Einleitung
Welche Besonderheiten existieren für Wähler und Mobilisierer unmittelbar vor der Bundestagswahl 2009? Was charakterisiert die neue Qualität des Parteienwettbewerbs in Deutschland? Die Bundestagswahl von 2005 hatte die Qualität von critical elections: Es wird nie mehr so, wie es vorher einmal war.
Erschwert wird die Unübersichtlichkeit dadurch, dass das Potenzial der SPD als Multikoalitionspartei eingefroren ist. Zumindest bis zur nächsten Bundestagswahl wird die Tabuisierung der Linken auf Bundesebene gepflegt. Vielparteienparlamente können zwar noch zu Zweierkoalitionen führen, aber weniger verlässlich als zu früheren Zeiten. Sogenannte Lager- oder Traditionskoalitionen werden durch neue Varianten zur Regierungsbildung ersetzt, etwa durch lagerübergreifende Zusammensetzungen (z.B. Schwarz-Grün), neue Regierungs- bzw. Koalitionstypen (z.B. Große Koalitionen, Dreier-Bündnisse) oder neue Regierungsformate (z.B. Minderheitsregierungen).
Koalitions-Lotterie: Neue Formeln zur Macht
Wer nicht nur rechnerische, sondern belastbare politische Mehrheiten sucht, muss sich zukünftig auf dem Koalitionsmarkt tummeln. Der deutsche Parteienwettbewerb hat somit hinsichtlich der Fragmentierung, Segmentierung und Polarisierung Dimensionen angenommen, die vergleichbar sind mit denen auf europäischer Ebene.
Die Auszehrung und Selbstverzwergung der Volksparteien durch ein Regieren in Großen Koalitionen und einen wachsenden Koalitionsmarkt
Weichgespülte Lager: Lähmungswirkungen der Großen Koalition
Der neue Koalitionsmarkt deutet darauf hin, dass nach 2005 eine deutlich veränderte Wettbewerbskonstellation entstanden ist.
Doch dieses linke ist ein "defektes Lager" (Joachim Raschke). Denn im Bund möchte die SPD mit der Linken (noch) nicht koalieren. Und die Grünen gehören nur noch kulturell zum linken Lager, nicht jedoch im Hinblick auf die wahlsoziologischen Befunde, nach denen sie vom bürgerlichen Mittewähler favorisiert werden.
Politische Arithmetik besteht jedoch nicht in der Addition von Wählerstimmen - wie bei Zufallsmehrheiten -, sondern koalitionsgemäß in der Kombinierbarkeit politischer Absichten. Und diese sind im sogenannten bürgerlichen Lager der konservativen Mitte-rechts-Parteien (CDU/CSU und FDP) klarer kombinierbar als beim "defekten Lager". Die Stärkeverhältnisse dieser beiden Blöcke haben sich in der Wählerschaft seit 2005 nur marginal verändert. Sie wirken eingefroren. Nur innerhalb der Lager zeigt sich Volatilität. Doch die Versuche, alte Konfrontationen zu reaktivieren, treffen auf eine Wettbewerbskonstellation, die nur noch weichgespülte Lager erkennen lässt.
Die Große Koalition hat ihre lähmenden Spuren hinterlassen. Selbst die Ränder sind in den beiden Volksparteien nach vier Jahren konturlos. In der Konsequenz scheiden auch "Furcht-Szenarien" aus: Weder die marktradikale Kälte einer schwarz-gelben Koalition noch ein postsozialistisches Gespenst des linken Lagers können auf Resonanz hoffen. Im Gegenteil: Jede Pointierung im Wahlkampf könnte am Ende die letzten tausend Stimmen kosten, die eine rechnerische Mehrheit ermöglichen.
Mobilisierungs-Paradoxien: Widersprüchliche Signale
Mit der Ferienzeit liegt eine gedehnte Phase der Entschleunigung unmittelbar vor der entscheidenden Etappe des Bundestagswahlkampfes. Ein Viertel aller Wählerinnen und Wähler entscheidet mittlerweile erst in der letzten Woche vor der Wahl, welcher Partei sie bzw. er die Stimme gibt.
"Umrechnungs-Paradoxon": Es existiert eine vom Bundesverfassungsgericht im Juli 2008 höchstrichterlich als "widersinnig" eingestufte Paradoxie, die mit den Überhangmandaten und dem sogenannten negativen Stimmengewicht zusammenhängt: Ein Mehr an Stimmen kann unter bestimmten Umständen zu einem Weniger an Mandaten führen. Bis 2011 muss der Gesetzgeber das Wahlrecht ändern.
Wie hoch wäre dann die politische Legitimität der Regierung - zumal in Zeiten der Wirtschaftskrise, in der drastische Verteilungskonflikte voraussichtlich zunehmen werden? Die Frage nach der Legitimität stellt sich nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zugespitzt.
"Abwahl-Paradoxon": Auch das Regierungsformat der Großen Koalition führt zu Kuriositäten. Das Hauptmotiv von Wählern ist häufig, eine Regierung abzuwählen, oder zumindest politische Macht neu zu verteilen. Das kann aber diesmal nicht gelingen, denn die Große Koalition will gar nicht mehr antreten und führt auch keinen Koalitionswahlkampf. Von Beginn an galt die Große Koalition als strategische Gemeinschaft der Wahlverlierer.
"Ungleichzeitigkeits-Paradoxon": Mobilisieren ist für Parteistrategen 2009 auch deshalb so schwer, weil es besonderer Erklärungen über aktuelle Partei-Sympathien bedarf. Wie erklärt sich das "Gelb-Fieber", das Umfragehoch der FDP in der Wirtschafts- und Finanzkrise? Hatten die Liberalen nicht zum Chor der marktradikalen Befürworter gehört, wobei zügel- und regellose Märkte doch mit zu den Auslösern der Krise gerechnet werden können?
Krisengewinner müsste eigentlich Die Linke sein, die als einzige Partei linke Kapitalismuskritik salonfähig machte. Doch für sie ist ein Krisenbonus in den Umfragen nicht erkennbar. In der Wahrnehmung vieler Wähler müssten die Umfragedaten für FDP und Linke normalerweise in die umgekehrten Richtungen weisen. Die Erklärungen für dieses Phänomen ergeben sich sachlogisch: Nicht Sympathie und Rechthaberei sind im Wahljahr gefragt, sondern ökonomische Sachkompetenz, die wiederum eine Mehrzahl der Wähler bei der FDP, nicht aber bei den Linken vermutet.
"Lindenstraßen-Paradoxon": Wer die Große Koalition als Dauerserie ohne absehbares Ende verhindern möchte, muss die Parteien der Großen Koalition wählen. Nur wenn die Volksparteien genügend Stimmen erhalten, reicht es am Ende für Koalitionen mit kleineren Parteien.
"Abschwung-Paradoxon": Wirtschaftliche Abschwungphasen stellten bislang immer schwierige Rahmenbedingungen dar, um wiedergewählt zu werden. Auch diese Regel könnte 2009 durchbrochen werden. Trotz eines historisch einmaligen Minus-Wachstums (Rezession in Höhe von sechs Prozent des BIP) deuten die Umfragedaten im Moment nicht darauf hin, dass sich die Kanzlerschaft Merkels dem Ende zuneigt. Die Fortsetzung der Großen Koalition würde ihre Kanzlerschaft ebenso sichern wie nicht ganz unwahrscheinliche schwarz-gelbe oder schwarz-grüne Mehrheiten.
"Ampel-Paradoxon": Die SPD hat ein zusätzliches Paradoxon geschaffen. Sie kämpft offiziell gegen Schwarz-Gelb und plakatierte bereits im Europawahlkampf die "Finanzhaie" gegen die FDP. Andererseits braucht sie die Liberalen am Wahlsonntag nach 18Uhr vermutlich dringend. Denn nur eine Ampel-Koalition (Rot-Gelb-Grün) kann Steinmeier realistischerweise ins Kanzleramt bringen.
Die Mobilisierung der eigenen Anhänger ist für die CDU und die SPD - auch unabhängig von diesen Paradoxien - im Wahljahr 2009 extrem schwierig. Denn weder Merkel noch Steinmeier sind Wahlkampf-Heroen. Sie sind als Exzentriker der Parteiendemokratie an die Spitze der Partei bzw. in die Position des Kanzlerkandidaten gekommen.
Frank-Walter Steinmeier kann noch weniger als Angela Merkel auf eine enthusiastische Unterstützung im eigenen Lager hoffen. Dafür gilt er zu sehr als "Schröderianer" und bleibt in Mithaftung für die Agenda 2010.
Postmoderne Regierungsbildung: Europäische Formate
Die strukturierte Vielfalt am Wählermarkt,
Multiple Koalitionen: Neue Konstellationen führen zu neuen Koalitionen. Lagerübergreifende, multiple Koalitionen mit drei und mehr Partnern könnten mathematisch notwendig werden. Ob sie sich inhaltlich im Sinne von neuen Problemsichten- und Lösungsansätzen bewähren, entscheidet der Wähler. Faktisch liegt die Kraft der Innovation solcher Koalitionen in der Ausprägung veränderter Perspektiven auf neue gravierende Konfliktlinien, die in Traditionsformationen nicht mehr lösbar erscheinen. Den Kanzler bzw. die Kanzlerin könnte auch der jeweils kleinste Koalitionspartner stellen. Das würde die Kraft politischer Kollegialität stärken.
Machtwechsel ohne Ankündigung: In den vergangenen 60 Jahren fanden die meisten Machtwechsel wählerunabhängig statt, also ohne vorausgehende Bundestagswahlen.
Machtwechsel mit Rotations-Ankündigung: Ebenso ist vorstellbar, dass ein Termin vereinbart wird, wann der amtierende Kanzler zurücktritt und einem Rotationsmodell folgend der Vizekanzler zum Regierungschef gewählt wird. Unvergleichbar, aber dennoch mit gewissen Analogien, hatte sich bereits 1961 die FDP im Koalitionsvertrag mit der Union zusichern lassen, dass Konrad Adenauer nach zwei Jahren Regierungszeit einem anderen CDU-Kanzler Platz macht - was allerdings nicht eingelöst wurde.
Minderheitsregierung mit präsidentiellem Steuerungsmodell: Der Bundespräsident könnte zum Kanzlermacher werden.
Es könnte zum präsidentiellen Entscheidungshandeln in Krisenzeiten kommen, wenn sich keine Kanzlermehrheiten abzeichnen oder monatelange Sondierungen der Parteien um Koalitionsmehrheiten vorprogrammiert sind. Wie lange soll der Bundespräsident bei unklaren Mehrheiten darauf vertrauen, dass sich eine stabile Koalition findet? Wann wäre ein Vorschlag angebracht, eine unverbrauchte Kandidatin oder einen Kandidaten - also nicht die Spitzenkandidaten der Parteien im Wahlkampf - mit einer Regierungsbildung zu betrauen?
Bislang hat das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten in der Staatspraxis keine größere Bedeutung gewonnen, was sich aber nach der Wahl 2009 ändern könnte. Sicher würde der Präsident nur einen "Kanzlerkandidaten" vorschlagen, bei dem er durch nicht-öffentliche Vorsondierungen sicher ist, dass er eine Mehrheit organisieren kann. Der Kandidat braucht kein Mandat im Bundestag und er muss keinesfalls der stärksten Fraktion angehören. Nur innerhalb einer Koalition hat bislang stets die stärkste Fraktion den Anspruch erhoben, den Kanzler zu stellen. Doch auch das ist nur Konvention, kein Verfassungsrecht.
Eine vom Bundespräsidenten legitimierte Minderheitsregierung (Allparteienmodell oder Einparteienmodell) könnte wie in skandinavischen Ländern Erfolg haben, wenn im Bundestag prinzipiell mehrere Optionen der Mehrheitsfindung mit verschiedenen Parteien für Sachkoalitionen vorhanden sind. Regierungs-, Stütz- oder Tolerierungsfraktionen
Ratlose Ruhe: Sicherheitskonservatismus
Die Wirtschafts- und Finanzkrise stellt das Politikmanagement unter extreme Bedingungen von Komplexität und Unsicherheit.
Wie wirkt sich dieser Schwund an Gewissheiten auf politische Einstellungen aus? Die Große Koalition hat wenige Monate vor ihrem selbst herbeigesehnten Ende erstmals auch ein großes Mandat zum Handeln erhalten. Bei Angela Merkel schien sich bislang das Besondere ihrer Kanzlerschaft auf das Ausnahmeformat der Koalition zu beziehen und immer wieder auf die Anerkennung, als erste Frau zur Kanzlerin gewählt worden zu sein.
Noch herrscht ratlose Ruhe. Kaufmännisch-kühl betrachten die Wähler das Krisenszenario. Das Primat der Politik scheint zurückgekehrt. Die Regierungen erkämpfen sich Tageserfolge, ohne zu verhehlen, dass sie nicht wissen, ob ihre Entscheidungen sich als richtig erweisen werden. Auf der Suche nach Schuldigen für die Krise fehlt unserer Wut ein Adressat. Insofern ist unklar, wie sich die politischen Einstellungen der Wähler bis zum Wahltag entwickeln. Radikalisiert sich die Straße? Oder gilt das Hauptaugenmerk der individuellen Absicherung? Kann die Große Koalition unter solchen Bedingungen als Gewinnerin aus der Krise hervorgehen?
Vieles deutet darauf hin, dass in diesem Wahljahr noch weniger als bisher die Sympathie der Kandidaten oder der Parteien entscheidet. Was zählt, sind offenbar Erfahrung im Krisenmanagement und die Ausstrahlung ökonomischer Kompetenz. Unsichere Wähler wählen keine unsicheren Politiker.
Das "Superwahljahr" 2009 wird überschattet von den Konturen des Neuen. Der Parteienwettbewerb steht einer strukturierten Vielfalt der Wähler gegenüber. Multioptionswahlkämpfe voller Paradoxien setzen traditionellen Mobilisierungsstrategien Grenzen. Das Wählen im Schatten der Großen Koalition und der Wirtschaftskrise erreicht eine Eigengesetzlichkeit, die sich historischen Analogien entzieht.