"Antisemitismus", so schrieb der Altmeister der Kritischen Theorie, Theodor W. Adorno, einst in seiner Schrift "Minima Moralia" im Jahre 1951, "ist das Gerücht über die Juden". Wenngleich keine sehr praktikable oder gar ausreichende Definition, verwies Adorno jedoch auf zwei zentrale Charakteristika des Antisemitismus: Zum einen geht es um "die Juden". Der Antisemit oder die Antisemitin, so der britische Philosoph Brian Klug, macht aus Jüdinnen und Juden "die Juden", er konstruiert also eine homogene Gruppe, die als solche nur in seiner Fantasie existiert.
Insbesondere das Halbheimliche mag auf den ersten Blick allerdings etwas übertrieben erscheinen, wird doch in jüngster Zeit sehr laut und öffentlich über Antisemitismus geredet. Man könnte sogar sagen, dass Antisemitismus geradezu ein beliebtes öffentliches Thema geworden ist, ein Medienstar. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht eine aktuelle Umfrage, eine Studie oder eine Statistik veröffentlicht wird, in der es um Antisemitismus geht. Hinter der Vielzahl an Studien steht dabei nicht nur das Ziel der Wissensvermehrung, sondern auch das Verlangen danach, ein komplexes, schwer zu definierendes gesellschaftliches Phänomen begreifbar und damit auch beherrschbar zu machen, nach dem Motto: Problem erkannt, ermessen, bekämpft. Antisemitismus ist jedoch nicht messbar wie die Wassertemperatur. Mehr noch: Die vielen Umfragen und Statistiken dienen auch dazu, das Unbehagen zu bannen und suggerieren eine Sicherheit darüber, wie es um uns steht, die es so aber nicht geben kann. Zahlen können allerdings helfen, gesellschaftliche Tendenzen und Bewegungen wahrzunehmen. Dies soll im Folgenden herausgearbeitet und in den Kontext der Entwicklungen der Antisemitismusforschung eingeordnet werden.
Analysekategorien und historische Kontinuitäten
Ich möchte dabei in einem ersten Schritt einen Blick zurück werfen, um die historische Bedingtheit aktueller Präferenzen der Antisemitismusforschung zu verdeutlichen. Wie setzten sich jüdische wie nichtjüdische Autorinnen und Autoren vor 1933 mit dem modernen Antisemitismus auseinander? Dieser wurde von ihnen als etwas Neues empfunden, als etwas, was sich nicht allein mit dem "mittelalterlichen" religiösen Judenhass erklären ließ.
Hier kam nun auffällig oft eine Analysekategorie ins Spiel, die von der Antisemitismusforschung erst vor Kurzem wieder ins Zentrum zurückgeholt wurde: die Rolle der Emotionen für die Erklärung von Macht und Persistenz des antijüdischen Ressentiments.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Frankfurter Schule waren es auch, die zusammen mit wenigen Remigrantinnen und Remigranten sowie vor allem der US-Besatzungsmacht moderne soziologische Forschungsmethoden für den Nachkriegsumgang mit Antisemitismus fruchtbar machten.
Um diese Fähigkeit war es in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg nicht allzu gut bestellt, sieht man sich die ersten Studien zum Thema an: In einer Umfrage von 1946 waren 85 Prozent der Befragten gegen die Rückkehr der überlebenden Jüdinnen und Juden nach Deutschland, ein Jahr später kam der Antisemitismusreport der US-Militärregierung zu dem Ergebnis, dass 18 Prozent der deutschen Bevölkerung als radikale Antisemitinnen und Antisemiten, 21 Prozent als Antisemitinnen und Antisemiten, weitere 22 Prozent als Rassistinnen und Rassisten, 19 Prozent als Nationalistinnen und Nationalisten und nur 20 Prozent als weitgehend frei von diesen Ressentiments anzusehen seien.
Insofern bedurfte es in beiden deutschen Staaten eines Generationswechsels, um diese Kontinuität aufzubrechen. Bis dieser jedoch gesellschaftlich wirksam werden konnte, dauerte es bis zu den späten 1980er Jahren, also bis "die 68er" in den Schulen die Jahrgänge der nächsten Generation unterrichten konnten. Deutlich wird dies zum Beispiel in der Frage: "Würden Sie sagen, es wäre besser, keine Juden im Land zu haben?", die seit den späten 1940er Jahren in allen Umfragen wiederholt gestellt wurde: Zwischen 1950 und 1983 nahm die Zustimmung zu diesem Satz zwar von fast 40 auf 9 Prozent ab, interessant ist aber vor allem die Anzahl derjenigen, die "unentschieden" waren oder diese Frage gar nicht beantworten wollten: Diese nahm seit den 1950er Jahren kontinuierlich zu und erreichte 1983 fast 50 Prozent.
Letzteres wiederum belegt eine (ausnahmsweise unumstrittene) Erkenntnis der Antisemitismusforschung: Die enorme Bedeutung, die der Haltung der Eliten zukommt: Nach 1990 ist die "Vergangenheitsbewältigung" nicht zuletzt aus außenpolitischen Gründen zur Staatsräson geworden. Diese Wandlung im politischen Feld hat schließlich auch die Finanzierung dessen zur Folge, was heute als vorbildlicher deutscher Umgang mit einer mörderischen Vergangenheit gepriesen wird: Geld für Bildungs- und Gedenkstätten, Museen und Nichtregierungsorganisationen, die insgesamt eine hervorragende Arbeit leisten. "Die ausgeprägte Bereitschaft, Verantwortung für die Verbrechen vorangegangener Generationen zu übernehmen",
Messung von Antisemitismus
Das Thema, das die Antisemitismusforschung in Zukunft vermutlich am meisten beschäftigen wird, ist der Antisemitismus im Internet. Schon 2016 wurde ein erster globaler Versuch gestartet, die Frequenz von Antisemitismus in sozialen Medien zu messen. Hierfür wurden die gemeldeten antisemitischen Beiträge auf Youtube, Facebook und Twitter sowie die jeweiligen Löschraten zueinander in Beziehung gesetzt, wobei die Rate insgesamt bei Facebook mit 37 Prozent am höchsten und bei Youtube mit 8 Prozent am niedrigsten ausfiel. Interessant ist eine Aufschlüsselung nach der Form des Antisemitismus, die jeweils für löschwürdig erachtet wurde: So waren zum Beispiel zehn Monate nach der Meldung auf Facebook noch 25 Prozent der Gewaltaufrufe und 42 Prozent der Shoah-Leugnungen vorhanden, während Youtube vor allem Gewaltaufrufe zu löschen scheint, alles andere – etwa israelbezogenen Antisemitismus – aber stehen lässt.
Diese ist bei der Umfrageforschung meist gegeben. Angesichts dessen, was dies an Forschungsaufwand bedeutet, ist es allerdings kaum verwunderlich, dass es kaum globale Studien gibt. Die bekannteste ist die Umfrage, die die US-amerikanische Anti-Defamation League regelmäßig in Auftrag gibt und bei der per Telefon die Zustimmung zu bestimmten antisemitischen Stereotypen abgefragt wird. 2015 schnitten dabei Dänemark mit 8, die USA mit 10, Großbritannien mit 12 und die Niederlande mit 11 Prozent am besten ab. Deutschland und Frankreich lagen mit 16 und 17 Prozent im Mittelfeld, während Länder wie Griechenland, Iran und die Türkei mit Zustimmungswerten von 67 bis 70 Prozent die "Schlusslichter" bildeten.
In Deutschland gibt es zudem eine Reihe von Erhebungen, etwa die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALBUS) oder die Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die antisemitische und andere Einstellungen jeweils im Kontext gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen erheben. Laut ALBUS ist die Zustimmung zu antisemitischen Feststellungen zwischen 2006 und 2016 um etwa zehn Prozentpunkte gesunken, laut Antidiskriminierungsstelle ist die Ablehnung von Jüdinnen und Juden als Nachbarn oder Familienmitglieder fast so hoch wie die von Atheistinnen und Atheisten, aber weitaus niedriger als die von Musliminnen und Muslimen oder anderen als "fremd" markierten Personen.
Als wichtigste, weil kontinuierliche und damit vergleichbare Erhebungen der Antisemitismusforschung kommen die sogenannten Mitte-Studien zu einem ähnlichen Ergebnis: Antisemitische Einstellungen gingen zwischen 2002 und 2018 deutlich zurück, der Anteil derjenigen, die ein "geschlossen manifestes antisemitisches Weltbild" aufweisen, hat sich sogar mehr als halbiert: von 9,3 auf 4,4 Prozent.
All dies widerspricht deutlich dem allgemeinen, in den Medien kolportierten Eindruck eines dramatischen Anstiegs des Antisemitismus in Deutschland und Europa. Laut Eurobarometer von 2018 denkt die Mehrheit der Europäerinnen und Europäer, dass Antisemitismus ein Problem in ihrem Land sei. Zwei Drittel aller Deutschen glauben, dass dieser in den vergangenen fünf Jahren zugenommen habe.
Eine im Auftrag des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Bundestages erstellte Studie war ein Jahr zuvor für Deutschland zu ähnlichen, nicht ganz so hohen Zahlen gekommen, sprach jedoch eine deutliche Sprache, was die Wahrnehmung der Täterinnen und Täter betrifft: Sowohl bei den gewalttätigen Attacken als auch bei erfahrenen Beleidigungen gaben die meisten Musliminnen und Muslime als Täterinnen und Täter an.
Neue Einflussfaktoren?
Die Tatsache, dass eine Verschiebung des Antisemitismusvorwurfs von "den Mehrheitsdeutschen" hin zu einer ohnehin bei einer Vielzahl von Menschen unbeliebten Bevölkerungsgruppe medial auf offene Ohren und bei manchen geradezu auf Begeisterung stößt, spiegelt sich in der Vielzahl von Studien wider, die in den vergangenen Jahren zum Thema islamischer Antisemitismus entstanden sind. Interessant ist in diesem Kontext insbesondere eine Umfrage aus den Jahren 2015 und 2016 unter Deutschen mit türkischem Hintergrund.
Mit antisemitischen Einstellungen bei denjenigen, die erst kürzlich nach Deutschland gekommen sind, befassten sich gleich vier Studien, die alle kurz nach dem "Flüchtlingssommer 2015" entstanden sind.
Insgesamt gibt es bislang keine verlässlichen Belege dafür, dass die Zuwanderung aus islamisch geprägten Ländern seit 2015 einen relevanten Einfluss auf die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland hatte, zumal weder Musliminnen und Muslime noch Geflüchtete und noch viel weniger Menschen mit Migrationshintergrund homogene Kollektive sind.
Viel wichtiger scheint zu sein, auf welche Einstellungen und Normen Neuankommende hier treffen, und da bietet auch das gegenwärtige Deutschland keineswegs eine homogene Werteeinheit. Die Ergebnisse einer 2019 veröffentlichten Berliner Umfrage, bei der auch Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft und in sechs Sprachen interviewt wurden, gleichen dem deutschen Durchschnitt, wobei Menschen ohne Migrationshintergrund höhere Zustimmungsraten zu Schuldabwehrantisemitismus, also Antisemitismus aus dem Motiv der Abwehr von Erinnerung an und Verantwortung für den Holocaust, aufweisen, während bei Migrantinnen und Migranten der israelbezogene Antisemitismus höher liegt. Als wichtige Einflussfaktoren für Antisemitismus bei Alteingesessenen wie Zugewanderten werden in dieser Untersuchung vor allem ein konservativer und/oder nationalistischer Wertekanon, aber auch autoritäre Orientierung, geringere Bildung, geringe Frustrationstoleranz und Neigung zu Verschwörungsdenken genannt.
Ausblick
War bei allen Studien zu antisemitischen Einstellungen recht eindeutig, dass die Bemühungen um Bildung und Prävention eine messbare positive Wirkung haben, haben die vergangenen Jahre aber auch bewiesen, dass entgegen aller Fortschritts- und Bildungsgläubigkeit der Antisemitismus durchaus wieder virulent werden kann. Denn die Zahl der antisemitischen Straftaten steigt:2018 um 19 und 2019 um 13 Prozent,
Rund 90 Prozent dieser Straftaten werden dem rechtsradikalen Milieu zugeordnet, und obgleich manche Zweifel an der Exaktheit der Zuordnung im Einzelfall bestehen, kann man nicht darüber hinwegsehen, dass antisemitische Hasskriminalität in Deutschland dominant aus diesem Lager kommt. Wie aber lässt sich dieser eklatante Widerspruch zwischen steigender Kriminalität einerseits und allseits sinkenden Umfragewerten zu antisemitischen Einstellungen andererseits erklären? Selbst wenn man eine erhöhte Sensibilität und Anzeigebereitschaft in Rechnung stellt, bleibt doch ein beunruhigender und erklärungsbedürftiger Rest.
Eine mögliche Antwort auf die Frage bietet eine qualitative Analyse der Kulturwissenschaftlerin Julijana Ranc, die in den 2000er Jahren zahlreiche Gruppendiskussionen mit west- und ostdeutschen Jugendlichen und Erwachsenen vom Land und aus der Stadt führte.
Geht man davon aus, dass sich diese Situation in den vergangenen zehn Jahren nicht eklatant verbessert hat, so mögen Rancs Ergebnisse auch einiges von dem erklären, was heute beunruhigend wirkt: Die Größenordnung der Ressentimentgetriebenen und der Gelegenheitsantisemiten in Rancs Gruppen entspricht nämlich in etwa derjenigen, die in der Umfrageforschung als Menschen mit manifestem antisemitischen Weltbild (etwa 10 Prozent) und als latent antisemitisch Eingestellte (etwa 15 bis 20 Prozent) erfasst werden. Der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer, wies bereits 2018 darauf hin, dass vielleicht zu lange immer nur auf die zehn Prozent "echten" Antisemitinnen und Antisemiten gestarrt und sich angesichts ihrer gleichbleibend verhältnismäßig kleinen Zahl in Sicherheit gewiegt wurde, anstatt sich mehr um die bis zu 20 Prozent Gelegenheitsantisemiten zu kümmern.
Mich beunruhigen die Ergebnisse von Julijana Rancs Studie daher vor allem wegen des von ihr sezierten Verhaltens der Ambivalenten und Indifferenten. Begegnete ihnen ein "Gerücht über Juden", so hatten sie dem wenig entgegenzusetzen, und dies umso weniger, wenn es um "urdeutsche" Themen wie Vergangenheitspolitik, Schuldabwehr, Schlussstrichforderungen und Nationalstolz geht. Hier liegt meiner Meinung nach das wohl gefährlichste Einfallstor für antisemitische Positionen und Politiken in die berühmte Mitte der Gesellschaft. Diese gilt es daher in allererster Linie in den Blick zu nehmen, zu stärken und auf den demokratischen Grundkonsens zu verpflichten. Ich weiß nicht, ob es eine gute Nachricht ist, dass wir auch diese Erkenntnis schon mit jenen Intellektuellen teilen, die sich vor 1933 mit Antisemitismus und den Möglichkeiten seiner Bekämpfung beschäftigten. Dennoch sei einem von ihnen, Constantin Brunner, das letzte Wort überlassen: Es gehe schlicht darum, schrieb er Anfang der 1920er Jahre, die Gesellschaft so einzurichten, dass sie die Menschen in ihrer Verschiedenheit schütze.
Eine längere Fassung des Beitrags wird im Herbst 2020 im Sammelband "'Du Jude' - Antisemitismus-Studien und ihre pädagogischen Konsequenzen" erscheinen.