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Antisemitismus und Antisemitismusforschung: ein Überblick

Stefanie Schüler-Springorum

/ 19 Minuten zu lesen

"Antisemitismus", so schrieb der Altmeister der Kritischen Theorie, Theodor W. Adorno, einst in seiner Schrift "Minima Moralia" im Jahre 1951, "ist das Gerücht über die Juden". Wenngleich keine sehr praktikable oder gar ausreichende Definition, verwies Adorno jedoch auf zwei zentrale Charakteristika des Antisemitismus: Zum einen geht es um "die Juden". Der Antisemit oder die Antisemitin, so der britische Philosoph Brian Klug, macht aus Jüdinnen und Juden "die Juden", er konstruiert also eine homogene Gruppe, die als solche nur in seiner Fantasie existiert. So weit, so einfach. Aber was hat es nun mit dem Adorno’schen "Gerücht" auf sich? In diesem Begriff scheinen laut Duden gleich zwei Komponenten des Antisemitismus auf, die uns bis heute beschäftigen: Ein schwer zu greifendes, halbheimliches angebliches "Wissen" und zugleich die Leidenschaft, mit der man sich diesem widmet und es weiterverbreitet.

Insbesondere das Halbheimliche mag auf den ersten Blick allerdings etwas übertrieben erscheinen, wird doch in jüngster Zeit sehr laut und öffentlich über Antisemitismus geredet. Man könnte sogar sagen, dass Antisemitismus geradezu ein beliebtes öffentliches Thema geworden ist, ein Medienstar. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht eine aktuelle Umfrage, eine Studie oder eine Statistik veröffentlicht wird, in der es um Antisemitismus geht. Hinter der Vielzahl an Studien steht dabei nicht nur das Ziel der Wissensvermehrung, sondern auch das Verlangen danach, ein komplexes, schwer zu definierendes gesellschaftliches Phänomen begreifbar und damit auch beherrschbar zu machen, nach dem Motto: Problem erkannt, ermessen, bekämpft. Antisemitismus ist jedoch nicht messbar wie die Wassertemperatur. Mehr noch: Die vielen Umfragen und Statistiken dienen auch dazu, das Unbehagen zu bannen und suggerieren eine Sicherheit darüber, wie es um uns steht, die es so aber nicht geben kann. Zahlen können allerdings helfen, gesellschaftliche Tendenzen und Bewegungen wahrzunehmen. Dies soll im Folgenden herausgearbeitet und in den Kontext der Entwicklungen der Antisemitismusforschung eingeordnet werden.

Analysekategorien und historische Kontinuitäten

Ich möchte dabei in einem ersten Schritt einen Blick zurück werfen, um die historische Bedingtheit aktueller Präferenzen der Antisemitismusforschung zu verdeutlichen. Wie setzten sich jüdische wie nichtjüdische Autorinnen und Autoren vor 1933 mit dem modernen Antisemitismus auseinander? Dieser wurde von ihnen als etwas Neues empfunden, als etwas, was sich nicht allein mit dem "mittelalterlichen" religiösen Judenhass erklären ließ. Vermutlich interessierten sich die Autorinnen und Autoren – es waren fast ausschließlich Männer – im Kaiserreich und in der Weimarer Republik deshalb so wenig für Umfragen oder Zahlen, denn dass Antisemitismus ein weitverbreitetes Phänomen war, darüber gab es keinen Zweifel. Stattdessen wollte man verstehen, woher er kam. Nicht wie viel, sondern warum es Antisemitismus gab – dies war die große Vorkriegsfrage. Daher brachte man soziologische Erklärungsansätze ins Spiel, Begriffe wie "Minderheit" und "Mehrheit" sowie Gruppenbildungsprozesse durch In- und Exklusion oder wies auf die Bedeutung klarer Feindbilder für die Mobilisierungskraft des Nationalismus hin. Zugleich war man sich in beeindruckender Weise einig darüber, dass sich der Antisemitismus nicht über angebliche Charaktereigenschaften oder Handlungen der Jüdinnen und Juden erklären ließe, sondern allein durch die Pathologien auf Seiten der Antisemitinnen und Antisemiten.

Hier kam nun auffällig oft eine Analysekategorie ins Spiel, die von der Antisemitismusforschung erst vor Kurzem wieder ins Zentrum zurückgeholt wurde: die Rolle der Emotionen für die Erklärung von Macht und Persistenz des antijüdischen Ressentiments. Religion dagegen spielte in den Erklärungsversuchen vor 1933 eher weniger eine Rolle, zu sehr ging man dabei der Selbstinszenierung der angeblich unreligiösen "modernen Antisemiten" auf den Leim. Insgesamt lässt sich feststellen, dass seit 1945 nicht viel Neues an theoretischen Ansätzen über Antisemitismus hinzugekommen ist, sieht man einmal von der Kritischen Theorie ab, deren Zusammendenken von Gesellschafts- und Psychoanalyse sich gerade in den vergangenen Jahren einer Renaissance erfreut.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Frankfurter Schule waren es auch, die zusammen mit wenigen Remigrantinnen und Remigranten sowie vor allem der US-Besatzungsmacht moderne soziologische Forschungsmethoden für den Nachkriegsumgang mit Antisemitismus fruchtbar machten. Dieser Umgang ist bis heute durch unser Wissen um den nationalsozialistischen Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden geprägt: Nach dem Krieg ging es vor allem darum, sich den Aufstieg der NSDAP aus ihren völkischen Vorläufern zu erklären und Antisemitismus zugleich sozialwissenschaftlich messbar und damit beherrschbar zu machen – also um eine Art Frühwarnsystem, das im Grunde bis heute als Ausweis der Demokratiefähigkeit der deutschen Bevölkerung gilt.

Um diese Fähigkeit war es in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg nicht allzu gut bestellt, sieht man sich die ersten Studien zum Thema an: In einer Umfrage von 1946 waren 85 Prozent der Befragten gegen die Rückkehr der überlebenden Jüdinnen und Juden nach Deutschland, ein Jahr später kam der Antisemitismusreport der US-Militärregierung zu dem Ergebnis, dass 18 Prozent der deutschen Bevölkerung als radikale Antisemitinnen und Antisemiten, 21 Prozent als Antisemitinnen und Antisemiten, weitere 22 Prozent als Rassistinnen und Rassisten, 19 Prozent als Nationalistinnen und Nationalisten und nur 20 Prozent als weitgehend frei von diesen Ressentiments anzusehen seien. Aus heutiger Sicht überraschen dabei weniger die Zahlen als die Erwartung, dass sich diese nach Krieg und Völkermord schnell ändern würden. Das Gegenteil war der Fall, und es ging dabei nicht nur um zu erforschende Einstellungen, sondern um menschliches Handeln: Mit dem Wegfall der alliierten Oberherrschaft nach der Gründung der Bundesrepublik 1949 nahm die Zahl der antijüdischen Vorkommnisse zu, und antisemitische Einstellungen wurden wieder offener geäußert, bevor dies dann sehr langsam abzunehmen begann. Für die DDR gibt es keine vergleichbaren Zahlen, es kann aber angenommen werden, dass sich diese kaum unterscheiden, gab es doch eine Fortsetzung des Antisemitismus der 1930er und 1940er Jahre in Form personeller Kontinuitäten in beiden postnazistischen deutschen Gesellschaften, wobei jedoch die Kontinuität der Eliten im Westen als markanter Unterschied nicht deutlich genug betont werden kann. Jüdische Rachsucht, jüdische Habgier, jüdische Unmoral – all diese uralten, durch den Nationalsozialismus aktualisierten und propagierten Versatzstücke des Antisemitismus waren nach 1945 ungebrochen virulent und dockten nun umstandslos an die Verhältnisse der postgenozidalen Gesellschaften der Täterinnen und Täter an. Die Nachkriegsdeutschen fühlten sich als Opfer von mehr oder weniger jedem: "den Amis", "den Russen" – vor allem aber "den Juden".

Insofern bedurfte es in beiden deutschen Staaten eines Generationswechsels, um diese Kontinuität aufzubrechen. Bis dieser jedoch gesellschaftlich wirksam werden konnte, dauerte es bis zu den späten 1980er Jahren, also bis "die 68er" in den Schulen die Jahrgänge der nächsten Generation unterrichten konnten. Deutlich wird dies zum Beispiel in der Frage: "Würden Sie sagen, es wäre besser, keine Juden im Land zu haben?", die seit den späten 1940er Jahren in allen Umfragen wiederholt gestellt wurde: Zwischen 1950 und 1983 nahm die Zustimmung zu diesem Satz zwar von fast 40 auf 9 Prozent ab, interessant ist aber vor allem die Anzahl derjenigen, die "unentschieden" waren oder diese Frage gar nicht beantworten wollten: Diese nahm seit den 1950er Jahren kontinuierlich zu und erreichte 1983 fast 50 Prozent. Diese Zahlen zeigen zweierlei exemplarisch auf: erstens die unter den Begriff der "Kommunikationslatenz" gefasste Entwicklung, dass öffentliche antisemitische Äußerungen im Nachkriegsdeutschland seit den 1960er Jahren zunehmend tabuisiert und ins Private abgedrängt wurden, während man bei Umfragen "weiß nicht" zu Protokoll gab; zweitens, dass es erst nach der deutschen Vereinigung 1990 zu einer massiven und stabilen Verschiebung in den Umfragewerten kam: Acht Jahre danach herrschten zumindest in den Umfragen klare Verhältnisse, und 86 Prozent der Bevölkerung bejahten die jüdische Präsenz in Deutschland.

Letzteres wiederum belegt eine (ausnahmsweise unumstrittene) Erkenntnis der Antisemitismusforschung: Die enorme Bedeutung, die der Haltung der Eliten zukommt: Nach 1990 ist die "Vergangenheitsbewältigung" nicht zuletzt aus außenpolitischen Gründen zur Staatsräson geworden. Diese Wandlung im politischen Feld hat schließlich auch die Finanzierung dessen zur Folge, was heute als vorbildlicher deutscher Umgang mit einer mörderischen Vergangenheit gepriesen wird: Geld für Bildungs- und Gedenkstätten, Museen und Nichtregierungsorganisationen, die insgesamt eine hervorragende Arbeit leisten. "Die ausgeprägte Bereitschaft, Verantwortung für die Verbrechen vorangegangener Generationen zu übernehmen", ist wiederum eine zentrale Voraussetzung, um über Antisemitismus aufzuklären und seine Attraktivität einzudämmen. Aber dies, das haben in den vergangenen Jahrzehnten antisemitische Entgleisungen wie die Rede Martin Walsers in der Frankfurter Paulskirche 1998 oder die klassischen antisemitischen Ergüssen des ehemaligen AfD-Landtagsabgeordneten Wolfgang Gedeons immer wieder gezeigt, funktioniert nicht einfach so.

Messung von Antisemitismus

Das Thema, das die Antisemitismusforschung in Zukunft vermutlich am meisten beschäftigen wird, ist der Antisemitismus im Internet. Schon 2016 wurde ein erster globaler Versuch gestartet, die Frequenz von Antisemitismus in sozialen Medien zu messen. Hierfür wurden die gemeldeten antisemitischen Beiträge auf Youtube, Facebook und Twitter sowie die jeweiligen Löschraten zueinander in Beziehung gesetzt, wobei die Rate insgesamt bei Facebook mit 37 Prozent am höchsten und bei Youtube mit 8 Prozent am niedrigsten ausfiel. Interessant ist eine Aufschlüsselung nach der Form des Antisemitismus, die jeweils für löschwürdig erachtet wurde: So waren zum Beispiel zehn Monate nach der Meldung auf Facebook noch 25 Prozent der Gewaltaufrufe und 42 Prozent der Shoah-Leugnungen vorhanden, während Youtube vor allem Gewaltaufrufe zu löschen scheint, alles andere – etwa israelbezogenen Antisemitismus – aber stehen lässt. Die Kognitionswissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel kam für Deutschland zu dem Ergebnis, dass die schnelle, unkontrollierte und multiple Verbreitung in den Alltagsmedien des Internets die Akzeptanz und Normalisierung von Antisemitismus beschleunigt und intensiviert – was jedoch auch für alle anderen Formen des netzbasierten Hasses gilt und insofern für die Dringlichkeit einer vergleichenden und kontextualisierenden Untersuchung des Netzes spricht.

Diese ist bei der Umfrageforschung meist gegeben. Angesichts dessen, was dies an Forschungsaufwand bedeutet, ist es allerdings kaum verwunderlich, dass es kaum globale Studien gibt. Die bekannteste ist die Umfrage, die die US-amerikanische Anti-Defamation League regelmäßig in Auftrag gibt und bei der per Telefon die Zustimmung zu bestimmten antisemitischen Stereotypen abgefragt wird. 2015 schnitten dabei Dänemark mit 8, die USA mit 10, Großbritannien mit 12 und die Niederlande mit 11 Prozent am besten ab. Deutschland und Frankreich lagen mit 16 und 17 Prozent im Mittelfeld, während Länder wie Griechenland, Iran und die Türkei mit Zustimmungswerten von 67 bis 70 Prozent die "Schlusslichter" bildeten. Zu ähnlichen Ergebnissen kam 2018 die Pew Studie, in der fast 25.000 Christen in 15 westeuropäischen Ländern zur Akzeptanz von Jüdinnen und Juden sowie Musliminnen und Muslimen als Nachbarn und Familienmitglieder befragt wurden: Jüdische Nachbarn können sich demnach 88 Prozent der deutschen Christen vorstellen, als Familienmitglieder möchten sie allerdings nur 69 Prozent haben, was unter dem europäischen Durchschnitt vom 76 Prozent liegt. Zumindest für Westeuropa lassen sich deutlich stärkere antisemitische Ressentiments in katholischen Ländern konstatieren, wobei dies nicht unbedingt mit dem Glauben, wohl aber mit einer längeren Wirkkraft des Katholizismus in der politischen Kultur gerade der Mittelmeerländer zu tun haben könnte.

In Deutschland gibt es zudem eine Reihe von Erhebungen, etwa die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALBUS) oder die Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die antisemitische und andere Einstellungen jeweils im Kontext gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen erheben. Laut ALBUS ist die Zustimmung zu antisemitischen Feststellungen zwischen 2006 und 2016 um etwa zehn Prozentpunkte gesunken, laut Antidiskriminierungsstelle ist die Ablehnung von Jüdinnen und Juden als Nachbarn oder Familienmitglieder fast so hoch wie die von Atheistinnen und Atheisten, aber weitaus niedriger als die von Musliminnen und Muslimen oder anderen als "fremd" markierten Personen.

Als wichtigste, weil kontinuierliche und damit vergleichbare Erhebungen der Antisemitismusforschung kommen die sogenannten Mitte-Studien zu einem ähnlichen Ergebnis: Antisemitische Einstellungen gingen zwischen 2002 und 2018 deutlich zurück, der Anteil derjenigen, die ein "geschlossen manifestes antisemitisches Weltbild" aufweisen, hat sich sogar mehr als halbiert: von 9,3 auf 4,4 Prozent. Dieser Befund gilt sowohl für Stereotype, die dem traditionellen Antisemitismus zugerechnet werden, als auch für den sogenannten sekundären Antisemitismus, der sich auf Israel oder den Holocaust bezieht. Allerdings sind dabei die Zahlen derjenigen, die bei Umfragen mit "Ich stimme teilweise zu" antworten, weiterhin sehr hoch: Hier liegen die Werte je nach Frage immer zwischen 20 und 35 Prozent, wobei zudem auffällt, dass in diesem "latenten Bereich" der Unterschied zwischen traditionellem und sekundärem Antisemitismus deutlich schmilzt.

All dies widerspricht deutlich dem allgemeinen, in den Medien kolportierten Eindruck eines dramatischen Anstiegs des Antisemitismus in Deutschland und Europa. Laut Eurobarometer von 2018 denkt die Mehrheit der Europäerinnen und Europäer, dass Antisemitismus ein Problem in ihrem Land sei. Zwei Drittel aller Deutschen glauben, dass dieser in den vergangenen fünf Jahren zugenommen habe. Die meisten führen dies auf den Nahostkonflikt und weniger auf mangelnde Bildung und Erinnerung zum Thema Holocaust zurück. Dies verweist auf eine Einschätzung, die von Jüdinnen und Juden in Deutschland und Europa geteilt wird: Laut einer Onlinebefragung in 13 EU-Staaten von 2018 nehmen fast 90 Prozent der befragten Jüdinnen und Juden eine Zunahme des Antisemitismus in ihren jeweiligen Ländern wahr. 28 Prozent waren on- oder offline Opfer einer antisemitischen Belästigung geworden, 2 Prozent Opfer eines körperlichen Angriffs.

Eine im Auftrag des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Bundestages erstellte Studie war ein Jahr zuvor für Deutschland zu ähnlichen, nicht ganz so hohen Zahlen gekommen, sprach jedoch eine deutliche Sprache, was die Wahrnehmung der Täterinnen und Täter betrifft: Sowohl bei den gewalttätigen Attacken als auch bei erfahrenen Beleidigungen gaben die meisten Musliminnen und Muslime als Täterinnen und Täter an. Dies erklärt sich insbesondere aus der Sozialstruktur, leben diese ebenso wie die meisten jüdischen Familien in Großstädten: Der Begegnungsraum in Berlin oder Frankfurt am Main ist eben sehr viel dichter als beispielsweise in Kleinstädten Mecklenburg-Vorpommerns oder in Niederbayern.

Neue Einflussfaktoren?

Die Tatsache, dass eine Verschiebung des Antisemitismusvorwurfs von "den Mehrheitsdeutschen" hin zu einer ohnehin bei einer Vielzahl von Menschen unbeliebten Bevölkerungsgruppe medial auf offene Ohren und bei manchen geradezu auf Begeisterung stößt, spiegelt sich in der Vielzahl von Studien wider, die in den vergangenen Jahren zum Thema islamischer Antisemitismus entstanden sind. Interessant ist in diesem Kontext insbesondere eine Umfrage aus den Jahren 2015 und 2016 unter Deutschen mit türkischem Hintergrund. Von diesen wurde fast die Hälfte als "positiv gegenüber Juden eingestellt" eingestuft, und etwa 21 Prozent als negativ. 30 Prozent zogen es vor, gar keine Antwort zu geben, was sich als Nachklang der deutschen Kommunikationslatenz interpretieren lässt.

Mit antisemitischen Einstellungen bei denjenigen, die erst kürzlich nach Deutschland gekommen sind, befassten sich gleich vier Studien, die alle kurz nach dem "Flüchtlingssommer 2015" entstanden sind. Die Autorinnen und Autoren führten dabei Einzel- und Gruppeninterviews mit Geflüchteten aus Syrien, dem Irak und Afghanistan und/oder befragten Expertinnen und Experten, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sowie zivilgesellschaftliche Akteure verschiedener Herkünfte. Trotz der unterschiedlichen Herangehensweisen und Stichproben sind die Ergebnisse erstaunlich ähnlich und ähneln zudem dem Resultat einer europäisch vergleichenden Studie des britischen Historikers David Feldman. Dieser kam zu dem Schluss, dass die Mehrheit der Interviewten zwar antisemitische Ressentiments äußerte, dies aber meist fragmentarisch tat. Neben einer großen Bandbreite von Einstellungen gegenüber Jüdinnen und Juden, die von positiver Neugier über Neutralität bis hin zu manifesten Weltverschwörungsfantasien reichten, konnte dabei ein großes Nichtwissen über das Judentum und den Holocaust sowie der Gebrauch von einseitiger Israelkritik festgestellt werden. Gerade für Letzteres scheint aber die arabische Herkunft sehr viel wichtiger zu sein als die religiöse Prägung.

Insgesamt gibt es bislang keine verlässlichen Belege dafür, dass die Zuwanderung aus islamisch geprägten Ländern seit 2015 einen relevanten Einfluss auf die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland hatte, zumal weder Musliminnen und Muslime noch Geflüchtete und noch viel weniger Menschen mit Migrationshintergrund homogene Kollektive sind.

Viel wichtiger scheint zu sein, auf welche Einstellungen und Normen Neuankommende hier treffen, und da bietet auch das gegenwärtige Deutschland keineswegs eine homogene Werteeinheit. Die Ergebnisse einer 2019 veröffentlichten Berliner Umfrage, bei der auch Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft und in sechs Sprachen interviewt wurden, gleichen dem deutschen Durchschnitt, wobei Menschen ohne Migrationshintergrund höhere Zustimmungsraten zu Schuldabwehrantisemitismus, also Antisemitismus aus dem Motiv der Abwehr von Erinnerung an und Verantwortung für den Holocaust, aufweisen, während bei Migrantinnen und Migranten der israelbezogene Antisemitismus höher liegt. Als wichtige Einflussfaktoren für Antisemitismus bei Alteingesessenen wie Zugewanderten werden in dieser Untersuchung vor allem ein konservativer und/oder nationalistischer Wertekanon, aber auch autoritäre Orientierung, geringere Bildung, geringe Frustrationstoleranz und Neigung zu Verschwörungsdenken genannt.

Ausblick

War bei allen Studien zu antisemitischen Einstellungen recht eindeutig, dass die Bemühungen um Bildung und Prävention eine messbare positive Wirkung haben, haben die vergangenen Jahre aber auch bewiesen, dass entgegen aller Fortschritts- und Bildungsgläubigkeit der Antisemitismus durchaus wieder virulent werden kann. Denn die Zahl der antisemitischen Straftaten steigt:2018 um 19 und 2019 um 13 Prozent, wobei dabei vor allem der Anstieg der Gewalttaten beunruhigend ist.

Rund 90 Prozent dieser Straftaten werden dem rechtsradikalen Milieu zugeordnet, und obgleich manche Zweifel an der Exaktheit der Zuordnung im Einzelfall bestehen, kann man nicht darüber hinwegsehen, dass antisemitische Hasskriminalität in Deutschland dominant aus diesem Lager kommt. Wie aber lässt sich dieser eklatante Widerspruch zwischen steigender Kriminalität einerseits und allseits sinkenden Umfragewerten zu antisemitischen Einstellungen andererseits erklären? Selbst wenn man eine erhöhte Sensibilität und Anzeigebereitschaft in Rechnung stellt, bleibt doch ein beunruhigender und erklärungsbedürftiger Rest.

Eine mögliche Antwort auf die Frage bietet eine qualitative Analyse der Kulturwissenschaftlerin Julijana Ranc, die in den 2000er Jahren zahlreiche Gruppendiskussionen mit west- und ostdeutschen Jugendlichen und Erwachsenen vom Land und aus der Stadt führte. Dabei ging es um allgemeine politische Probleme, beispielsweise vor dem Hintergrund der Globalisierung oder von Entwicklungen in der EU. Ging es also gerade nicht um Antisemitismus oder Jüdinnen und Juden, wurden häufig antijüdische Ressentiments zum Ausdruck gebracht, in der Dynamik von Rede und Gegenrede befeuert und – viel seltener allerdings – missbilligt oder pariert. In den "antijüdischen Erregungsgemeinschaften", die Ranc immer wieder vorfand, gab es nur wenige "Ressentimentgetriebene", die "die Juden" immer wieder thematisieren mussten, egal worum es gerade ging. Ihnen sekundierten die "Gelegenheitsantisemiten", die, wenn man schon mal beim Thema war, ihren sprichwörtlichen "Senf dazu geben mussten". Beängstigend ist dabei, wie oft und leicht es diesen beiden Gruppen gelang, die große Mehrheit, nämlich die Ambivalenten und Indifferenten, auf ihre Seite zu ziehen, und wie schwer es die wenigen dezidierten Anti-Antisemiten hatten, mit ihren Argumenten durchzukommen. Dies wirft "ein grelles Schlaglicht auf die Aufklärungsresistenz des antijüdischen Ressentiments unter deutschen Durchschnittsbürgern".

Geht man davon aus, dass sich diese Situation in den vergangenen zehn Jahren nicht eklatant verbessert hat, so mögen Rancs Ergebnisse auch einiges von dem erklären, was heute beunruhigend wirkt: Die Größenordnung der Ressentimentgetriebenen und der Gelegenheitsantisemiten in Rancs Gruppen entspricht nämlich in etwa derjenigen, die in der Umfrageforschung als Menschen mit manifestem antisemitischen Weltbild (etwa 10 Prozent) und als latent antisemitisch Eingestellte (etwa 15 bis 20 Prozent) erfasst werden. Der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer, wies bereits 2018 darauf hin, dass vielleicht zu lange immer nur auf die zehn Prozent "echten" Antisemitinnen und Antisemiten gestarrt und sich angesichts ihrer gleichbleibend verhältnismäßig kleinen Zahl in Sicherheit gewiegt wurde, anstatt sich mehr um die bis zu 20 Prozent Gelegenheitsantisemiten zu kümmern. Es scheint, als seien diese nun "von der Leine" gelassen. Die steigenden Zahlen antisemitischer Straftaten belegen in erster Linie also eine zunehmende Gelegenheitsstruktur, sei es durch eine Verrohung der Umgangsformen, sei es durch Radikalisierungsmöglichkeiten im Internet, sei es durch die steigende Salonfähigkeit von nationalistischen, völkischen und rassistischen Positionen und Handlungen – denn Antisemitismus kommt nicht allein. In Deutschland steigen nicht nur die Zahlen für antisemitische Delikte, Vorfälle und Einstellungen, sondern insgesamt die für rassistischen Hass, Diskriminierung und Gewalt. Antisemitismus ist also vielmehr ein Syndrom des Bedürfnisses nach einfacher Welterklärung bei starken Gefühlen, nach Selbstversicherung durch Konstruktion einer Fremdgruppe, auf die man sein Ressentiment konzentrieren kann.

Mich beunruhigen die Ergebnisse von Julijana Rancs Studie daher vor allem wegen des von ihr sezierten Verhaltens der Ambivalenten und Indifferenten. Begegnete ihnen ein "Gerücht über Juden", so hatten sie dem wenig entgegenzusetzen, und dies umso weniger, wenn es um "urdeutsche" Themen wie Vergangenheitspolitik, Schuldabwehr, Schlussstrichforderungen und Nationalstolz geht. Hier liegt meiner Meinung nach das wohl gefährlichste Einfallstor für antisemitische Positionen und Politiken in die berühmte Mitte der Gesellschaft. Diese gilt es daher in allererster Linie in den Blick zu nehmen, zu stärken und auf den demokratischen Grundkonsens zu verpflichten. Ich weiß nicht, ob es eine gute Nachricht ist, dass wir auch diese Erkenntnis schon mit jenen Intellektuellen teilen, die sich vor 1933 mit Antisemitismus und den Möglichkeiten seiner Bekämpfung beschäftigten. Dennoch sei einem von ihnen, Constantin Brunner, das letzte Wort überlassen: Es gehe schlicht darum, schrieb er Anfang der 1920er Jahre, die Gesellschaft so einzurichten, dass sie die Menschen in ihrer Verschiedenheit schütze. Diese Aufgabe ist uns bekanntlich erhalten geblieben.

Eine längere Fassung des Beitrags wird im Herbst 2020 im Sammelband "'Du Jude' - Antisemitismus-Studien und ihre pädagogischen Konsequenzen" erscheinen.

ist Historikerin und Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. E-Mail Link: schueler-springorum@tu-berlin.de