, unkonventionellen Berlins und durch die beiden Fußball-Weltmeisterschaften 2006 und 2010. Es wurde als weltoffener wahrgenommen, als "lebenswerter und liebenswerter", wie es Bundespräsident Christian Wulff in seiner Antrittsrede am 3. Oktober 2010 in Bremen formulierte. Auch Menschen wie Mesut Özil, Philipp Rösler oder Sibel Kekilli verkörpern nun das neue Gesicht Deutschlands. Umso verwunderlicher ist die Ablehnung, mit der ein Teil der Republik auf das neue Bild Deutschlands reagiert, als ob man sich von dem Bild des ugly old German nicht trennen mag.
Seitdem die "Sarrazin-Debatte" offensichtliche Exklusionsmechanismen zu Tage förderte, die bis tief in die Mitte der Gesellschaft hinein vertreten werden, sind auch überraschend klare Selbstverteidigungsreaktionen bei Menschen mit Migrationshintergrund zu beobachten. Aus den multiplen Wir-Identitäten, welche die Zugehörigkeitskontexte dieser Menschen mitbestimmen, artikuliert sich immer häufiger der Gedanke einer neuen deutschen Identität in-between. Offen wird eine Stimmung verhandelt, in der trotzig ein "Wir gehören dazu" und "Das ist auch unser Land" artikuliert wird. Als hätte ein Moment der Angst um den Verlust der Heimat das Bewusstsein geschaffen, dass man ein postmodernes Bekenntnis artikulieren möchte. In dieses Bekenntnis reihen sich auch jene Herkunftsdeutschen ein, für die die Debatte die Frage aufwirft, mit wem man sich selbst in seinem Land eher assoziiert, und mit wem man eine vergleichbare Ideenwelt oder aber eine Vorstellung von Zukunft teilt. Eine parodierende Variante dessen lautete in den 1980er Jahren: "Ausländer, lasst uns mit den Deutschen nicht allein." Geändert hat sich seitdem, dass diese "Ausländer" zu einem wesentlichen Bestandteil Deutschlands geworden sind. Dabei bedeutet die Idee, sich Deutschland ohne Multikulturalität nicht mehr vorstellen zu wollen, keineswegs, dass man religiösem Extremismus nicht aktiv entgegenträte - nein: man tritt ihm nur gemeinsam entgegen - genauso wie dem Rechtspopulismus.
Deutschland ist nach der "Sarrazin-Debatte" ein gespaltenes Land. Aber die Trennlinie verläuft nur oberflächlich zwischen "den Muslimen" und "dem Rest" und nur temporär zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und jenen ohne. Die Trennlinie verläuft zwischen den "alten" und den "neuen" Deutschen und ihrer jeweiligen Vision von der Zukunft ihres Landes. Es sind zwei unterschiedliche Vorstellungen von Deutschland, die hier aufeinanderprallen. Das neue Deutschland wird sich in der Zukunft nicht mehr durch Herkunft, Genetik und Abstammungsstrukturen definieren können - dies erlaubt schon der demografische Wandel nicht mehr. Es wird sich trotzdem nicht abschaffen - es wird nur ethnisch und kulturell vielfältiger sein. Und Deutschsein gilt dann als Chiffre für die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Land.