Einleitung
Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan hatte offenbar den richtigen Instinkt. In einem Anfang August 2009 veröffentlichten Interview drückte der General seine Befürchtung aus, dass deutsche Soldaten in den Auslandseinsätzen der Bundeswehr bislang "noch nicht bis zum Äußersten" gefordert würden. Kämen durch ihr Handeln erst unbeteiligte Zivilisten zu Schaden, würde bald eine öffentliche Diskussion über soldatische Entscheidungen im Einsatz entbrennen. Nur wenige Wochen später war es soweit: In der Nacht zum 4. September 2009 hatten amerikanische Kampfflugzeuge im afghanischen Norden, nach Anforderung durch den deutschen Kommandeur des Provincial Reconstruction Team (PRT) Kunduz, zwei von Taliban gestohlene Tanklastwagen bombardiert. Bei dem Angriff kamen nicht nur fast 70 mutmaßliche Aufständische ums Leben, sondern auch Dutzende Zivilisten. Die anschließende Debatte in Deutschland konzentrierte sich, wie Schneiderhan es vorausgesagt hatte, auf den konkreten Vorfall, anstatt, wie es notwendig gewesen wäre, endlich "in den Zirkeln der großen Politik das Grundsätzliche (zu) klären".
So sehr die Bundeswehr als Instrument deutscher Außenpolitik in den vergangenen zwei Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen hat, so wenig scheint bis heute dieses "Grundsätzliche" erörtert, sind verlässliche Leitlinien bestimmt, an denen sich Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik bei der Übernahme von Verpflichtungen an den Krisenherden der Welt kreuzen. Im außenpolitischen Kalkül der Bonner Republik bis 1990 spielte die Bundeswehr praktisch keine Rolle. Ihr Einsatz galt mehr als drei Jahrzehnte lang als "undenkbarer Ernstfall" und nur infolge eines Angriffs des Warschauer Paktes auf den Westen vorstellbar. Seit ihrer Gründung im Jahre 1955 hatte der Kalte Krieg die Koordinaten der Bundeswehr bestimmt. Im Rahmen des NATO-Vertrages wurde sie für die Landesverteidigung gerüstet und auf die Verteidigung des Bündnisgebietes vorbereitet. Zwar waren auch schon vor 1990 gelegentlich deutsche Soldaten jenseits der Bündnisgrenzen unterwegs. Doch alles, was "scharf" über den Ausbildungs- und Übungsbetrieb im Ausland hinausging, bewegte sich seit der Erdbebenhilfe in Marokko 1960 ausschließlich im Rahmen weltweiter humanitärer Hilfe bei Dürre- und Unwetterkatastrophen, bei Explosionsunglücken und Überschwemmungen, bei Waldbränden und Vulkanausbrüchen.
Das Ende des Kalten Krieges in Europa wurde zu einer Zäsur für ein neues, anderes Einsatzprofil. Die gerade erst vereinigte Berliner Republik wurde von den Herausforderungen einer veränderten globalen Sicherheitslage in Europa und der Welt völlig überrascht. Die Partner und Verbündeten forderten plötzlich einen solidarischen Beitrag der Deutschen zu bewaffneten Friedensmissionen ein, auf den die Bevölkerung nicht eingestellt und die Bundeswehr nicht vorbereitet war. 20 Jahre später scheint fast normal, was damals kaum vorstellbar war: Aktuell finden zehn Bundeswehr-Einsätze in acht Ländern sowie im Mittelmeer und auf den Seewegen am Horn von Afrika mit ständiger Präsenz von 8120 Soldaten (Stand: 1. November 2009) statt.
Lauter Premieren
Die wichtigsten Begründungen für die gegenwärtigen Bundeswehreinsätze fasste die Europäische Sicherheitsstrategie im Jahre 2003 in fünf Punkten zusammen: Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, regionale Konflikte, zerbrechliche Staatlichkeit und organisierte Kriminalität. Keine davon ist wirklich neu. Neu ist seit 1990 jedoch, dass die domestizierenden Wirkungen der Ost-West-Konfrontation verschwunden sind und sich dadurch destabilisierende Entwicklungen weltweit verselbständigt und beschleunigt haben. Anders als unter den vergleichsweise klaren Umständen der Bedrohung und Abschreckung während des Ost-West-Konflikts ist heute weit weniger ersichtlich, wie die genannten Risiken und Bedrohungen unter Kontrolle zu bringen sind und welche Aufgabe den Streitkräften dabei zufallen sollte. Ihr Auftrag ist weniger deutlich umrissen als in der Vergangenheit, und vor allem Einsätze jenseits des Verteidigungsauftrags sind bis heute immer wieder politisch umstritten. In der militärischen Praxis bedeutet dies für die Bundeswehr, mit vielen planerischen Ungewissheiten umgehen zu müssen, und oft auch, ihre Möglichkeiten und Grenzen erst in politisch angeordneten Einsätzen kennenzulernen.
Die ersten großen Einsätze führten die Bundeswehr im Rahmen von UN-Missionen 1992 nach Kambodscha und 1993 nach Somalia. Während der Sanitätseinsatz in Südostasien erfolgreich abgeschlossen wurde, konnte dies für die Mission in Ostafrika kaum behauptet werden, denn die zur logistischen Unterstützung vorgesehene indische Brigade tauchte gar nicht erst am Einsatzort auf. Die Bewährungsprobe kam auf die Bundeswehr auf dem westlichen Balkan, praktisch vor der eigenen Haustür, zu. Die frühen Einsätze, darunter die Beteiligung an der Überwachung des Waffen- und Handelsembargos in der Adria zwischen 1992 und 1996 und an der Luftbrücke zur Versorgung des eingeschlossenen Sarajevo, ließen noch nicht vermuten, dass sich die Bundeswehr bald im NATO-Bündnis an Maßnahmen zur Friedenserzwingung beteiligen würde. Innenpolitisch brach jedoch bereits 1992 Streit darüber aus, welche Befugnisse dem Parlament für die Einsatzentscheidung einzuräumen waren und ob die vom Parlamentarischen Rat 1949 intendierten grundgesetzlichen Beschränkungen für deutsche Streitkräfte andere Einsätze als solche zur ausschließlichen Verteidigung Deutschlands und des Bündnisgebietes erlaubten. Konkret ging es um die Auslegung der Artikel 24 und 87a des Grundgesetzes: Während Art. 87a GG die Aufstellung von Streitkräften zur Verteidigung durch den Bund betont, verweist Art. 24 Abs. 2 GG auf sein Recht, in die Beschränkung von Hoheitsrechten im Rahmen der Beteiligung an Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit einzuwilligen.
Ironischer Weise rief die mitregierende FDP das Bundesverfassungsgericht an, um die Rechtmäßigkeit des eigenen Regierungshandelns zu überprüfen. Das BVG bestätigte am 12. Juli 1994 die Zustimmungspflicht des Deutschen Bundestags zu Einsätzen der Bundeswehr im Ausland und erlegte ihm gleichzeitig auf, nähere Bestimmungen in ein Entsendegesetz zu fassen. Erst mehr als ein Jahrzehnt später verabschiedete der Bundestag schließlich am 18. März 2005 das "Gesetz über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland". In politischer Hinsicht noch brisanter war die höchstrichterliche, wenn auch äußerst knappe Anerkennung der NATO als "System gegenseitiger kollektiver Sicherheit". Das oberste deutsche Gericht gab der Regierung und dem Parlament auf, die sich daraus ergebenden politischen und gesetzlichen Schlussfolgerungen zu ziehen. Die juristische Klärung verlagerte damit die Auseinandersetzung weg von der Frage nach dem "Ob" hin zum "Wann" und "Wie". Für alle damals im Bundestag vertretenen Parteien galt nunmehr als akzeptiert, dass sich die Bundeswehr sowohl an von der UNO geführten als auch an mit einem UN-Mandat versehenen Einsätzen der NATO oder der (W)EU unter Kapitel VI und VII beteiligen konnte, sofern diesen das Parlament mit einfacher Mehrheit zustimmte. Das BVG hat seither in allen Fällen seiner Anrufung die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen zur Entsendung von Soldaten durch die Regierung bzw. die Mehrheit des Parlaments bestätigt.
Vor allem der Balkan wurde zur Nagelprobe bei den Verbündeten und in der eigenen Bevölkerung für die Akzeptanz der Bundeswehr als Einsatzarmee. Von 1995 an beteiligte sich die Bundeswehr zunächst an der Peace Implementation Force (IFOR), später, ab Ende 1996, an der Stabilisation Force (SFOR) in Bosnien-Herzegowina. Auch an der im Dezember 2004 in die Verantwortung der EU überführten Mission EUFOR Althea war Deutschland von Anbeginn beteiligt. Seit Mitte der 1990er Jahre erhöhten sich der personelle Umfang und die Intensität des Bundeswehr-Engagements in Friedensmissionen ständig. Der erste Kampfeinsatz fiel ausgerechnet in die Frühphase einer rotgrünen Regierungskoalition. Beide Parteien wurden von inneren Zerreißproben gepeinigt. Die Beteiligung Deutschlands an der Operation Allied Force im Frühjahr 1999 bedeutete erstmals seit 1945 die aktive Teilnahme deutscher Streitkräfte an Kriegshandlungen. Diese fanden zudem außerhalb des NATO-Bündnisgebiets statt und, was besonders bemerkenswert war, ohne die Legitimation eines vorherigen UN-Mandats. Die Bundesregierung erachtete den Waffengang gegen Jugoslawien jedoch als Notmittel, um gemeinsam mit den Verbündeten eine humanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhindern. Sie sah ihre Entscheidung deshalb auch nicht als Präzedenzfall für künftige Einsätze an, sondern als aufgezwungenes militärisches Mittel zu einem legitimen humanitären Zweck.
Als Lehre aus der missglückten Krisenprävention auf dem Balkan setzte sich Deutschland mehr als zuvor für eine Stärkung von Instrumenten der zivilen Krisenprävention ein. Die Terroranschläge in den USA vom 11. September 2001 veränderten die politische Lage ein weiteres Mal. Wieder wurde Deutschland unvorbereitet getroffen. Berlin verfügte über kein Konzept, das als sicherheitspolitische Alternative zum kritisierten Antiterrorkrieg für alle Partner und Verbündeten glaubwürdig gewesen wäre. Stattdessen schickten Regierung und Parlament die Bundeswehr seit 2002 vor allem aus Bündnissolidarität in eine Reihe von Einsätzen, die zwar jeweils mit einem UN-Mandat versehen waren, jedoch zum Teil keine realistischen militärischen Ziele besaßen, wie das EU-Engagement in der DR Kongo oder der NATO-Einsatz in Afghanistan. In den zurückliegenden Jahren wurde fast jeder Einsatz der Bundeswehr zu einer Premiere, zugleich aber auch zu einer Mission mit vielen Unbekannten und ungewissem Ausgang.
Kosovo und Afghanistan: Lernen durch Handeln
Die besonders prägenden Einsatzorte des vergangenen Jahrzehnts waren aus deutscher Perspektive das Kosovo und Afghanistan. Beide Einsätze verweisen auf eine gemischte Bilanz. Im Kosovo sollten die "ethnischen Säuberungen" beendet und die Bildung einer demokratischen Gesellschaft im friedlichen Miteinander ethnischer Gruppen unterstützt werden. Die Unterdrückung der albanischen Bevölkerung wurde zwar erfolgreich unterbunden, das Ziel einer multiethnischen Gemeinschaft jedoch verfehlt. Nicht einmal eine gewaltfreie Nachbarschaft der strikt voneinander getrennten Gruppen scheint ohne andauernde bewaffnete Präsenz gewährleistet.
Ungleich schwieriger noch ist die Lage in Afghanistan. Deutschland stellt mit 4010 Soldaten (1. November 2009) das drittgrößte Truppenkontingent der 2002 vom UN-Sicherheitsrat beschlossenen International Security Assistance Force (ISAF) aus 40 Staaten. Ursprünglich zum Schutz der zivilen Mission der UNO, der Regierung und der internationalen Helfer entsandt, ist ISAF inzwischen weniger Unterstützungstruppe für den Friedensprozess als von den aufständischen Taliban auserkorene Kriegspartei und befindet sich militärisch in arger Bedrängnis. Vom Ziel, durch den Aufbau und die Ausbildung von Polizei und Armee für eine selbsttragende Sicherheit Sorge zu tragen, ist ISAF nach sieben Jahren Einsatzdauer weiter entfernt als je zuvor.
Eines scheint dabei für die Bundeswehr klar: Sie hat in Afghanistan einen "zweiten Rubikon" überschritten, hin zu "Kampfeinsätzen mit all ihren Konsequenzen".
Doch Streitkräfte können Defizite im zivilen Wiederaufbau nicht kompensieren. Im Gegenteil: Angesichts des stagnierenden Entwicklungsfortschritts werden sie vor Ort für die Misere mitverantwortlich gemacht und sind zwischen alle Fronten geraten. Statt akzeptierte Aufbauhelfer zu sein, müssen sie sich täglicher Bedrohungen durch Heckenschützen und Selbstmordattentäter erwehren. Das Dilemma besteht darin, dass die Gründe, die zum UN-Mandat führten, fortbestehen. Zugleich ist aber deutlich, dass bewaffnete Friedensmissionen scheitern können, wenn sie nicht in eine konsequent verfolgte zivile Aufbaustrategie eingebettet werden. In jedem Fall besteht die Gefahr, dass Soldaten in länger anhaltenden Friedensmissionen in Kämpfe verwickelt werden. Für die Bundeswehr hat der Einsatz bestätigt, was bereits seit 1999 in den Planungsstäben erkannt wurde: Soll sie sich mit Aussicht auf Erfolg an Friedensmissionen beteiligen, muss sie sich darauf organisatorisch, technisch und taktisch vorbereiten, aber auch mental neu aufstellen.
Strukturelle Konsequenzen werden aber erst seit 2002 gezogen. Die Truppen wurden seither neu in Eingreif-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräfte gegliedert, streitkräftegemeinsame Aufgaben (Logistik, Sanitätsdienst, Kommunikation) wurden zentralisiert, besonders befähigte Verbände in der Division Spezielle Operationen gebündelt. Für die verbundene Führung von Einsätzen wurden infrastrukturelle Voraussetzungen geschaffen (Einsatzführungsstab, Einsatzführungskommando, Kommando Operative Führung Eingreifkräfte u.a.).
Im Korsett von Innen- und Bündnispolitik
Die Prämissen für die Entsendung der Bundeswehr in internationale Friedensmissionen stehen inzwischen parteienübergreifend fest.
Die Festlegung auf diese beiden Prämissen ist nicht unproblematisch. Einerseits verschafft sie einen berechenbaren Rahmen für die Beschlussfassung über bewaffnete Einsätze, andererseits steckt die Entscheidung in einer "Multilateralismusfalle". Die Einbindung in die Militärstrukturen der NATO und EU erlaubt es Deutschland kaum, sich aus kollektiven Missionen beider Organisationen herauszuhalten oder dem Drängen ihrer Verbündeten zum Mittun nicht nachzugeben.
Für die Bundesregierung bedingt der Wille zu politischer Gestaltung im Bündnis die Fähigkeit und Bereitschaft, Führungsverantwortung in kollektiven Operationen zu übernehmen. Denn erwartete Deutschland die Solidarität der Verbündeten bei künftigen Einsätzen im eigenen Interesse, kann es kaum die Beteiligung an Einsätzen in der Gegenwart verwehren, die eher im Interesse ihrer Verbündeten liegen. Bündnissolidarität wird zur Staatsräson. Welche Konsequenzen ein Ausscheren hervorrufen kann, zeigte die konsequente Position zum Irakkrieg: Zwar verschaffte sich die Bundesregierung innenpolitisch Luft; der offene Dissens im Bündnis riss die NATO jedoch in die schärfste Krise seit ihrer Gründung.
Die Bundeswehr blieb von diesem politischen Streit weitgehend unbehelligt - ihre Einsätze vom Balkan bis zur Oderflut hatten ihr überraschend starken Rückhalt in der Bevölkerung verschafft -, jedoch mahnte nicht nur der Generalinspekteur an, die gebotene Weiterentwicklung des Fähigkeitsprofils der Streitkräfte für kommende Einsätze nicht aus dem Auge zu verlieren.
Das öffentliche Meinungsbild ist ambivalent geblieben. Auf der einen Seite genießt die Bundeswehr ein hohes Maß an gesellschaftlicher Anerkennung und Vertrauen. Ihre Unterstützung gründet sich aber vor allem auf solche Rollen, die den Einsatz von Waffengewalt ausschließen, so als Fluthelfer oder als "Technisches Hilfswerk mit Waffe" im Ausland, als Militärbeobachter und vielleicht noch als Blauhelme. Als "kämpfender Truppe" wird ihr vergleichbare Sympathie jedoch nicht zuteil, eine Beteiligung der Bundeswehr an Kampfeinsätzen sieht eine deutliche Mehrheit der Deutschen weiter skeptisch. Entsprechend unterentwickelt ist das öffentliche Interesse daran, ob die Bundeswehr über die erforderliche Ausrüstung verfügt, um in solchen Einsätzen zu bestehen, oder ob die Soldaten ausreichend darauf vorbereitet sind, unter Einsatz ihres Lebens kämpfen zu müssen. Über den Alltag der Soldaten im Einsatz, ihre Sorgen und die Nöte ihrer Angehörigen herrscht weitgehend Unkenntnis.
Nicht der Bundestagswahl war es deshalb geschuldet, dass das Thema Afghanistan in den vergangenen Monaten zunehmend in die Schlagzeilen geriet. Im Gegenteil ist es bemerkenswert, dass sich diese Debatte verbreitet hat, obwohl die Großkoalitionäre im stillen Einvernehmen mit FDP und Grünen vereinbart hatten, Afghanistan und die Bundeswehr aus den Wahlkämpfen herauszuhalten. Der Widerspruch zwischen Rhetorik und Realität ist zu groß geworden, als dass er sich durch Stillschweigen oder Sonntagsreden zudecken ließe. Dass die Bundeswehr inzwischen vor der Entscheidung steht, ihre defensive Rolle weiter beizubehalten und immer mehr zur Zielscheibe von Anschlägen zu werden oder sich offensiv an der Bekämpfung von aufständischen Taliban zu beteiligen und ungewollt in einen Krieg hineingezogen zu werden, ist im öffentlichen Bewusstsein noch nicht angekommen. Die ersten Gefechte wurden in deutschen Medien noch im Mai 2009 mit fast ungläubigem Erstaunen registriert.
Notwendige Rückkehr zum Primat der Politik
Spät angesichts der zunehmenden Einsätze legte die Bundesregierung im Herbst 2006 ein neues "Weißbuch zur deutschen Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr" vor. Eine Aktualisierung der Aufgabenbestimmung von 1994 war überfällig. Das Weißbuch spiegelt die Ratlosigkeit, die tagespolitischen Anforderungen in ein strategisches Konzept zu übersetzen. Immerhin führte die Kritik an seinen Aussagen erstmals zu einer strategischen Debatte, allerdings weitgehend ausgelöst von Diskursen im Bündnis und bestimmt von Experten im Verteidigungs- und Sicherheitsspektrum. Aufhänger dieser Debatte war der "erweiterte Sicherheitsbegriff", der heute im Umfeld der Bundeswehr als "vernetzte Sicherheit", im Transformationsprozess der NATO als comprehensive approach bezeichnet wird. Der Begriff bezieht sich sowohl auf die verschiedenen Formen internationaler und supranationaler Kooperation als auch auf den Aufbau einer Art "ressortübergreifenden Netzwerkstruktur"
Entscheidend ist: Weder das Weißbuch von 2006 noch die Bundesregierung haben bisher die wichtigsten Fragen zur Durchführung von Auslandseinsätzen hinreichend beantwortet.
Dabei soll nicht unterschätzt werden, dass ein Konzept "vernetzter Sicherheit" eine hoch komplexe Angelegenheit ist.
Einsatzentscheidungen dürfen nicht ausschließlich auf militärischem Kalkül beruhen, sie müssen aber die militärischen Möglichkeiten und Grenzen in Rechnung stellen. Bewaffnete Einsätze benötigen eine klare politische Zweckbestimmung und sind dieser in allen Phasen unterzuordnen. Die Operation selbst vollzieht sich zwar nach den Regeln völkerrechtlich abgesicherten Streitkräftehandelns, dieses darf sich aber nicht gegenüber der politischen Zweckbestimmung verselbständigen. Unter Umständen ist politisch über einen bewaffneten Einsatz rechtzeitig und konsequent zu entscheiden, um das Entstehen einer humanitären Katastrophe zu vermeiden. Aber selbst in einem solchen Fall dürfen die Lage vor Ort und die Streitkräfte nicht sich selbst überlassen werden, bedarf es, nicht zuletzt im Interesse der Soldaten, die ihr Leben riskieren, einer verantwortlichen Politik, die den militärischen Beitrag zu einem friedenspolitischen Gesamtkonzept steuert und hegt. Maßvolle Politik impliziert, auf die Entsendung von Soldaten zu verzichten, wenn ein militärischer Beitrag für das Gelingen eines Gesamtkonzepts nicht zu erwarten ist oder gravierende Erfolgsrisiken erkennbar sind.
Afghanistan ist ein Lehrbeispiel dafür, was gerade nicht versucht werden sollte: die militärische Absicherung der Einführung eines Staatsmodells, das große Teile der dortigen Bevölkerung weder verstehen noch mittragen wollen. Eine frühzeitige Begrenzung der politischen Ziele auf humanitäre Hilfen und stabile Verwaltungsstrukturen hätte den militärischen Auftrag klug beschränken können.
Keine Entscheidung über bewaffnete Einsätze sollte der Festlegung auf ein schlüssiges politisches Gesamtkonzept vorauseilen. Wird das Primat der Politik beachtet, ist es an der Politik, in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz den Funktionszweck und die Kriterien bewaffneter Instrumente zur Durchsetzung ihrer Ziele zu artikulieren. Nicht von ungefähr kommt insofern die Forderung nach der Entwicklung einer "strategischen Kultur"