Einleitung
Auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, das etwas kleiner war als die alte Bundesrepublik Deutschland, haben sich seit 1991 sieben Staaten formiert: Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Kosovo und Mazedonien. Der Zerfall der "Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien" hat viele Fragen aufgeworfen: Woran ist der Bundesstaat zugrunde gegangen? Steht sein Ende exemplarisch für das Scheitern "multikultureller" Gesellschaften? Hat der "uralte Hass" zwischen den Nationen und Minderheiten, haben die "Balkan ghosts"
Oder waren es kleine Gruppen von Akteuren, die seinen Untergang inszenierten? Welche Rolle spielte die "internationale Gemeinschaft"? Wie stellen sich der Staatszerfall und die postjugoslawischen Kriege im Licht des Völkerrechts dar? Welche Konsequenzen hat der Staatszerfall für die Stabilität der gesamten Region? Wie erklärt sich die Eskalation der Gewalt, die den Kollaps des Staates begleitete und ihm folgte? Und wie erklärt sich, dass aus Nachbarn Mörder wurden? Nicht alle Fragen können im Rahmen dieses Beitrags beantwortet werden. Im Mittelpunkt sollen daher die internen Ursachen und Begleitumstände des Staatszerfalls stehen.
Die Krise der 1980er Jahre
Im Verlauf der 1980er Jahre zeichneten sich vor dem Hintergrund einer schweren Wirtschaftskrise und schleichender Entlegitimierung des politischen Systems zwei gegensätzliche politische Strömungen ab: auf der einen Seite die Verfechter einer Liberalisierung von Wirtschaft und Politik (vertreten vor allem durch Politiker in Slowenien), auf der anderen die Befürworter einer Rezentralisierung und Stärkung des Bundesstaats (angeführt von Politikern in Serbien).
Die von serbischer Seite vertretene These, die Verfassung von 1974 habe Jugoslawien "unregierbar" gemacht, ist ebenso richtig wie falsch. Die komplizierten, für die Bürgerinnen und Bürger kaum verständlichen Bestimmungen der Verfassung haben die zentrifugalen Tendenzen befördert und die Lösung innenpolitischer Krisen erschwert, diese aber nicht ausgelöst oder ihre Überwindung unmöglich gemacht. Ein Blick auf die Verfassungsgeschichte des ersten und zweiten Jugoslawien (oder der früheren Sowjetunion und der Tschechoslowakei) zeigt, dass eine Verfassung (ganz gleich ob sie zentralistisch, schein-föderalistisch oder (kon)föderalistisch ist) nur dann funktioniert, wenn sie auf einem politischen Grundkonsens beruht. Letztlich war es immer die außerhalb der Verfassung oder unabhängig von ihr ausgefochtene Machtfrage, die über Staatserhalt oder Staatszerfall entschied. Nicht die geschriebene Verfassung, sondern die "Verfassung" in den Köpfen der Politiker machte Jugoslawien zu einem "schwachen Staat".
Die Auseinandersetzungen wurden zunächst als ordnungspolitischer - nicht als nationaler - Konflikt geführt. Dennoch enthielten sie eine nationale Komponente, die mit dem seit Gründung des ersten jugoslawischen Staates Ende 1918 bestehenden Entwicklungs- und Wohlstandsgefälle innerhalb des Landes verbunden war. Den vergleichsweise wohlhabenden Regionen im Nordwesten und Norden Jugoslawiens standen die ärmeren Gebiete im Süden gegenüber, während das engere Serbien (ohne die Autonomen Provinzen) in etwa den gesamtstaatlichen Durchschnitt repräsentierte. Trotz staatlicher Umverteilungsmaßnahmen im ersten wie im zweiten Jugoslawien waren die Entwicklungsunterschiede seit 1918 nicht geringer geworden, sondern hatten sich seit Mitte der 1960er Jahre (seit Einführung der "sozialistischen Marktwirtschaft") weiter verschärft.
Multinationale Gemeinschaft und ethnische Distanz
Obwohl die wirtschaftlich-soziale Krise national konnotiert war, waren die transnationalen Beziehungen in Jugoslawien bis in die 1980er Jahre hinein nicht konfliktreicher als in anderen Vielvölkerstaaten. Die These, dass die multinationale Gemeinschaft Jugoslawiens nur eine der politischen Unterdrückung durch das kommunistische Regime geschuldete Chimäre gewesen sei, ist höchst unwahrscheinlich. Beweisen lässt sie sich nicht. Untersuchungen zur "ethnischen Distanz" zwischen den verschiedenen Volksnationen in Jugoslawien zeigen unzweifelhaft, dass diese weniger ausgeprägt war als in manchen höher entwickelten Ländern und deutlich geringer als z.B. in den USA. Zahlreiche Umfragen belegen, dass die interethnischen Beziehungen (etwa am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft) von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung Jugoslawiens noch bis Ende der 1980er Jahre als gut oder zumindest befriedigend und nur von einem kleinen Teil der Befragten als schlecht beurteilt wurden. Die einzige Ausnahme betraf das Verhältnis zwischen Albanern auf der einen und Serben, Mazedoniern und Montenegrinern auf der anderen Seite; hier bestanden sowohl auf albanischer wie auf südslawischer Seite massive (mitunter rassistisch geprägte) Vorurteile.
Die ethnonationale Mobilisierung
Nicht nur serbische Politiker und Intellektuelle waren unzufrieden mit der Verfassung von 1974, sondern auch Teile der kosovo-albanischen Bevölkerung. Im Frühjahr 1981 kam es in Kosovo zu Demonstrationen der Albaner, welche die Anerkennung ihrer Provinz als siebente Republik forderten. Durch die Verhängung des Ausnahmerechts, den Einsatz von Panzern und mittels Massenverhaftungen konnte die jugoslawische Staats- und Parteiführung die Ruhe in Kosovo äußerlich wiederherstellen, aber mit der stereotypen Klassifizierung der nie seriös aufgeklärten Ereignisse als "Konterrevolution" und "Irredentismus" wurde jede Diagnose der Probleme unterbunden und der Mythenbildung Vorschub geleistet.
Am 15. Mai 1982 veröffentlichte das Organ der Serbischen Orthodoxen Kirche, "Pravoslavlje", einen "Appell zur Verteidigung der serbischen Bevölkerung und seiner Heiligtümer in Kosovo". Die 21 Priester und Mönche, die den Appell unterzeichneten, erklärten: "Ohne alle Übertreibung kann man sagen, dass das serbische Volk in Kosovo einen langsamen, gut geplanten Genozid erleidet."
Am 24. September 1986 veröffentlichte die Tageszeitung "Veèernje Novosti" Auszüge aus einem Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen in Jugoslawien.
Das Memorandum wurde von den Politikern in Jugoslawien (einschließlich derjenigen in Serbien) nahezu einhellig verurteilt. Aber Kosovo-Serben, serbische Schriftsteller und Wissenschaftler trieben die nationale Mobilisierung voran. 1987 kam es zur politischen Wende in Serbien. Slobodan Milosevic, seit Ende Mai 1986 Chef der Partei des Bundes der Kommunisten (BdK) Serbiens, besuchte am 24. April die Kosovo-Hauptstadt Pristina, wo er an die Adresse der dortigen Serben jenen Satz richtete, der ihn schnell in ganz Jugoslawien und darüber hinaus bekannt machen sollte: "Niemand darf euch schlagen".
In mehreren Städten der Wojwodina, Montenegros und Serbiens wurden seit Mitte 1988 perfekt inszenierte "Demonstrationen" abgehalten, auf denen sich der serbische "Volkswille" immer vehementer und aggressiver artikulierte. Die Rhetorik auf diesen "Meetings" bewegte sich zwischen Beschwörung historischer Opfermythen und Verfolgungsängsten auf der einen und dem Ruf nach einer serbischen Sammlungsbewegung auf der anderen Seite. Die 600-Jahr-Feier der Kosovo-Schlacht am 28. Juni 1989 gestaltete sich zum Höhepunkt der nationalistischen Mobilisierungswelle. Bereits zuvor - im Oktober 1988 und im Januar 1989 - waren unter dem Druck der Straße die politischen Führungen der Wojwodina und Montenegros zurückgetreten und durch Milosevic-treue Cliquen ersetzt worden.
Neu aufflammender Widerstand in Kosovo wurde mit großer Brutalität durch Armee und Polizei erstickt. Im März 1989 wurde die Autonomie Kosovos und der Wojwodina durch eine serbische Verfassungsänderung, die de facto gegen die Bundesverfassung von 1974 verstieß, drastisch eingeschränkt. Gleichwohl verzichtete Milosevic nicht auf die Stimmen beider Provinzen in den jugoslawischen Bundesorganen. Serbien hatte nun drei bzw. nach der Gleichschaltung Montenegros vier Stimmen, das heißt, ebenso viele Stimmen wie alle anderen vier Republiken Jugoslawiens zusammen. Damit hatte die offene Demontage des zweiten Jugoslawien begonnen.
Der Mobilisierungseffekt von Wahlen und Referenden
Eine Einigung über die Ausgestaltung eines neuen ("dritten") Jugoslawien rückte in immer weitere Ferne. Auf dem XIV. Parteitag des BdK im Januar 1990 überstimmte die Milosevic-treue Mehrheit alle Anträge der slowenischen Delegation. Die slowenischen und kroatischen Delegierten verließen daraufhin den Parteitag. Und mit dessen Abbruch verschwand - knapp zehn Jahre nach dem Tod der Vaterfigur Tito - eine weitere Klammer, die den Bundesstaat Jugoslawien hatte zusammenhalten sollen. Übrig blieb nur noch die Jugoslawische Volksarmee (JVA).
Die zunächst von allen Politikern (und der Mehrheit der Bürger in allen Republiken) vertretene gesamtjugoslawische Option rückte deutlich in den Hintergrund, nachdem die 1990 abgehaltenen ersten freien Wahlen seit 63 Jahren in allen Republiken (mit Ausnahme Serbiens und Montenegros) national-"bürgerliche" Parteien oder Koalitionen an die Macht gebracht hatten. Nur in Serbien und Montenegro konnten sich die nationalistisch "gewandelten" Kommunisten behaupten. Nach den Wahlen von 1990 trat der Zerfallsprozess Jugoslawiens in seine akute Phase. In Slowenien bedeutete der Sieg des Mitte-Rechts-Bündnisses "Demos" vom April 1990 eine deutliche Beschleunigung der Verselbständigungspolitik. Auch in Kroatien lief der Sieg der nationalistischen "Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft" (HDZ) unter Franjo Tudjman und der gewachsene Einfluss der kroatischen "Hardliner" aus der Westherzegowina und der Diaspora auf eine künftige Abspaltung von Jugoslawien hinaus. Die HDZ und Franjo Tudjman trugen maßgeblich zur Eskalation bei. Ihr mit nationalistischen Parolen geführter Wahlkampf musste die knapp 600 000 Serben Kroatiens zutiefst verunsichern. Die in der novellierten kroatischen Verfassung vorgenommene Herabstufung der kroatischen Serben vom zweiten Staatsvolk zur Minderheit und die Abschaffung der bis dahin notwendigen Zweidrittelmehrheit bei nationalitätenpolitischen Beschlüssen des kroatischen Parlaments nährte die Diskriminierungsängste der Serben und weckte Erinnerungen an den kroatischen Ustascha-Staat im Zweiten Weltkrieg. Die öffentliche Zurschaustellung von Ustascha-Symbolen, die berufliche Diskriminierung von Serben, das provokant-brutale Vorgehen der Polizei, die nationalistische Agitation der neu gegründeten "Kroatischen Rechtspartei" des Extremisten Dobroslav Paraga, die Verharmlosung serbischer Opfer im Zweiten Weltkrieg und eine rasch um sich greifende Serbophobie heizten die Atmosphäre an. Und die Berichte serbischer Medien über die Entdeckung von Skeletten serbischer Opfer, die von den Ustasche während des Zweiten Weltkriegs achtlos in zahllose Höhlen geworfen worden waren, sorgten zusätzlich für Angst und Schrecken. Statt die aufgewühlte Stimmung in der Bevölkerung zu beruhigen, weckten und schürten kroatische wie serbische Politiker die nationalen Emotionen.
Nachdem die Verhandlungen über eine Neuordnung Jugoslawiens im Verlauf des Jahres 1990 an den unversöhnlichen Positionen der einzelnen Republiken gescheitert und die dialogbereiten Politiker überall marginalisiert worden waren, setzte eine wahre Flut von Volksbefragungen ein. Den Auftakt machten die Krajina-Serben in Kroatien im August 1990, gefolgt von den Slowenen im Dezember 1990 und den Kroaten im Mai des folgenden Jahres. Acht weitere Referenden schlossen sich an. Die Bevölkerung Jugoslawiens, die noch nie eine funktionierende, pluralistische Demokratie erlebt und praktiziert hatte, wurde von einem Tag zum anderen mit weitreichenden Entscheidungen konfrontiert. In der Regel erfolgten die Befragungen unter größtem Zeitdruck, und die Wählerinnen und Wähler wurden unzureichend über die Konsequenzen ihrer Abstimmung informiert. In Slowenien, Kroatien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und Montenegro stimmte die jeweilige Bevölkerung über die Souveränität ihrer Republik und/oder die Sezession vom jugoslawischen Bundesstaat ab. Alternativen jenseits von "Ja" oder "Nein" gab es nicht. Diejenigen nationalen Minderheiten, die keine Chance hatten, die republikweite Befragung in ihrem Sinne zu entscheiden, boykottierten die Volksabstimmungen oder führten getrennte Plebiszite durch. Wesentlich mehr als die Ergebnisse der Parlamentswahlen wiesen die Resultate der Volksbefragungen den Charakter von Volkszählungen auf. Die nationale Zugehörigkeit wurde zum fast alleinigen Kriterium für die Entscheidung auf dem Fragebogen.
Das Ende Jugoslawiens und die postjugoslawischen Kriege
Am stärksten betroffen von einer drohenden Aufteilung Jugoslawiens war die serbische Bevölkerung. Nach den Ergebnissen der Volkszählung von 1981 lebten im engeren Serbien nur knapp 60 Prozent (4,8 Millionen) aller in Jugoslawien beheimateten Serben. Weitere 16,2 Prozent lebten in Bosnien-Herzegowina, 13,6 Prozent in der Wojwodina, 6,5 Prozent in Kroatien und 2,6 Prozent in Kosovo. Der Rest verteilte sich auf die übrigen Republiken. Nationalbewusste Serben leiteten aus dieser Konstellation zwei politische Alternativen ab: entweder Erhalt eines - entsprechend den serbischen Forderungen - umgestalteten Jugoslawiens oder Gründung eines Staates, der alle Gebiete umfassen sollte, in dem Serben lebten ("Großserbien"). Nicht ganz so dramatisch gestaltete sich die Situation der Kroaten. Von ihren 4,1 Millionen lebten 75 Prozent innerhalb der eigenen Republik, während 17,2 Prozent in Bosnien-Herzegowina und 2,7 Prozent in der Wojwodina zuhause waren. Dementsprechend strebten auch kroatische Nationalisten eine Neuordnung der Grenzen, insbesondere zu Lasten Bosnien-Herzegowinas, an. Die bosnischen Muslime ("Bosniaken") fürchteten dagegen zu Recht, dass ein Zusammenbruch Jugoslawiens auch die Integrität Bosnien-Herzegowinas (wo die Muslime gemäß den Ergebnissen von 1981 39,5 Prozent der Bevölkerung stellten, gefolgt von den bosnischen Serben mit 32,0 Prozent und den bosnischen Kroaten mit 18,4 Prozent) gefährden würde. Gleich den Bosniaken waren auch die slawischen Mazedonier mit Blick auf den großen albanischen Bevölkerungsanteil in ihrer Republik am Erhalt Jugoslawiens interessiert - ähnlich wie die Politiker des ethnisch heterogenen Montenegro. Nur die Slowenen lebten fast ausnahmslos in ihrer Republik, in der sie über 90 Prozent der Bevölkerung repräsentierten.
Am 25. Juni 1991 verkündeten die Parlamente von Slowenien und Kroatien die Unabhängigkeit ihrer Republiken. Daraufhin gab der letzte jugoslawische Regierungschef, der von der Bevölkerung allseits geschätzte Kroate Ante Markovic, der Jugoslawischen Volksarmee (JVA) die Weisung zur militärischen Sicherung der Grenzen in Slowenien. Das war der Beginn eines zehntägigen Krieges zwischen der Volksarmee und der slowenischen Territorialverteidigung, der dank einer europäischen Vermittlungsinitiative beendet wurde. Gleichzeitig mehrten sich in Kroatien die blutigen Zusammenstöße zwischen aufständischen Serben und kroatischer Nationalgarde, Polizei und paramilitärischen Banden, die zu einem Krieg um die serbisch besiedelten Territorien Kroatiens eskalierten. Die JVA, die sich Ende Juli aus Slowenien nach Kroatien zurückgezogen hatte, intervenierte dabei immer offener auf Seiten der serbischen Minderheit, die auch von neuen Sondereinheiten (den "Roten Baretten") der Milosevic unterstehenden Geheimpolizei in Serbien sowie von paramilitärischen Banden aus Serbien unterstützt wurden.
Die seit den Balkankriegen 1912/13 praktizierte Arbeitsteilung zwischen regulärem Militär und paramilitärischen Banden (letztere zur Erledigung der "Drecksarbeit") erlebte in den 1990er Jahren einen neuen Höhepunkt. Zwischen August und Dezember 1991 wurden aus den serbisch kontrollierten Gebieten Kroatiens schätzungsweise 80 000 Kroaten und Muslime zur "Säuberung des Territoriums" vertrieben. Dubrovnik und andere kroatische Städte wurden beschossen, und am 20. November nahmen die Serben die seit knapp drei Monaten belagerte und fast vollständig zerstörte ostslawonische Stadt Vukovar ein, wobei es zu ersten genozidalen Handlungen kam. Am 19. Dezember 1991 formierte sich in Kroatien die "Serbische Republik Krajina", aus der nahezu alle Nicht-Serben vertrieben wurden oder flohen.
Die zahllosen Verhandlungsinitiativen der Europäischen Gemeinschaft zur Lösung des Konflikts blieben bis Ende 1991 erfolglos. Auch die übrigen Akteure der internationalen Politik, allen voran die USA, standen der Entwicklung ratlos und abwartend gegenüber, zumal Jugoslawien seine vormalige strategische Bedeutung für den Westen verloren hatte. Das Ende des Kalten Krieges, die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, der Golfkrieg und die Auflösung der Sowjetunion überforderten Diplomaten und Politiker gleichermaßen.
Nach dem Scheitern einer mit vielen Hoffnungen begleiteten internationalen Jugoslawienkonferenz im September 1991 entschloss sich die deutsche Regierung am 23. Dezember im Alleingang zur Anerkennung von Slowenien und Kroatien, während die übrigen Staaten der EG diesem Schritt am 15. Januar 1992 - oft nur widerwillig - folgten. Die völkerrechtliche Sanktionierung des jugoslawischen Staatszerfalls führte zu heftigen Debatten.
Dort hatte die muslimische und kroatische Bevölkerung in einem Referendum Ende Februar/Anfang März 1992 für die Abspaltung vom serbisch dominierten Rumpf-Jugoslawien gestimmt. Der Krieg, der die Republik noch vor ihrer internationalen Anerkennung am 6. April 1992 erfasste, stellte in seinen Ausmaßen die Kämpfe in Kroatien bald in den Schatten.
Eine grundlegende Änderung der Lage in Kroatien und Bosnien zeichnete sich erst im Frühsommer 1995 ab. Anfang August startete die kroatische Armee eine Großoffensive gegen die "Republik Krajina", die innerhalb weniger Tage ohne nennenswerten Widerstand eingenommen wurde. Den serbischen Kriegern und ihren Angehörigen wurde freier Abzug garantiert. Über 150 000 Serben flüchteten daraufhin aus der Krajina in Richtung Bosnien und Serbien, wobei es von kroatischer Seite zu massiven Racheakten und Kriegsverbrechen kam.
Auch in Bosnien-Herzegowina bahnte sich Mitte 1995 die militärische Wende an. Zwar konnte das serbische Militär mit der Eroberung der ostbosnischen UN-Schutzzonen Srebrenica und Zepa im Juli einen letzten Erfolg erringen, aber die militärische Kooperation zwischen bosnischen Regierungstruppen und kroatischer Armee im Nordwesten Bosniens veränderte die militärische Lage innerhalb weniger Wochen von Grund auf. In gemeinsamen Offensiven erzielten kroatische und bosnische Truppen bedeutende Geländegewinne, während die NATO Luftangriffe gegen serbische Stellungen im Raum Sarajevo, Tuzla und Pale flog. In dieser Situation starteten die USA über ihren Unterhändler Richard Holbrooke eine neue Friedensinitiative. Nach Abschluss eines Waffenstillstands im Oktober 1995 trat in Dayton (Ohio) eine Friedenskonferenz zusammen, auf der die zerstrittenen Parteien ein Abkommen paraphierten, das am 14. Dezember in Paris unterzeichnet wurde. Entgegen den serbischen und kroatischen Teilungsplänen blieb Bosnien-Herzegowina als konföderativer Staat unter internationaler Aufsicht bestehen, zusammengesetzt aus zwei "Entitäten": der "bosniakisch-kroatischen Föderation" mit 51 Prozent des staatlichen Territoriums und der "Serbischen Republik" mit 49 Prozent. Im Anhang 7 des Rahmenabkommens von Dayton verpflichteten sich die Vertragsparteien, den Flüchtlingen und Vertriebenen die Rückkehr in ihre Heimatgemeinden zu ermöglichen. Dies war insofern ein Novum, als die "internationale Gemeinschaft" seit dem griechisch-türkischen "Bevölkerungsaustausch" von 1923 die Vertreibung und Deportation unerwünschter Bevölkerungsgruppen als ultima ratio zur "Lösung" zwischenstaatlicher Konflikte stets akzeptiert hatte.
Ethnische Säuberungen
In den seit 1990/91 von Serben kontrollierten Territorien hatten sofort ethnische Säuberungen eingesetzt, die auf eine lange Vorgeschichte zurückblicken konnten. Der Begriff "ethnische Säuberung" (etnièko ciscenje) ging nach Beginn des Bosnien-Kriegs um die Welt und wurde 1992 in Deutschland zum "Unwort des Jahres" gewählt. Sofern er als Synonym für Völkermord benutzt wird, ist er ein Euphemismus. Da aber nicht alle der unter diesem Wort subsumierten Aktionen dem völkerrechtlich definierten Tatbestand des Genozids entsprechen, müsste man den Begriff "ethnische Säuberung" regelrecht erfinden, falls es ihn nicht schon gäbe. Ethnische Säuberung und Völkermord sind nicht identisch. Der erste Begriff ist umfassender als der juristisch genau festgelegte Genozid. Er bezeichnet alle von einem Staat oder Para-Staat initiierten, ermunterten oder geduldeten Maßnahmen, die dazu dienen, eine national oder ethnisch unerwünschte Bevölkerung von einem bestimmten Territorium zu entfernen, einschließlich dessen, was an ihre bisherige Präsenz erinnern könnte. Ziel ist die Schaffung eines ethnisch und kulturell homogenen ("gesäuberten") Gebiets. Das Spektrum der Maßnahmen reicht von der systematischen Veranlassung zur Flucht (mittels sozialer Marginalisierung, Drohung, Demütigung etc.), der Zerstörung der wirtschaftlichen und kulturellen Grundlagen der betroffenen Bevölkerung über den Bevölkerungsaustausch (Transfer) und die Zwangsvertreibung (Deportation) bis zu Massenvergewaltigung (als strategisches Instrument), Elitozid und Völkermord. Die Ermordung von etwa 8000 Muslimen (Bosniaken) nach der serbischen Eroberung der ostbosnischen UN-Schutzzone Srebrenica im Juli 1995 steht stellvertretend für die vielen Völkermorddelikte und Kriegsverbrechen in den postjugoslawischen Kriegen.
Ethnische Säuberungen sind keine serbische oder balkanische Besonderheit. Sie sind überall möglich, wo entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden. Dazu gehören die Verabsolutierung der Ethnonation, die postulierte Deckungsgleichheit von Nation und Territorium, die Definition von Feinden ("Sündenböcken") und deren Entmenschlichung, die Konstruktion von Bedrohungsszenarien und Ängsten sowie die Inszenierung von gewaltsamen Zwischenfällen. Massengewalt bricht nicht aus; sie "ereignet" sich nicht, sondern wird generiert. Auch in Jugoslawien handelte es sich nicht um spontane Reaktionen der Bevölkerung oder sozialer Randgruppen, sondern um organisierte und kalkulierte Gewalt, ähnlich dem Terrorismus.