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Die "globale Null" für Atomwaffen - Essay | Sicherheitspolitik | bpb.de

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Die "globale Null" für Atomwaffen - Essay

Oliver Thränert

/ 13 Minuten zu lesen

Die Krise des nuklearen Nichtverbreitungsregimes besteht fort. Das Ziel einer Welt ohne Kernwaffen ist daher sinnvoll. Kreative Lösungen wie die internationale Zusammenarbeit bei der Raketenabwehr sind erforderlich.

Einleitung

Mehr als 65 Jahre nach den Atombombenabwürfen auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki haben wir uns an das gewöhnt, was wir gemeinhin als das "nukleare Tabu" bezeichnen. Kernwaffen, so lautet seit dem Ost-West-Konflikt das Mantra, sind politische Waffen, die der Abschreckung dienen, jedoch nicht eingesetzt werden. Doch können wir uns wirklich so sicher sein? Wissen wir überhaupt, ob Abschreckung im Kalten Krieg funktioniert hat, und wenn ja, war nicht auch sehr viel Glück im Spiel? Und was helfen uns die Erfahrungen aus den Jahren einer relativ überschaubaren Blockkonfrontation in einer Welt, in der es womöglich bald fünfzehn oder gar zwanzig Atommächte gibt? Sind 65 Jahre weltgeschichtlich betrachtet nicht eine viel zu kurze Zeitspanne, um daraus den sicheren Schluss zu ziehen, dass auch künftige Generationen von Atomwaffeneinsätzen verschont bleiben? Wenn wir uns dessen aber nicht sicher sind, müssen wir uns dann nicht darum bemühen, alle Atomwaffen aus der Welt zu schaffen? Schließlich wäre dies der einzig wirklich sichere Weg, künftige Hiroshimas und Nagasakis zu verhindern. Wenn aber die Abschaffung aller Nuklearwaffen auf die internationale Agenda gehört, wie können wir dieses Ziel verwirklichen? Welche Hürden gilt es zu überwinden, welche Widerstände zu brechen? Und wie müsste eine Welt ohne Kernwaffen so gestaltet werden, dass am Ende mehr und nicht weniger Sicherheit entsteht?

Barack Obamas Motive

Dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama gebührt das Verdienst, diese Debatte auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs hoffähig gemacht zu haben. Kaum einer von ihnen wagt es noch, sich öffentlich gegen die "globale Null" für Kernwaffen zumindest als Fernziel auszusprechen. Das ist ein erster Schritt. Doch weitere, praktische Fortschritte müssen folgen. Sam Nunn, ehemaliger US-Senator und Mitglied derjenigen überparteilichen "Viererbande" alt gedienter US-Strategen, welche die "globale Null" für Atomwaffen schon vor Obamas Amtsantritt zu propagieren begannen - die anderen drei sind Henry Kissinger, George Shultz und William Perry - nutzt gern das Bild einer Bergsteigergruppe, welche den Gipfel durch die Wolken noch nicht erblicken kann. Die Gruppe weiß also nicht genau, wo sich ihr Ziel befindet. Was sie aber weiß, ist, dass sie es nur erreichen kann, wenn sie damit beginnt, Schritt für Schritt an Höhe zu gewinnen. Das erfordert Kondition, vor allem aber Motivation. Voraussetzung für diese wiederum, ist zu wissen, warum man eigentlich auf den Gipfel will.

Die Gründe dafür, dass Barack Obama den Aufstieg zum Gipfel der vollständigen nuklearen Abrüstung begann, sind schnell erzählt. Sie handeln nicht von einem Tagträumer, der aus einer Laune heraus die Welt mit seinen Visionen in Atem halten will. Nein, der Mann im Weißen Haus ist Visionär und Realpolitiker zugleich, ebenso wie Henry Kissinger oder George Shultz, der ehemalige Außenminister unter Ronald Reagan, oder auch William Perry, der unter Bill Clinton im Pentagon diente. Sie alle sind schwerlich mit jenen "Latzhosen tragenden" Friedensaktivisten zu verwechseln, die vor gut 25 Jahren hierzulande zu nuklearer Abrüstung aufriefen. Worum es geht, sind amerikanische Interessen, so wie die aktuelle US-Regierung sie definiert. Das Spannende ist gleichwohl, dass es wesentliche Schnittpunkte zwischen diesen amerikanischen Interessen und übergeordneten, allgemeinen Interessen an der Verregelung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen sowie der Vermeidung von Kernwaffeneinsätzen gibt.

Was also treibt Obama um? Wenn man seine Prager Rede vom 1. April 2009, während der er sein Ziel einer Welt ohne Kernwaffen verkündete, liest, fällt auf, dass sich dieser Präsident offensichtlich des nuklearen Tabus nicht sicher ist. Vielmehr sieht er das mögliche Entstehen immer neuer Atommächte als eine Bedrohung an. Wenn wir, so Obama, uns diesem Trend nicht entgegenstemmen, dann finden wir uns letztlich damit ab, dass Kernwaffen irgendwann auch eingesetzt werden - sei es, weil Krisen zwischen Atomwaffen besitzenden Staaten eskalieren (etwa zwischen Indien und Pakistan oder künftig zwischen Iran und Israel), sei es, weil Terroristen im Zuge der Verbreitung von spaltbarem Material eines Tages Kernsprengsätze in die Hände bekommen. Dann würden sie diese auch einsetzen, und Amerika wäre ganz sicher ihre erste Zielscheibe.

Krise des Nichtverbreitungsregimes

Bisher ist es gelungen, die Anzahl der Atommächte relativ klein zu halten. Ein wichtiger Grund dafür ist der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV). Er gesteht den USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien den Besitz von Nuklearwaffen zu. Alle anderen Vertragsstaaten, 185 an der Zahl, haben auf Atomwaffen für immer verzichtet (der NVV wurde 1995 unbefristet verlängert). Das liegt durchaus in ihrem Interesse, hoffen viele von ihnen doch, auf diese Weise gefährliche nukleare Rüstungswettläufe in ihrer jeweiligen Region verhindern zu können. Außerdem haben sie als Gegenleistung für ihren Waffenverzicht die Unterstützung bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie zugesagt bekommen. Schließlich haben sich die fünf Atommächte zu ernsthaften Abrüstungsbemühungen mit dem Fernziel der Abschaffung aller Nuklearwaffen verpflichtet.

Seit geraumer Zeit ist die Vertragsstaatengemeinschaft jedoch zerstritten. Im Jahr 2005 endete eine der alle fünf Jahre stattfindenden Überprüfungskonferenzen ohne Ergebnis. Bei der Folgekonferenz im Mai 2010 gelang zwar die Verabschiedung eines Abschlussdokuments, das Aktionspläne zu den drei NVV-Grundpfeilern Nichtverbreitung, friedliche Nutzung der Kernenergie und Abrüstung enthält. Auch soll im Jahr 2012 eine Konferenz zur Errichtung einer Zone frei von Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten stattfinden. Doch kann dies über die tiefen Gräben, die innerhalb der NVV-Gemeinde fortbestehen, kaum hinwegtäuschen. Viele nukleare "Habenichtse" sind weiterhin mit den Abrüstungsbemühungen der Atomwaffenbesitzer unzufrieden; umgekehrt haben diese sowie weitere entwickelte Länder ihr Ziel nicht erreicht, die Nichtverbreitungsnorm zu stärken, indem etwa die Überwachungsregeln der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) verpflichtend für alle verschärft würden. Problematisch bleibt die Existenz dreier Atommächte - Indien, Pakistan und Israel - außerhalb des Abkommens. Ungeklärt ist die Stellung Nordkoreas, das bereits zweimal nuklear testete und 2003 aus dem NVV austrat. Aufgrund von dabei begangenen Formfehlern wird dieser prinzipiell zulässige Austritt jedoch nicht von allen NVV-Mitgliedern anerkannt.

Die Schwäche des NVV ist umso bedrohlicher, als zugleich immer mehr Staaten ein legitimes Interesse an der friedlichen Nutzung des Atoms entwickeln. Die IAEO geht von bis zu zwanzig neuen kommerziellen Kernenergienutzern bis zum Jahr 2030 aus. Getrieben wird diese Entwicklung von einem wachsenden Energiebedarf, dem Interesse an Energiesicherheit, instabilen Öl- und Gaspreisen, aber auch von dem Prestigegewinn und der Statusaufwertung, die sich viele Staaten vom Betrieb von Kernkraftwerken versprechen. Nicht wenige der Kernenergieinteressenten befinden sich in Konfliktregionen wie dem Nahen Osten; einige von ihnen wie Ägypten haben in der Vergangenheit nach Atomwaffen gestrebt. Daher liegt für viele Beobachter der Verdacht nahe, dass es zumindest einigen nuklearen Emporkömmlingen darum geht, sich im Zuge eines zunächst zivilen Atomprogramms auch eine nukleare Waffenoption zu erarbeiten.

Internationale Ordnung

Obama scheint den NVV unbedingt retten zu wollen. Die Ordnungsmacht USA ist an verbindlichen Regeln als Bezugssystem interessiert. Ohne dieses würde das Entstehen immer neuer Atommächte, letztlich also die nukleare Anarchie, drohen. Amerikanische Interessen sind unmittelbar berührt, weil Atomwaffen in den Händen von immer mehr Staaten Amerikas militärische Handlungsfreiheit einschränken. Wer diese stärkste aller Waffen sein Eigen nennt, kann sich mit konventionellen Streitkräften geführte Überfälle auf seine Nachbarn erlauben, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Mit Diktatoren, die Kernwaffen besitzen, ist nicht gut Kirschen essen. Eben dies war der Grund, warum sich selbst der Pazifist Albert Einstein während des Zweiten Weltkrieges für das "Manhattan-Projekt" aussprach: Amerika sollte die Bombe vor Hitler-Deutschland besitzen, damit dieses sich nicht die Welt gefügig machen konnte. Um ein aktuelleres Beispiel zu nennen: Im August 1990 überfiel Saddam Hussein seinen Nachbarn Kuwait. Zu diesem Zeitpunkt war der irakische Despot nachrichtendienstlichen Einschätzungen zufolge noch etwa drei Jahre von der Bombe entfernt. Hätte er sie damals bereits besessen, wäre die militärische Befreiung Kuwaits unter US-Führung und ausgestattet mit einem Mandat des UN-Sicherheitsrates wohl gar nicht erst zustande gekommen.

Die Verbreitung von Atomwaffen stellt also tendenziell die geltende internationale Ordnung in Frage. Die USA, noch immer das einzige Land, das weltweit zum militärischen Eingreifen gegen Aggression und zur Wiederherstellung von Ordnung befähigt ist, würde zu einem gefesselten Riesen. In der Folge würde auch das höchste Organ der internationalen Staatengemeinschaft, der UN-Sicherheitsrat, nach und nach auch gegenüber Aggressoren handlungsunfähig.

Obama hat erkannt, dass für die Rettung des NVV und der nuklearen Ordnung die Vision einer Welt ohne Atomwaffen von eminenter Bedeutung ist. Washington stellt somit Führungswillen gerade bei der von vielen Nichtkernwaffenstaaten immer wieder geforderten nuklearen Abrüstung unter Beweis. Indem die USA die noch unter George W. Bush populäre Unterscheidung zwischen guten und schlechten Atomwaffen rhetorisch aufgeben, treten sie den Doppelmoralvorwürfen vieler nuklearer "Habenichtse" entgegen. Obama hofft, auf diese Weise die NVV-Gemeinde wieder enger zusammenzuschweißen. Gefährliche nukleare Ausbrecher wie Iran könnten so wirksamer isoliert werden.

Die USA brauchen für ihre eigene Verteidigungspolitik Atomwaffen immer weniger. In der im April 2010 vorgestellten Nukleardoktrin haben die USA zwar nicht auf den nuklearen Ersteinsatz verzichtet, machten jedoch klar, dass sie Kernwaffen nur unter außergewöhnlichen Umständen und nicht gegen Nichtkernwaffenstaaten einsetzen würden, die sich an die Regeln des NVV halten. Washington kann sich seine schrittweise Abkehr von Atomwaffen leisten, da es zugleich effektive und weit reichende konventionelle Waffenoptionen verfolgt und auch Schutz durch den weiteren Aufbau einer Raketenabwehr anstrebt.

Ein wichtiger Abrüstungserfolg gelang am 8. April 2010, als Obama gemeinsam mit seinem russischen Gegenüber Dmitri Medwedew das Neu-START-Abkommen (Strategic Arms Reduction Treaty) zur Begrenzung stationierter strategischer Kernwaffen beider Seiten unterschrieb. Aufgrund der vereinbarten Zählregeln sind die damit verbundenen Abrüstungsschritte nicht sehr tiefgreifend. Immerhin ist es aber der erste nukleare Abrüstungsvertrag seit 1991, der auch beiderseitige Überwachungsmaßnahmen beinhaltet. Die nächste Etappe ist die Inkraftsetzung dieses Abkommens durch den US-Senat sowie die russische Duma und den Föderationsrat.

Nichtverbreitungsparadoxon der Kernwaffen

Sehr viel schwieriger werden jedoch die dann folgenden Höhenmeter. Die nächste Abrüstungsrunde wird neben den strategischen auch die nicht-strategischen Atomwaffen berücksichtigen müssen, also auch die noch in Europa stationierten US-Kernwaffen. Russland hat in diesem Bereich eine numerische Überlegenheit, die es mit Blick auf das NATO-Übergewicht bei konventionellen Streitkräften nicht aufzugeben gedenkt. Moskaus Ziel hingegen ist das Hinausdrängen Amerikas aus Europa, weshalb es - ein Vorhaben noch aus sowjetischen Zeiten - den Abzug sämtlicher amerikanischer Atomwaffen verlangt. Dies stößt auf Wohlwollen bei manch westlicher Regierung - darunter der deutschen -, aber auf Widerstände anderer, vornehmlich osteuropäischer NATO-Mitglieder. Ihnen ist die langjährige Okkupation durch Moskau noch präsent, weshalb sie Amerika zu ihrem Schutz unbedingt in Europa halten wollen. Andere, wie Italien, sehen amerikanische Atomwaffen auf ihrem Boden und ihre enge nukleare Zusammenarbeit mit den USA als wichtiges Statussymbol. Wieder andere, an der NATO-Peripherie gelegene Partner wie die Türkei könnten im Angesicht einer iranischen Atomwaffenoption bei gleichzeitigem US-Kernwaffenabzug selbst die Bombe bauen wollen.

Diese gerade begonnene Debatte über die Zukunft der NATO als einem nuklearen Bündnis verweist auf eine grundsätzliche Schwierigkeit, die mit atomarer Abrüstung verknüpft ist. Atomwaffen selbst sind nämlich, so paradox dies klingen mag, Instrumente zur Verhinderung des Entstehens immer neuer Atommächte. Im Rahmen der NATO oder bilateraler Bündnisse mit Washington haben Staaten, die technisch dazu in der Lage wären, Kernwaffen zu bauen, darauf verzichtet, weil sie es für politisch sinnvoller hielten, sich unter den amerikanischen Nuklearschirm zu begeben. Verliert die amerikanische Schutzgarantie infolge von Abrüstung jedoch an Glaubwürdigkeit, könnten manche Staaten ihr Heil in eigenen Kernwaffen suchen, sofern sie sich von den atomaren Bemühungen ihrer Nachbarn bedroht sehen.

Iranisches Atomprogramm

Zudem liegt ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Schlüssel auf dem Weg zu einer Welt ohne Kernwaffen in einer erfolgreichen Mission zur Beendigung des derzeitigen iranischen Atomprogramms. Sollte es nicht gelingen, Teheran trotz mehrfacher Aufforderungen des UN-Sicherheitsrates - zuletzt mit seiner mit verschärften Sanktionen bewehrten Resolution 1929 vom 9. Juni 2010 - zu einer Umkehr von seinem derzeitigen Atomkurs zu bewegen, so dass es nach Nordkorea als zweites Land trotz rechtlich verbrieftem Kernwaffenverzicht zur Atommacht würde, rückt eine Welt ohne Nuklearwaffen in weite Ferne. Vielmehr werden dann womöglich weitere Staaten des Nahen und Mittleren Ostens wie Saudi-Arabien, Ägypten und wohl auch die Türkei eine atomare Option anstreben. Dies ist kein Automatismus, und die genannten Länder würden zum Aufbau eigener atomarer Kapazitäten viele Jahre benötigen. Doch die Gefahr eines nuklearen Rüstungswettlaufs in Nahost wäre auf jeden Fall gegeben. Die nukleare Nichtverbreitungsnorm wäre damit durchlöchert wie ein Schweizer Käse; der NVV würde zur leeren Hülle.

Interessen der Atomwaffenbesitzer

Aber selbst falls das Problem des iranischen Atomprogramms gelöst werden könnte, stellt sich die Frage, ob diejenigen Staaten, die heute bereits Nuklearwaffen besitzen, zu ihrer Aufgabe bereit wären. Denn Kernwaffen bedeuten einen herausgehobenen Status, sie bieten Schutz vor Invasion und äußerer Einflussnahme, selbst dann, wenn man wie im Falle Nordkoreas politisch fast vollständig isoliert ist, und sie sind eine Art Überlebensversicherung in einer feindlichen Nachbarschaft, was der Hauptgrund für Israels Atomwaffenbesitz ist.

Auch wenn sie sich rhetorisch zum Ziel der nuklearen Totalabrüstung bekennen, haben alle Atommächte Vorbehalte. Für Russland sind seine Atomwaffen bedeutsam, weil man den USA nur bei Nuklearverhandlungen auf gleicher Augenhöhe begegnen kann. Auch werden diese Waffen in Moskau als wichtig angesehen, um der ansonsten militärisch weit überlegenen NATO entgegentreten zu können. China verlässt sich seit längerem auf eine nukleare Minimalabschreckung, baut diese jedoch allmählich in dem Maße aus, in dem es vor dem Hintergrund seines wirtschaftlichen Aufstiegs auch politisch mehr und mehr nach Einflussnahme strebt. Frankreichs Force de Frappe ist das wichtigste Symbol unabhängiger französischer Außenpolitik. Großbritannien verspricht sich von seinen noch verbliebenen atomaren U-Booten Einfluss auf die amerikanische Politik. Indien ist sein Status als Atommacht wichtig, während sein Nachbar Pakistan solange seine Kernwaffen nicht aufgeben wird, solange Indien welche besitzt.

Weitere Hindernisse: Politische Konflikte und Überwachung

Mag man angesichts dieser Motivlagen am Ziel der "globalen Null" zweifeln, so führen Kritiker einer Welt ohne Kernwaffen noch einen weiteren wichtigen Grund an: In einer solchen Welt würden konventionelle Kriege wieder möglich. Ergo müssten vor der Abschaffung aller Atomwaffen erst einmal die vielfältigen Konflikte zwischen Staaten gelöst werden. Ein Einwand, der in der Tat schwer wiegt. Die Lösung politischer Konflikte wie zwischen Indien und Pakistan oder im Nahen Osten müsste also der "nuklearen Null" vorausgehen.

Doch damit nicht genug. In einer atomwaffenfreien Welt müsste auch möglichst verlässlich sichergestellt werden, dass nicht wieder heimlich Nuklearwaffen gebaut werden, denn das entsprechende Wissen besteht ja fort. Notwendig wäre also der Aufbau eines weit in die Souveränitätsrechte der Staaten eingreifendes Überwachungssystems. Alle Staaten müssten sich den Inspektionen öffnen, denn in einer Welt ohne Atomwaffen wäre nicht einmal der kleinste Winkel der Erde tolerabel, der sich ihnen verweigerte. Bisher ist es aber noch nie gelungen, wirklich alle Länder vom Beitritt zu einem Abrüstungsabkommen zu bewegen.

Kreative Lösungen

Ist eine Welt ohne Atomwaffen also gar nicht möglich? Wer diese Frage bejaht, findet sich zugleich damit ab, dass die Menschheit für immer mit der nuklearen Gefahr leben muss. Dies ist die zweifelhafte Lösung derjenigen, die mehr oder weniger alles beim Alten belassen und sich weiterhin der Hoffnung hingeben wollen, dass Atomwaffen politische Waffen und keine militärischen Instrumente sind. Man kann die Gründe, die gegen eine kernwaffenfreie Welt sprechen, auch einfach ignorieren. Aber auch dieser Weg der Friedensbewegten und Abrüstungsenthusiasten vermag nicht zu überzeugen. Denn die Probleme hin zu einer "globalen Null" sind gewichtig, und ohne sich ihnen zu stellen, wird man das Ziel nie erreichen.

Gefragt sind daher kreative Lösungen. Ein wichtiger Schlüssel für die Erreichung des Ziels einer Welt ohne Kernwaffen liegt in einer verstärkten internationalen Zusammenarbeit - etwa hinsichtlich der künftigen Gestaltung des nuklearen Brennstoffkreislaufes wie auch militärischen Schutzinstrumenten wie der Raketenabwehr.

Eine Welt ohne Kernwaffen wäre keine Welt ohne zivile Atomenergieprogramme. Vielmehr ist in den kommenden Jahren mit mehr Kernkraftwerksnutzern zu rechnen. Solange diese nur mit von der IAEO überwachten Leichtwasserreaktoren arbeiten, sind die Gefahren heimlicher militärischer Zweckentfremdung relativ gering. Gefährlicher wird es hingegen, wenn sensitive Technologien wie Urananreicherung und Wiederaufbereitung hinzukommen. Sie lassen sich recht leicht für Atomwaffenprojekte nutzen. Daher muss das Ziel sein, die Verbreitung der entsprechenden Einrichtungen auf freiwilliger Basis zu begrenzen, und Kernkraftwerksbetreibern den Zugang zu nuklearem Brennstoff zu garantieren, ohne dass sie diesen mittels Urananreicherung selbst herstellen. Das Fernziel könnte darin bestehen, dass sich alle Staaten aus international betriebenen Anlagen versorgen. Entsprechende Diskussionen werden seit geraumer Zeit bei der IAEO geführt, und Russland hat bereits eine erste Anlage für die gesicherte Brennstoffversorgung identifiziert.

Auch wäre eine Welt ohne Kernwaffen keine Welt ohne Raketen. Künftig werden immer mehr Staaten in die friedliche wie auch die militärische Nutzung des Weltraums einsteigen. Vor allem aber wäre eine Welt ohne Atomwaffen keine Welt ohne Diktaturen. Deren Bereitschaft zu Transparenz wird immer begrenzt bleiben. Der effektiven Überwachung sind daher Grenzen gesetzt. Es bestünde also die Möglichkeit heimlicher Atomprogramme in einem Land, das auch über Raketen verfügt und somit schnell ein weitreichendes atomares Drohpotenzial aufbauen könnte. Gegen diese Gefahr ist eine Rückversicherung durch eine von möglichst vielen Staaten gemeinsam getragene Raketenabwehrarchitektur erforderlich. Die USA und Russland haben erste vorsichtige Sondierungen in diese Richtung unternommen. Doch bleibt dies ein sehr komplexes Vorhaben.

Der Gipfel der nuklearen Abrüstung bleibt wolkenverhangen, und wir wissen noch nicht, wie wir die vielen Gletscherspalten dorthin überwinden können. Dennoch müssen wir den Weg nach oben fortsetzen, denn unser derzeitiger Standplatz ist brüchig geworden, und unter uns tut sich eine tiefe Schlucht auf. In ihr lauert die Gefahr der nuklearen Anarchie und der Vernichtung ganzer Städte und Landschaften durch die stärkste Waffe, die der Mensch je entwickelt hat. Daher kann das Motto nur lauten: Der Weg ist das Ziel.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. den Wortlaut der Rede, online: www.oe24.at/welt/weltpolitik/Obamas-Rede-im-Wortlaut/506368 (25.10.2010).

Dr. rer. pol., geb. 1959; Senior Fellow für Fragen der Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung, Stiftung Wissenschaft und Politik, Ludwigkirchplatz 3-4, 12203 Berlin. E-Mail Link: oliver.thraenert@swp-berlin.org