Einleitung
Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, schrieb der im Jahr 2002 verstorbene Philosoph John Rawls in seiner "Theorie der Gerechtigkeit", welche die Debatte um eine gerechte Gestaltung der Gesellschaft in den vergangenen dreißig Jahren wesentlich mitbestimmt hat.
Die Herstellung von Gerechtigkeit durch die Ermöglichung von Chancengleichheit bezog sich in der Vergangenheit aber meist auf Gleichheit von Chancen innerhalb eines Nationalstaats. Materielle Chancengleichheit blieb damit ein partikulares Recht, insofern sie immer nur den Bürgerinnen und Bürgern des jeweils eigenen Staates vorbehalten war. Angehörige anderer Staaten blieben von ihr ausgeschlossen. Im Zuge der europäischen Integration ist diese nationalstaatlich begrenzte Chancengleichheit jedoch langsam aber stetig aufgebrochen worden.
Von der nationalen zur europäisierten Chancengleichheit
Ohne Zweifel waren die europäischen Gesellschaften des späten 19. und des 20. Jahrhunderts nationalstaatlich verfasste Gesellschaften. Wie der britische Soziologe Thomas H. Marshall gezeigt hat, war der Prozess der Nationenbildung einer der wichtigsten Voraussetzungen für die soziale Integration dieser Gesellschaften
Auch wenn Marshall seinerzeit ausschließlich den Prozess der nationalstaatlichen Integration vor Augen hatte, zeigen sich Parallelitäten zum Prozess der Europäischen Integration seit Mitte der 1950er Jahre. Diese hat die zuvor nationalstaatlich begrenzte Chancengleichheit zumindest formal nachhaltig verändert. Die EU garantiert, dass alle Bürger der Mitgliedsländer Zugang zu den europäischen Arbeitsmärkten und damit zu den jeweiligen nationalen sozialen Sicherungssystemen und zur politischen Partizipation auf kommunaler Ebene erhalten. Dabei ist die Idee der europaweiten Chancengleichheit im Bereich des Arbeitsmarkts am weitesten fortgeschritten.
Damit die Unionsbürger ihr Recht auf Freizügigkeit tatsächlich und vollständig nutzen können, ist die Frage nach deren sozialer Sicherung im Falle einer Abwanderung in einen anderen Mitgliedstaat von erheblicher Bedeutung. Ausländische Unionsbürger haben bezüglich der Sozialleistungen dieselben Rechte und Pflichten wie inländische Unionsbürger, das heißt, sie erhalten die gleichen Leistungen zu denselben Bedingungen. Höhe, Umfang, Art und Dauer der Leistungen sind abhängig von den im jeweiligen Wohnstaat geltenden Gesetzen. Es ist in der Regel nicht möglich, Ansprüche im Wohnstaat geltend zu machen, die sich an den Leistungen im Herkunftsland orientieren. Neben Arbeitnehmern, Selbständigen, Beamten, Studierenden und Rentnern sind auch nichterwerbstätige Personen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, sozial abgesichert. Derzeit sind folgende Bereiche der sozialen Sicherheit durch EU-Regelungen abgedeckt: Krankheit, Mutterschaft, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Familienleistungen, Rente und Sterbegeld.
Schließlich wurde auch ein Teil der politischen Rechte europäisiert. Dazu zählen neben der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und der Koalitionsfreiheit das Recht auf diplomatische oder konsularische Vertretung gegenüber Nicht-EU-Staaten durch den Mitgliedstaat, in dem sich der Wohnort des EU-Bürgers befindet, das Petitionsrecht gegenüber dem EU-Parlament sowie das Recht zur aktiven und passiven Teilnahme an der Wahl zum Europäischen Parlament. Eine der wichtigsten Regelungen, die den Wohnstaat betreffen, ist, dass die EU-Bürger im Mitgliedstaat ihres Wohnsitzes an Kommunalwahlen teilnehmen und auch kandidieren dürfen.
Gerechtigkeitsvorstellungen der Bürger
Findet die europäisierte Chancengleichheit aber auch bei den Bürgern Europas Zustimmung oder bleiben diese weiterhin der nationalstaatlich begrenzten Vorstellung von Chancengleichheit verhaftet, die zwischen Inländern und Ausländern unterscheidet? Diese Frage erhält eine zusätzliche Bedeutung dadurch, dass im Falle einer weit verbreiteten Inanspruchnahme der europäisierten Rechte durch die Unionsbürger der Wettbewerb um Ämter und Positionen in bestimmten Ländern zunehmen wird. In gleicher Weise könnte die Zahl der Anspruchsberechtigten für öffentliche Transfer- und Sozialleistungen in manchen Mitgliedstaaten steigen. Und im politischen Bereich könnte in einigen Kommunen das Wahlverhalten von ethnischen Minoritäten für den Wahlausgang ausschlaggebend werden, was wiederum ethnisch motivierte Abwehrreaktionen hervorrufen und von rechtspopulistischen Parteien politisch genutzt werden könnte.
Zur Frage, ob die Bürger eine Europäisierung der Chancengleichheit unterstützen, haben wir 2006 in Deutschland zwei Pilotstudien in Form repräsentativer Umfragen durchgeführt, aus denen wir nun einige Ergebnisse vorstellen.
a) Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt: Gefragt wurde, ob es gerecht sei, dass "Arbeitnehmer aus einem anderen Mitgliedsland der EU in Deutschland arbeiten dürfen, auch wenn es für manche Deutsche dann schwieriger wird, einen Job zu bekommen". Die Ergebnisse sind bemerkenswert (Abbildung): Fast zwei Drittel der Befragten stimmen der Chancengleichheit für EU-Ausländer zu. Blickt man auf die nach Herkunft eines Arbeitnehmers unterscheidenden Fragen, so ergibt sich ein nach Wohlstandsniveau abgestuftes Bild: Den französischen Arbeitnehmern werden häufiger gleiche Chancen zugebilligt als den polnischen Arbeitnehmern (72 bzw. 62 %). Gleiches gilt auch für die türkischen Bürger, deren zukünftige Mitgliedschaft in der EU ja nach wie vor umstritten ist. Hier plädieren noch 54 Prozent der Befragten für gleiche Chancen. Insgesamt gilt damit, dass die Vorstellung, Bürger aus dem europäischen Ausland sollten den gleichen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt haben wie deutsche Arbeitnehmer, von fast zwei Dritteln der Bürger akzeptiert wird. Die Europäisierung der Arbeitsmärkte, wie sie von der EU betrieben wurde, findet also bei den Bürgern der Bundesrepublik überwiegend Zustimmung.
b) Gleicher Zugang zu staatlichen Transferleistungen: Gefragt wurde, ob "ausländische EU-Bürger, die in Deutschland arbeiten, die gleichen Sozialleistungen wie die Deutschen bekommen können sollen". Hier unterstützten 80 Prozent der Befragten die Idee, dass EU-Ausländer in Deutschland die gleichen Rechte auf Sozialleistungen haben wie sie selbst. Weiterhin zeigt sich, dass die Bürger kaum zwischen den verschiedenen Ausländergruppen unterscheiden. Die Zustimmungsraten für Franzosen, Polen und Türken liegen sehr nahe beieinander (alle über 80 %). Wenn es um den Zugang zu Sozialleistungen geht, machen die Bürger offensichtlich keinen Unterschied nach dem Wohlstandsniveau des Landes, aus dem die Menschen kommen.
c) Gleicher Zugang zu kommunalpolitischen Ämtern: Schließlich haben wir überprüft, ob die Deutschen anderen EU-Bürgern auch das gleiche Recht zubilligen, ein politisches Amt auszuüben. Da das EU-Recht neben dem aktiven auch das passive Wahlrecht auf kommunaler Ebene vorsieht, haben wir die Interviewten gebeten, uns ihre Meinung zu folgender Aussage mitzuteilen: "Ich fände es in Ordnung, wenn ein ausländischer EU-Bürger zum Bürgermeister in meiner Gemeinde gewählt würde." Wie auch in der Abbildung zu sehen ist, sind die Befragten im Vergleich zu den vorangegangenen Rechtsbereichen deutlich zurückhaltender: Nur noch knapp die Hälfte der Befragten unterstützt das allgemeine passive Wahlrecht für EU-Ausländer.
Erneut finden wir die bereits bekannte Abstufung nach nationaler Herkunft wieder, wobei sich die Mehrheit der Befragten für das gleiche Recht für französische (51 %), aber nicht für polnische (46 %) und türkische (42 %) Bürgermeisterkandidaten ausspricht. Allerdings muss man diese Befunde im Lichte der Tatsache bewerten, dass die Wahl eines ausländischen Bürgermeisters eine konkrete Einschränkung des politischen Rechts auf nationale Selbstbestimmung darstellt, die im Selbstverständnis vieler deutscher Bürger bisher nicht verankert ist. Dies scheint insbesondere dann zu gelten, wenn der Bürgermeister, wie im Falle der Türkei, einer anderen religiös-kulturellen Tradition entstammen würde. Insofern ist es für uns viel bemerkenswerter, dass dennoch fast die Hälfte der Befragten auch dieses von der EU garantierte, an ein konkretes politisches Amt gebundene Recht auf Chancengleichheit akzeptiert.
Chancengleichheit unter Kostenbedingungen
Die Ergebnisse zeigen, dass die Idee einer grenzüberschreitenden Chancengleichheit von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung offenbar getragen wird. Einstellungen zu sozialen Tatbeständen bilden die Haltungen der Menschen jedoch nur teilweise ab. Denn wir wissen nicht, ob und in welchem Ausmaß die in Umfragen geäußerten Wertvorstellungen auch das alltägliche Verhalten der Menschen anleiten. Wenn zum Beispiel ein deutscher Unternehmer zum Ausdruck bringt, dass Deutsche und Polen seiner Auffassung nach das gleiche Recht haben, in Deutschland einer Berufstätigkeit nachzugehen, so wissen wir nicht, ob diese Einstellung auch dazu führt, dass der Befragte in einem Einstellungsverfahren deutsche und polnische Bewerber gleich behandeln würde. Und wir wissen auch nicht, ob die Befragten ihren Einstellungen treu bleiben, wenn ihre Wertorientierungen in der Realität mit möglichen Einschränkungen verbunden sind. Andere Forschungen haben gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Personen sich von ihren Werten in konkreten Entscheidungssituationen leiten lassen, unter anderem von den möglichen Kosten einer Situation abhängt.
Ob die im letzten Abschnitt beschriebenen hohen Zustimmungsraten auch dann Bestand haben, wenn mit einer europäischen Chancengleichheit persönliche Einbußen verbunden sind, möchten wir am Beispiel der Chancengleichheit im Zugang zu Sozialleistungen analysieren und diskutieren. Dazu haben wir die Befragten vor eine Entscheidungssituation gestellt: "Stellen Sie sich jetzt bitte folgende fiktive Situation vor: Weil alle in Deutschland lebenden EU-Bürger das gleiche Kindergeld wie die Deutschen erhalten, sähe sich die Politik aus Haushaltsgründen gezwungen, das Kindergeld für alle zu kürzen. Wie stehen Sie zu folgenden Vorschlägen?"
"Ausländische EU-Bürger sollten auch dann das gleiche Kindergeld wie deutsche Familien bekommen, wenn dadurch das Kindergeld für alle um 20 Euro gekürzt werden müsste."
"Ausländische EU-Bürger sollten auch dann das gleiche Kindergeld wie deutsche Familien bekommen, wenn dadurch das Kindergeld für alle um 100 Euro gekürzt werden müsste."
Die Befragten sollten nun für jede der beiden Antwortvorgaben ihre Meinung äußern. Die Ergebnisse sind in der Tabelle wiedergegeben. Doch blicken wir nochmals auf die bisherigen Ergebnisse zurück (Abbildung der PDF-Version): Wir haben gesehen, dass über 80 Prozent der Befragten der Ansicht sind, dass Menschen aus dem europäischen Ausland die gleichen Rechte auf Sozialleistungen haben sollen wie deutsche Bürger. Wie man in der zweiten Spalte der Tabelle (Alle Befragten) sehen kann, sinkt die Unterstützungsrate für diesen Gleichheitsgrundsatz aber auf rund 66 Prozent, wenn der Zugang zu den Sozialleistungen mit Kosten verbunden ist, in diesem Fall mit einer Reduktion von 20 Euro für alle Anspruchsberechtigten. Die Zustimmungsraten verringern sich nochmals auf 48 Prozent, wenn die Erweiterung des Kreises der Zugangsberechtigten zu einer Absenkung des Kindergeldes um 100 Euro führen würde.
Wenn den Befragten klar wird, dass ihre generellen Überzeugungen mit konkreten Folgekosten verbunden sind, dann weichen sie also von ihrer Grundüberzeugung ab. Diese Abweichung ist aber begrenzt. Immerhin würde noch fast die Hälfte der Befragten eine Reduktion des Kindergeldes um 100 Euro akzeptieren. Wie die Tabelle (dritte Spalte) weiterhin zeigt, sind von denjenigen, die sich im Allgemeinen für den gleichen Zugang von Deutschen und Europäern zu sozialen Leistungen aussprechen, auch drei Viertel der Befragten bereit, eine Kürzung des Kindergeldes um 20 Euro zu tragen. Im Falle einer Reduktion des Kindergelds um 100 Euro ist von dieser Gruppe immer noch mehr als die Hälfte (56,4 %) für den gleichen Zugang von EU-Ausländern zu Sozialleistungen in Deutschland. Diese Befunde deuten darauf hin, dass die Mehrzahl der Bürger am Wert der europäisierten Chancengleichheit auch dann festhalten würde, wenn die Umsetzung des Gerechtigkeitsprinzips zu persönlichen Nachteilen führen würde.Fazit
Gerechtigkeit, so John Rawls, lässt sich am ehesten realisieren, wenn die staatlichen Institutionen die Voraussetzungen für eine Chancengleichheit der Bürger schaffen. Da die Einflusssphäre des Staates nationalstaatlich begrenzt war, bezog sich die Realisierung von Chancengleichheit lange Zeit und in erster Linie auf die Bürgerinnen und Bürger ein und desselben Nationalstaates. Der europäische Integrationsprozess hat diese nationalstaatlich begrenzte Chancengleichheit in einigen Bereichen durch eine europäische ersetzt. Diese formale Erweiterung des Gerechtigkeitsraums wäre aus Sicht von Rawls sicher nur ein erster Schritt in die Richtung einer realen europäisierten Chancengleichheit. Denn zu den formalen Gleichheitsrechten müssten Maßnahmen der EU und der Mitgliedstaaten hinzutreten, um die organisatorischen und sprachlichen Hürden bei der Inanspruchnahme der Chancengleichheit, die sich den EU-Ausländern im Alltag stellen, zu beseitigen. Die EU hat erste Maßnahmen zum Abbau von Mobilitätsbarrieren ergriffen. So rief sie zum Beispiel das Jahr 2006 zum "Europäischen Jahr der Mobilität der Arbeitnehmer" aus, initiierte eine transnationale Arbeitsvermittlung (EURES), hat die länderübergreifende Anerkennung von Berufsabschlüssen geregelt und eine Europäische Krankenversicherungskarte eingeführt.
Anhand von zwei Umfragen haben wir gezeigt, dass die Europäisierung von wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rechten in der deutschen Bevölkerung auf recht hohe Zustimmung stößt. Mehr als zwei Drittel der Befragten sind der Auffassung, dass europäischen Ausländern Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt gewährt werden sollte, auch wenn die Befragten dabei Unterschiede nach der nationalen Herkunft eines EU-Ausländers machen. Auch die Vorstellung, von einem Bürgermeister, der aus einem anderen EU-Land kommt, regiert zu werden, findet rund die Hälfte der Bürger in Ordnung. Für den Zugang zu sozialen Transferleistungen liegen die Zustimmungsraten sogar bei über 80 Prozent. Zwar sinkt die Akzeptanz der Idee der europäischen Chancengleichheit, wenn mit deren Realisierung Kosten verbunden sind, aber fast 50 Prozent der Befragten sind bereit, auch dies zu akzeptieren.
Kann man diese Befunde als Bestätigung der These einer fortgeschrittenen Europäisierung der Chancengleichheit lesen? Hier muss man bei der Deutung etwas vorsichtig sein. Zum einen geben unsere Befragungen nur die Lage zu einem Zeitpunkt (im Jahr 2006) wieder. Wir wissen daher nicht, inwieweit die Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger Schwankungen unterliegen, die zum Beispiel durch Ereignisse wie die Wirtschaftskrise 2008/2009 ausgelöst werden. Zum anderen zeigen unsere Erhebungen nur, was die deutschen Befragten über die Chancengleichheit von EU-Ausländern und von türkischen Staatsbürgern denken, nicht aber, inwiefern Polen, Franzosen und Türken umgekehrt ebenfalls überwiegend für die Öffnung ihrer nationalen Sozialräume plädieren. Erst wenn sich herausstellen sollte, dass europäisierte Gleichheitsvorstellungen reziprok in allen europäischen Gesellschaften verankert sind, hätte man einen Hinweis auf eine Vertiefung der gesellschaftlichen Integration Europas auf der Ebene der Bürger. Ob eine solche Wechselseitigkeit vorliegt, kann eine vergleichende Umfrage in vier europäischen Ländern zeigen, die wir derzeit anstellen, deren Ergebnisse aber erst 2010 bzw. 2011 vorliegen werden.