Einleitung
Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Governance von Sicherheit in Räumen begrenzter Staatlichkeit, einem Bereich, der in der liberalen Staatstheorie der Polizei zugeschrieben wird. Das staatliche Gewaltmonopol ist das zentrale Argument zur Legitimierung des Staates und gilt als Kernaufgabe moderner Staatlichkeit. In vielen Staaten wird Sicherheit jedoch kaum von offiziellen Sicherheitskräften erbracht; der Staat verfügt über kein Gewaltmonopol. Es wäre aber falsch, anzunehmen, dass dort, wo es kein oder nur schwaches staatliches Policing gibt, allgemeine Unsicherheit herrscht. Zum einen zeichnet sich begrenzte Staatlichkeit dadurch aus, dass das Feld der Sicherheits-Governance andere Akteure als die Polizei umfasst. Zum anderen ist es oft die Polizei selbst, die als Unsicherheitsproduzent und Gewaltakteur auftritt.
Um die Praxis pluraler Sicherheits-Governance beschreiben zu können, gilt es deshalb, sich vom Fokus auf das Ideal moderner Staatlichkeit zu lösen. Das in der Politikwissenschaft vorherrschende, enge Verständnis von Governance als Regieren durch öffentlich-private Kooperation und Selbstregulierung im Schatten der Hierarchie geht hier jedoch nicht weit genug. Der Beitrag entwickelt ein breites, empirisch-analytisches Konzept von Sicherheits-Governance, das es erlaubt, die Brille des Staates abzusetzen und vergleichend aktuelle und historische, im Norden wie auch im Süden bestehende Formen des Ordnungserhaltes und der Herstellung physischer Sicherheit in Räumen begrenzter bzw. abwesender moderner Staatlichkeit zu untersuchen. Aus dieser Perspektive zeige ich, dass das staatliche Monopol der Sicherheits-Governance historisch eine Ausnahmeerscheinung statt die Norm darstellt. Ein Blick über den westlichen Tellerrand hinaus zeigt zudem, dass die in Europa und Nordamerika beobachteten "neuen" öffentlich-privaten Knoten von Sicherheits-Governance teilweise alten, fragmentierten Netzwerken des Policing in postkolonialen Staaten des Südens ähneln.
Lange bezog sich die Forschung zu Kriminalitätsbekämpfung und Gewaltkontrolle auf die spezialisierten staatlichen Organe wie die Polizei. Was zu den Funktionen der Polizei gehört, unterliegt jedoch historischem Wandel. Während sich im 18. Jahrhundert die "Polizeywissenschaft" mit der Gesamtheit staatlicher Verwaltung einschließlich der Wohlfahrt seiner Bürger beschäftigte, bestimmt Max Weber die Aufgabe der Polizei als den Schutz der persönlichen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung im modernen Staat.
In der Praxis haben sich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unterschiedliche Funktionsbereiche von Polizeiorganisationen herausgebildet, die von repressivem, auf Regimeerhalt ausgerichteten politischem Policing über die Polizei als sozialer Dienstleister und Kontrollinstanz bis hin zum Management von Kriminalität reichen. Ebenso wandelten sich die Wahrnehmung dessen, was als Sicherheitsproblem gesehen wird, und die Definition von Verbrechen.
Governance bietet eine Beobachtungsperspektive, mit der sich Strategien und Akteure des Regierens im oder auch jenseits des Staates erfassen lassen. Allerdings lässt der Begriff verschiedene Bedeutungsfelder zu. In der Politikwissenschaft herrscht ein Interesse für jene Formen von Governance vor, die sich im "verhandelnden Staat" seit den 1980er Jahren entwickelt haben, private Akteure in das Regieren einbeziehen und auf "weiche" Steuerungsmechanismen wie Verhandeln, das Setzen von Anreizen sowie das Argumentieren und Überzeugen zurückgreifen. Das Problem der Governance-Forschung in diesem engeren Sinn ist, dass sie moderne Staatlichkeit im Sinne eines regelgebundenen und demokratisch legitimierten Schattens der Hierarchie voraussetzt.
Entgegen dem engen Governance-Begriff der Politikwissenschaft, der sich auf Ko- und Selbstregulierung mittels weicher Steuerung durch private und öffentliche Akteure beschränkt, umfasst Sicherheits-Governance alle Akteure und Strategien des Policing. Dies macht es zu einer empirischen Frage, wer die relevanten (Un-)Sicherheitsakteure sind und ob sich diese weicher Steuerung oder Formen von Zwang und Gewalt bedienen, und nimmt den Staat a priori aus dem Zentrum der Analyse. Im Gegensatz zum Begriff des Policing umfasst Sicherheits-Governance außerdem die Prozesse der Rahmung und Durchsetzung von Problemwahrnehmungen und -lösungen. So wird der Blick geöffnet für historisch und regional spezifische Funktionsbereiche von Policing und ihre Verschiebung in Folge neuer (Un-)Sicherheitsdiskurse.
Sicherheits-Governance in Mitteleuropa und Nordamerika
In Europa wird der Erhalt der öffentlichen Ordnung im Innern gemeinhin allein der Polizei zugeschrieben. Bis in das 19. Jahrhundert hinein jedoch war Policing lokal ausgerichtet. Autorisiert von religiösen, ökonomischen, gemeinschaftlichen/familiären oder politischen Autoritäten waren es gesellschaftliche Institutionen und Gruppen, die diese Aufgabe umsetzten.
Das Ideal eines staatlichen Monopols des Policing ist im historischen Rückblick eine Ausnahme. In der Praxis ist die Polizei dem Ideal, alleinige Garantin innerer staatlicher Ordnung zu sein, ferngeblieben, umso mehr in den vergangenen 30 Jahren. Heutige Formen der Sicherheits-Governance ähneln stärker denen des 18. Jahrhunderts und nähern sich Strukturen vor der Entstehung der Polizei an. Dieser Aspekt lässt sich an der Pluralisierung des Akteursspektrums festmachen. Nichtstaatliche Akteure haben an Bedeutung gewonnen, die allein oder mit dem Staat Schutzfunktionen übernehmen und sich an der Prävention und Verfolgung von Kriminalität beteiligen. Sicherheits-Governance wird zunehmend kommerziell über den Markt vertrieben. Die Zahl der Angestellten privater Sicherheitsfirmen übersteigt in vielen Ländern die Zahl der Polizisten. Einerseits lagern Staaten Schutzleistungen an private Anbieter aus, etwa die Bewachung von Regierungsgebäuden in London und Berlin. Andererseits greifen Privatpersonen und Unternehmen auf Private Security Companies (PSC) zurück, um Wohnanlagen, Shopping Malls, Betriebsgelände und Transportwege zu schützen.
Außerdem spielen sowohl nichtkommerzielle Initiativen der Selbsthilfe als auch des in Partnerschaft mit dem Staat betriebenen Community Policing eine wichtige Rolle, zu denen Nachbarschaftskomitees und Bürgerwehren gehören. In den USA hat der Staat seine Bürger nie entwaffnet, und private Milizen agieren insbesondere im ländlichen Raum. Schließlich etablierten sich auch in modernen liberalen Staaten staatsferne Räume. Zum einen sind dies Gebiete in den Banlieues der Großstädte, die von nichtstaatlichen Gewaltakteuren wie kriminellen Banden und Mafiastrukturen kontrolliert werden. Aber auch im ländlichen Raum liegt die Kontrolle bei nichtstaatlichen Akteuren, etwa bei der Mafia in Sizilien. Zudem hat es immer autonome Provinzen und Gebiete gegeben, in denen der Zentralstaat keine primäre Regelungskompetenz beansprucht, sondern diese der lokalen Selbstverwaltung überlassen hat, wie in einigen Provinzen Spaniens (Baskenland, Katalonien), aber auch in Schottland. Der Konflikt zwischen dem amerikanischen Staatsprojekt und der indigenen Bevölkerung führte zur Einrichtung selbstverwalteter Reservate der Native Americans.
Dieser Punkt zeigt, dass in Zentraleuropa und in Nordamerika der zentrale Nationalstaat in der Praxis die Governance innerer Sicherheit nie vollständig und allein ausgeübt hat. Jedoch verdeckte die Ideologie der Polizei als alleiniger Bereitstellerin von Sicherheit diese Realität bis in die 1990er Jahre und verdrängte sie aus der Wahrnehmung (und aus der politikwissenschaftlichen Forschung). Seitdem wird dagegen im Westen vom Aufkommen neuer Formen der Governance von Sicherheit gesprochen, in denen die staatliche Polizei nur noch ein Akteur unter vielen ist.
Sicherheits-Governance in der "Dritten Welt"
In der "Dritten Welt" ist die Pluralisierung von Sicherheits-Governance kein neues Phänomen. Die westliche Sonderentwicklung wird besonders deutlich vor dem Hintergrund, dass viele Staaten nie die Kontrolle über die Gewaltanwendung in ihrem Territorium erlangt und nicht-staatliche (Un-)Sicherheitsakteure ihrer Regelungsmacht unterworfen haben. Plurale Akteursnetzwerke und überlappende Autoritätsbereiche sind also nicht nur historisch aus der Zeit vor dem 19. Jahrhundert bekannte Formen des Regierens, sondern Wesensmerkmal des Regierens im vorkolonialen Afrika wie auch im kolonialen und postkolonialen Staat des 19. und 20. Jahrhunderts.
Vorkoloniale bzw. staatsferne Gesellschaften haben vielfältige Mechanismen entwickelt, die Aufrechterhaltung unterschiedlicher sozialer Ordnungen zu sichern und abweichendes Verhalten und Bedrohungen zu definieren, abzuwehren und zu sanktionieren. Diese zeichnen sich durch ihre lokale Begrenztheit und ihren kommunalen Charakter aus und stehen wie in der europäischen Geschichte in engem Zusammenhang mit religiösen und sozialen Mechanismen der Anleitung, Kontrolle und Sanktionierung des Handelns. Hierarchisch organisierte traditionelle Ordnungen haben teilweise ein spezialisiertes Organ für Aufgaben des Policing, viele kommen aber auch ohne solche aus.
Erst mit dem Export von Staatlichkeit im Rahmen der Kolonisierung der "Dritten Welt" beginnt hier die Geschichte der Polizei. Zentralisierte Polizeiorgane traten zunächst zur Absicherung staatlich beauftragter bzw. legitimierter Fremdherrschaft durch private Unternehmen auf. Im 18. und 19. Jahrhundert erlangten europäische Handels- und Konzessionsgesellschaften formale Herrschaftsrechte über große Gebiete Afrikas und schützten ihre Investitionen in die Bergbauindustrie mit Hilfe eigens aufgestellter Gendarmerien bzw. einer kleinen Anzahl kolonialer Truppen. So war die private Polizei der British South Africa Company vor allem mit der Eintreibung der Hüttensteuer und der Beschaffung und Kontrolle von Arbeitskräften beschäftigt.
Hybride Staatlichkeit. Wegen ihrer Unvollständigkeit müssen die zeitgenössischen Formen von Sicherheits-Governance in der "Dritten Welt" im Zusammenhang mit den spezifischen Prozessen der nachkolonialen Staatsbildung verstanden werden. Entgegen der Modernisierungstheorie, derzufolge die Entwicklung Europas dort "nachgeholt" werde, haben sich als Ergebnis der Machtkämpfe zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Eliten um Autorität und Herrschaft hybride Formen von Staatlichkeit stabilisiert, in denen die Monopolisierung der Gewalt durch den Zentralstaat unvollständig geblieben ist. Der Staat muss sich unter permanenter Aushandlung mit lokalen Machzentren und der Herrschaft durch Intermediäre nach innen behaupten.
Staatlichkeit in der "Dritten Welt" zeichnet sich dadurch aus, dass der staatliche Herrschaftsanspruch geographisch und sozial nur begrenzt durchgesetzt wurde. In der Regel nehmen Präsenz und Einfluss zentralstaatlicher Akteure mit steigender Entfernung von urbanen Zentren sowie Zentren der Exportproduktion ab. Staatsferne Räume und soziale Gruppen finden sich aber auch in den Slums afrikanischer und lateinamerikanischer Großstädte. Schwache Regierungen verhandeln mit lokalen Intermediären wie traditionellen Chiefs oder multinationalen Unternehmen über kooperative Formen des Regierens.
So sind fragmentierte Konfigurationen hybrider Staatlichkeit entstanden, deren Regelungskapazität oft grundsätzlich schwach, aber gleichzeitig punktuell umso stärker ist. Jedoch dürfen repressive Praktiken der Polizei nicht mit der Stärke eines Staates verwechselt werden: Der sporadische Rückgriff auf despotische, repressive Macht kann als Zeichen für mangelnde infrastrukturelle Macht eines Regimes, die darin bestünde, die Gesellschaft zu durchdringen und Regelungen mittels eines Verwaltungsapparates durchzusetzen, interpretiert werden.
Ineffektive Polizei. In vielen Staaten der "Dritten Welt" wird die Polizei als abwesend und ineffektiv oder gar als korrupt und brutal erlebt; oft gilt sie selbst als der größte Unsicherheitsfaktor. Polizisten dienen partikularen Interessen, so dass Christopher Clapham auch staatliches als privates Policing beschreibt.
Polizisten, wie die meisten Staatsbediensteten in diesen Ländern, werden in der Regel schlecht bezahlt. Sie verfügen kaum über die Mittel, die für die Bekämpfung von Kriminalität nötig wären. Es fehlt an Autos, Benzin, Funkgeräten und Mobiltelefonen, aber auch an spezialisierter Ausbildung. Jedoch verhilft ihnen die Uniform zum Zugang zu Netzwerken und Gelegenheiten für zusätzliche Einkünfte. In der Demokratischen Republik Kongo (DRC) herrscht zum Beispiel das vom Präsidenten ausgegeben Prinzip des debrouillez-vous, der Aufforderung also, sich Einkommensquellen zu verschaffen statt auf staatliche Lohnzahlungen zu warten; dies hat hohe Alltagskorruption und die Beteiligung von Polizei (und Militär) an illegalen ökonomischen Aktivitäten vorwiegend im Bergbausektor zur Folge. In den Metropolen Mexikos und Argentiniens ist die Zusammenarbeit von Polizeibeamten mit dem organisierten Verbrechen eines der Hauptprobleme.
Dies führt bis zu dem Punkt, dass die Polizei wie ein kommerzieller Sicherheitsanbieter agiert. In der DRC wurden 2003 so genannte Partnerschaften zwischen der Police Nationale Congolaise und Privatunternehmen wie Banken und Bergbauunternehmen sowie den privaten Sicherheitsfirmen formalisiert. Lukrative Tagesraten und Schmiergelder führen dazu, dass ein großer Teil der staatlichen Polizei allein Schutzleistungen für Private erbringt. Ein Kommandeur der Provinzpolizei in Katanga unterstreicht dies, indem er seine Behörde als einen unter vielen Anbietern beschreibt: "Par rapport aux autres sociétés de gardiennage ils [les dirigeants des entreprises minières, J.H.] préfèrent nous" ("Im Vergleich mit anderen Sicherheitsunternehmen nehmen Bergbauunternehmer lieber uns.").
Kommunale und kommerzielle Sicherheits-Governance. Unter solchen Umständen wendet sich die Bevölkerung zur Lösung von Konflikten oder zur Verfolgung von Kriminalität gerade nicht an die Polizei. Aber leben Menschen in Räumen begrenzter Staatlichkeit deshalb ohne Ordnung und Schutz, oder, anders gefragt, ist Gewaltkontrolle ohne den Staat denkbar? Laut Bruce Baker bestehen solche Ordnungen aus "dispersed power nodes in the absence of sovereignty".
Die Globalisierung des Sicherheitsmarktes hat auch in der "Dritten Welt" Spuren hinterlassen. Die Dienste privater Sicherheitsfirmen werden von Großunternehmen, internationalen Organisationen und auch von Mitgliedern der Mittel- und Oberschicht in Anspruch genommen. Es entsteht ein Bild selektiver Sicherheitsproduktion, in welcher der Zugang zu sicheren Räumen über den Markt höchst ungleich verteilt wird. Dies trifft nicht nur aus der Sicht des Einzelnen und sozialer Gruppen zu, sondern auch für Staaten, denn auch sie greifen auf private Schutzleistungen zurück. In den Kriegen in Sierra Leone und der DRC haben die Regierungen jeweils Private Military and Security Companies (PMSC) eingesetzt. Auch die USA setzen in Afghanistan und im Irak eine Vielzahl privater Anbieter ein.
Angesichts der Pluralisierung und Kommodifizierung von Sicherheit ist eine Trennung nach öffentlichen und privaten Akteuren wenig sinnvoll. Akteure entsprechend ihrer formalen Position dem staatlichen bzw. nicht-staatlichen Bereich zuzuordnen, kann ebenfalls in die Irre führen, wenn Polizisten und Beamte im öffentlichen Amt kriminellen Aktivitäten und/oder partikularen Interessen nachgehen. Auch die Vermischung von Aufgaben, die nicht-staatliche Akteure formell oder informell durch den Staat autorisiert übernehmen, erschwert eine sinnvolle Kategorisierung.
Transnationale Sicherheits-Governance
Im Sinne einer "Provinzialisierung Europas"
Auch die Sicherheits-Governance, die bis ins 18. Jahrhundert lokaler Natur war, unterliegt heute Prozessen der Globalisierung. Gleichzeitig ist eine Transnationalisierung staatlicher Sicherheitsinnenpolitik zu beobachten, welche die Grenzen zwischen der Herstellung von Sicherheit im Innern und nach Außen verwischt; transnationale Polizeioperationen und von außen betriebener Staatsaufbau machen dies deutlich.