Einleitung
Mit der Erweiterung um Rumänien und Bulgarien umfasst die Europäische Union (EU) mittlerweile 27 Mitglieder, rund eine halbe Milliarde Menschen und ein Gebiet, das sich vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer erstreckt. Während die EU zunächst in mehr als fünf Jahrzehnten um weniger als zehn Mitglieder erweitert wurde, erhielt sie anschließend in weniger als eineinhalb Jahrzehnten sogar mehr als zehn neue Mitglieder. Ähnlich haben sich die Kompetenzen der EU entwickelt. Während die Aktivitätsbereiche der EU nach den Römischen Verträgen rund drei Jahrzehntelang relativ überschaubar und unverändert blieben, wurden sie anschließend in der Hälfte der Zeit durch vier Vertragsrevisionen beträchtlich ausgedehnt und vertieft. Vor diesem Hintergrund wird eine Frage immer unklarer und gleichzeitig immer wichtiger: die Frage, was die EU ist.
Staat, Superstaat, Bundesstaat, Staatenbund, Staatenverbund - die Liste der Etiketten, mit denen man die EU versehen hat, ist lang. Kurz ist hingegen die Auswahl an Bezeichnungen, die ihr halbwegs gerecht werden. Leichter als die Antwort auf die Frage, was die EU ist, fällt jedenfalls die Antwort auf die Frage, was sie nicht ist: Sie ist kein Staat und somit auch kein Superstaat oder Bundesstaat. Das letztlich undefinierbare sowie unvergleichbare Gebilde supra- und internationaler Kooperation bewegt sich im Endeffekt in einem Graubereich zwischen zwei Polen: einem Staatenbund und einem Staatenverbund. Schließlich ist die EU einerseits "ein freiwilliger Zusammenschluss souveräner Staaten", die aber andererseits ihre Souveränität bzw. ihre Hoheitsrechte zum Teil auf die EU übertragen haben. Dabei wird deutlich, dass politische Herrschaft nicht mehr ein Monopol eines Staates und Staatsgewalt nicht mehr ein Monopol einer nationalen Regierung ist. Die EU übt Staatsgewalt aus, ohne selbst ein Staat zu sein. Aus diesem Grunde stellen sich folgende Fragen: erstens, wie diese Staatsgewalt durch die EU ausgeübt wird, und zweitens, wie die Ausübung dieser Staatsgewalt legitimiert ist. Es stellt sich also die Frage nach der Effektivität und Legitimität der EU.
Die Legitimität der EU
Seit geraumer Zeit wird der EU - von höchst unterschiedlichen Beobachtern aus höchst unterschiedlichen Perspektiven mit zum Teil höchst unterschiedlichen Folgerungen - ein Legitimitätsproblem in Form eines Demokratiedefizits attestiert. Demnach habe die Entstaatlichung von Politik zu einer "Entdemokratisierung" von Herrschaft bzw. der Gewinn an supranationaler Kompetenz zu einem Verlust an demokratischer Legitimation geführt. Dieser demokratische Legitimationsverlust wird meist darin gesehen, dass der nationale Parlamentarismus "spiegelverkehrt" auf die europäische Ebene übertragen wurde und infolgedessen nicht die "Bürgerkammer" (das Europäische Parlament), sondern die "Länderkammer" (der Rat) die "erste" bzw. wichtigste und mächtigste "Parlamentskammer" bildet.
Dass sich die Legitimität der EU jedoch auch bzw. sogar ausschließlich aus dem Rat ableiten lässt, zeigt die "Lehre von der mittelbaren demokratischen Legitimation." Danach erhält die EU ihre Legitimität (primär) nicht aus den Wahlen zum Europäischen Parlament, sondern aus den Wahlen zu den nationalen Parlamenten, aus denen sich die nationalen Regierungen zusammensetzen, aus denen sich wiederum die Vertreter für den Rat rekrutieren.
Die gegenwärtige politische Architektur der EU, nach der Vertreter der nationalen Exekutive den wichtigsten Teil der supranationalen Legislative bilden, reicht bis in die Anfangsjahre der EU und damit bis zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zurück. Seither haben sich im Wesentlichen nur zwei Dinge geändert: die Kompetenzen des Europäischen Parlaments und die Mehrheitsentscheide des Rats. Beide wurden im Laufe der Zeit sukzessive ausgedehnt.
Die Frage, wie bzw. nach welcher Entscheidungsregel der Rat Beschlüsse fasst, markiert einen neuralgischen Punkt in der "politischen Architektur", eine zentrale Diskrepanz im Integrationsprozess und die erste große Krise in der Integrationsgeschichte der EU. Ursache dieser Krise war (primär) die Regelung im EWG-Vertrag, bei Abstimmungen im Rat ab dem 1. Januar 1966 in ausgewählten Bereichen von Einstimmigkeits- zu (qualifizierten) Mehrheitsentscheiden überzugehen. Nachdem Frankreich gegen diese Regelung opponierte und es im Juni/Juli 1965 nicht gelang, eine Lösung für die umstrittene Agrarfinanzierung zu finden, zog die französische Regierung für etwas mehr als ein halbes Jahr ihre Vertreter aus den Gemeinschaftsorganen zurück. Mit dieser "Politik des leeren Stuhls" verhinderte Frankreich die Entscheidungsfähigkeit des Rats und damit die Steuerungsfähigkeit der gesamten EU. Beigelegt wurde die Krise im Januar 1966 durch den "Luxemburger Kompromiss", wonach sich die Mitgliedsländer informell dazu verpflichteten, bei der Existenz "sehr bedeutsamer Interessen" eines Landes oder mehrerer Länder trotz der Möglichkeit des Mehrheitsentscheids die Entscheidungsfindung bis zur Erzielung eines einstimmigen Einvernehmens fortzusetzen.
In der Folge wurden die meisten Beschlüsse weiterhin einstimmig gefasst - bis zum Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) 1987, in der - v. a., um dieVollendung des Binnenmarkts möglichst rasch voranzutreiben - in verschiedenen Bereichen (qualifizierte) Mehrheitsentscheide eingeführt und anschließend auch praktiziert wurden. Die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza haben schließlich in weiteren Bereichen (qualifizierte) Mehrheitsentscheide möglich gemacht. In der Europäischen Verfassung ist sowohl eine Ausdehnung als auch eine Erleichterung von (qualifizierten) Mehrheitsentscheiden verankert worden.
Legitimität und Effektivität im EU-Entscheidungsprozess
Bei (den Versuchen) der Ausweitung und Erleichterung von (qualifizierten) Mehrheitsentscheiden im Rat werden zwei Dinge offensichtlich: die Diskrepanz zwischen nationalen und supranationalen Interessen und damit dieDiskrepanz zwischen Legitimität und Effektivität. Vor dem Hintergrund der Legitimität erscheint die Abkehr von Einstimmigkeitsentscheiden im Rat durchaus problematisch. Schließlich eröffnen Mehrheitsentscheide den Weg zur Fremdbestimmung der "Minderheitsländer" durch die "Mehrheitsländer" (und die Kommission). Aufgrund dieser Problematik konnten Mehrheitsentscheide bisher nur graduell und partiell eingeführt sowie nur restriktiv und besonnen praktiziert werden. Vor dem Hintergrund der Effektivität erscheint die Abkehr von Einstimmigkeitsentscheiden im Rat indessen geboten. Schließlich ermöglichen Mehrheitsentscheide, dass Entscheidungen schnell herbeigeführt bzw. Politikblockaden oder Minimalkompromisse verhindert werden können.
Das Problem der Diskrepanz zwischen Legitimität und Effektivität wird durch die Erweiterung auf 25 bzw. 27 Länder forciert: Mit zunehmender Anzahl an Mitgliedsländern steigt - vor dem Hintergrund der Effektivität - die Notwendigkeit von Mehrheitsentscheiden und - vor dem Hintergrund der Legitimität - die Notwendigkeit von Einstimmigkeitsentscheiden.
Die Notwendigkeit von Mehrheitsentscheiden ergibt sich aus der zunehmenden Größe des Rats. Je größer ein Gremium ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es einstimmige Beschlüsse fällt und bei dem Erfordernis der Einstimmigkeit nennenswerte Ergebnisse erzielt. So ist bei 27Mitgliedsländern und der Notwendigkeit von Einstimmigkeitsentscheiden ein einziges Land in der Lage, ein Vorhaben der 26 anderen Länder zu Fall zu bringen. Aus diesem Grunde wurden im Rahmen der zurückliegenden Regierungskonferenzen bzw. zuletzt mit der Europäischen Verfassung - neben einer Reform der Institutionen - v. a. eine Reform der Entscheidungsverfahren angestrebt, d.h. eine Ausdehnung sowie eine Erleichterung der (qualifizierten) Mehrheitsentscheide.
Die Notwendigkeit von Einstimmigkeitsentscheiden ergibt sich indessen aus der zunehmenden Heterogenität des Rats. Je heterogener ein Gremium ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es fundamentale Gegensätze aufweist, die aus vitalen Interessen einzelner Vertreter resultieren und zu einer fehlenden Akzeptanz von Mehrheitsentscheiden führen. So ist die EU mit jeder Erweiterung - insbesondere natürlich mit der Osterweiterung 2004 sowie zuletzt mit der Erweiterung um Rumänien und Bulgarien - nicht nur größer, sondern eben auch heterogener und damit fragiler sowie "konsensbedürftiger" bzw. "mehrheitsunfähiger" geworden. Aus diesem Grunde war die Reform der Entscheidungsverfahren - neben der Reform der Institutionen - bei den zurückliegenden Vertragsrevisionen sowie zuletzt bei der Aushandlung der Europäischen Verfassung ein äußerst kritischer Punkt, bei dem einzelne Mitgliedsländer zum Teil vehement gegen eine (drohende) "Fremdbestimmung" und somit für ihre Vetorechte bzw. ihr Gewicht bei qualifizierten Mehrheitsentscheiden kämpften.
Das Problem, dass der - mit Blick auf die Osterweiterung notwendige - Gewinn an supranationaler Handlungsfähigkeit nur durch den - mit Blick auf die Osterweiterung problematischen - Verlust an nationaler Einflussmöglichkeit zu erreichen ist, zieht sich wie ein roter Faden durch die zurückliegenden Reformbestrebungen der EU - und führte letztlich dazu, dass die Regierungskonferenzen von Amsterdam und Nizza nur einen "Konsens auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner" sowie unzählige "left-overs" produzierten. Seit der Regierungskonferenz von Amsterdam ist die Geschichte der europäischen Integration großteils eine Geschichte der Problemverschiebung. So wie "Amsterdam" zu "Nizza" geführt hat, führte "Nizza" zum "Post-Nizza-Prozess", der "Post-Nizza-Prozess" zum "Verfassungsprozess" und der "Verfassungsprozess" zu einem Konsens, der zwar letztlich allen nationalen Regierenden, jedoch - wie das "Non" der Franzosen und das "Nee" der Niederländer belegen - bei Weitem nicht allen nationalen Regierten tragbar erschien. Dabei wird deutlich, dass man die EU erweitert hat, ohne vorher die Grundlagen für eine Erweiterung geschaffen und ein zentrales Problem der EU gelöst zu haben.
Die "volle Parlamentarisierung" der EU
Seit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments 1979 wird mit zunehmender Intensität eine "volle Parlamentarisierung" der EU - d.h. eine "Demokratisierung" der EU nach nationalem Vorbild - gefordert und schrittweise vorangetrieben. So lässt sich die seit der EEA bei jeder Vertragsrevision festzustellende Ausdehnung der (qualifizierten) Mehrheitsentscheide im Rat sowie der Mitspracherechte des Europäischen Parlaments als "zunehmende Parlamentarisierung" begreifen.
Fraglich ist jedoch, ob dadurch tatsächlich das aus der Diskrepanz zwischen Legitimität und Effektivität resultierende Problem gelöst werden kann. Nach weit verbreiteter Meinung führen die Schwächung der Vetomacht nationaler Regierungen im Rat zu mehr Effektivität und die Stärkung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments zu mehr Legitimität. Schließlich wird das viel zitierte Demokratiedefizit gerade darin gesehen, dass das Europäische Parlament, das sich als einziges EU-Organ auf eine direkte demokratische Legitimation stützt, über weniger Kompetenzen verfügt als der Rat, der sich "nur" aufeine (mehrfach) abgeleitete demokratische Legitimation stützt. Es ist jedoch ein großer Fehler, das Kompetenzdefizit des Europäischen Parlaments mit dem Demokratiedefizit der EU und in der Folge eine zunehmende Parlamentarisierung mit einer zunehmenden Demokratisierung der EU gleichzusetzen bzw. zu verwechseln. Im Endeffekt würde eine "volle Parlamentarisierung" das Demokratiedefizit der EU nämlich nicht vermindern, sondern verstärken. Dies hat zwei Gründe: das Fehlen des Gegenstands sowie das Fehlen der Grundvoraussetzung demokratischer Herrschaft.
Der EU fehlt grundsätzlich der Gegenstand demokratischer Herrschaft: ein europäischer demos bzw. eine stark ausgebildete "kollektive Identität", ein "Wir-Gefühl". Eine "Demokratie ohne demos" ist natürlich ein Widerspruch in sich - sowohl auf nationaler als auch auf supranationaler Ebene. An dieser Stelle wird allerdings nicht argumentiert, dass die Demokratie den Nationalstaat bzw. die Volkssouveränität die Staatssouveränität voraussetzt - und damit die Grenzen des Nationalstaats die Grenzen der Volkssouveränität darstellen. Die Existenz eines demos hängt letztlich nicht von der "volkhaften Einheit", sondern von einer "gesellschaftlichen Verbundenheit" ab - wenngleich die Entstehung einer gesellschaftlichen Verbundenheit auf supranationaler Ebene durch die Existenz der volkhaften Einheit auf nationaler Ebene maßgeblich behindert werden kann. Dennoch lautet die entscheidende Frage nicht, ob, sondern wann bzw. unter welcher Voraussetzung ein supranationaler demos existieren kann. Diese Voraussetzung besteht im Wesentlichen in der Integration der nationalen demoi zu einem supranationalen demos, der sich durch eine starke kollektive Identität bzw. gesellschaftliche Homogenität auszeichnet. Ohne starke kollektive Identität bzw. gesellschaftliche Homogenität, d.h. ohne weitgehende gesellschaftspolitische Integration bzw. kollektive Identifikation, sind die parlamentarische Demokratie und - damit verbunden - die parlamentarische Mehrheitsbildung bzw. generell die Anwendung des Mehrheitsprinzips (ähnlich wie die Anwendung des Solidaritätsprinzips) nur äußerst begrenzt möglich. Somit setzt ein (supranationaler) demos die Existenz einer (supranationalen) Gesellschaft voraus, die "ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit ausgebildet hat, welches Mehrheitsentscheidungen und (auch) Solidarleistungen zu tragen vermag". Ein europäischer demos bedarf also einer (politisch integrierten) europäischen Gesellschaft. Es gibt aber keine (politisch integrierte) europäische Gesellschaft - bestenfalls einen "europäischen Typ` von Gesellschaft".
Mit anderen Worten: Europa hat keine "ökonomisch, politisch oder sprachlich-kulturell integrierte Gesellschaft, sondern zerfällt in ein Spiel` zwischen nationalstaatlichen Gesellschaften, in denen die Geschichte präsent und das argwöhnische Bewusststein für Innen und Außen, für Interdependenzen, Rivalitäten, externe Effekte und Abhängigkeitsverhältnisse geschärft ist". In gewisser Weise sind Europas Staaten bzw. Völker auch "zu alt`, mit zuviel Geschichte befrachtet und zu stolz auf ihre je spezifischen Errungenschaften", um eine politisch integrierte europäische Gesellschaft konstituieren zu können. Die Entwicklung einer politisch integrierten europäischen Gesellschaft wird zwar durch die Existenz historisch gewachsener ethnischer, kultureller und sprachlicher Unterschiede nicht grundsätzlich ver-, jedoch deutlich behindert - und zudem durch das Fehlen einer "demokratischen Infrastruktur" erheblich erschwert.
Der EU fehlt schließlich auch die Grundvoraussetzung demokratischer Herrschaft: eine europäische Öffentlichkeit bzw. eine "übernationale Diskursfähigkeit". Eine Demokratie ohne Öffentlichkeit und Diskursfähigkeit ist letztlich genauso wenig möglich wie eine "Demokratie ohne demos": "Über den demokratischen Gehalt eines politischen Systems sagt die Existenz gewählter Parlamente (...) weniger als die Pluralität, innere Repräsentativität, Freiheitlichkeit und Kompromissfähigkeit des intermediären Bereichs der Parteien, Verbände, Assoziationen, Bürgerbewegungen und Kommunikationsmedien." Demokratie ist folglich mehr als Parlamentarismus und durch Parlamentarismus nur dann realisierbar, wenn spezifische parlamentarisch-demokratische Voraussetzungen gegeben sind. Diese sind weitestgehend an die Existenz einer gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit bzw. Diskursfähigkeit geknüpft.
Schließlich erfordert die parlamentarische Entscheidung eine integrierte "vorparlamentarische" Meinungs- und Willensbildungsowie eine breite "außerparlamentarische" Diskussion politischer Entscheidungen bzw. eine "gesamtgesellschaftliche Interessenvermittlung und Konfliktsteuerung" sowie eine "Rückkoppelung der Repräsentanten an die Repräsentierten". Somit erfordert die Realisierung einer (suprantionalen) parlamentarischen Demokratie (supranationale) intermediäre Strukturen, die eine gesamtgesellschaftliche Öffentlichkeit konstituieren und einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs realisieren. Eine europäische parlamentarische Demokratie bedarf also einer funktionierenden europäischen Öffentlichkeit. Es gibt aber keine funktionierende europäische Öffentlichkeit - bestenfalls eine (schwache) Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten. Mit anderen Worten: Europäische Themen werden nicht von (supranationalen) europäischen Medien in "europäischer Sprache" aus einem europäischen Blickwinkel, sondern von nationalen Medien in nationaler Sprache aus einem überwiegend nationalen Blickwinkel diskutiert.
Eine Kommunikationsgemeinschaft setzt zwar nicht voraus, dass die Kommunikationsteilnehmer die gleichen Medien nutzen. Sie setzt aber voraus, dass die Kommunikationsteilnehmer die gleichen Medien nutzen können. Eine europäische Kommunikationsgemeinschaft kann jedenfalls nicht entstehen, wenn nahezu ausschließlich nationale Medien existieren, die ausschließlich von einem nationalen Publikum mit ausschließlich nationalen Kommunikationsgewohnheiten genutzt werden. Integraler Bestandteil dieser Kommunikationsgewohnheiten und entscheidendes Hindernis für das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit ist die Sprache: Eine europäische Öffentlichkeit bzw. ein europäischer Diskurs bedarf eines europäischen Medienangebots, ein europäisches Medienangebot eines europäischen Publikums und ein europäisches Publikum einer europäischen Sprache (und damit der Diskursfähigkeit). Das Fehlen einer europäischen Sprache ist somit der wesentliche Grund für das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit: "Europa ist keine Kommunikationsgemeinschaft, weil Europa ein vielsprachiger Kontinent ist - das banalste Faktum ist zugleich das elementarste." In der Folge ist das Fehlen einer europäischen Sprache "das größte Hemmnis für eine Europäisierung der politischen Substruktur, von der das Funktionieren eines demokratischen Systems und das Leistungsvermögen eines Parlaments abhängt". Wichtig ist hierbei, dass Sprache nicht auf ein Instrument zur Kommunikation reduziert werden darf. Sprache ist weit mehr als ein bloßes Mittel zur Kommunikation: Sie ist integraler Bestandteil der politischen Kultur bzw. der politischen Identität. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die englische Sprache in zweifacher Hinsicht keine europäische lingua franca bilden kann: erstens, weil sie keine - politisch substanzielle - Kommunikation der Massen ermöglicht; zweitens, weil sie keine Kommunikation in der Muttersprache ermöglicht. Die Sprachenvielfalt verhindert somit langfristig sowohl aus quantitativen als auch aus qualitativen Gründen das Entstehen einer europäischen Kommunikationsgemeinschaft - sowie (in der Folge) das Entstehen europäischer Medien, Parteien und Verbände.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Fehlen eines europäischen demos sowie das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit strukturelle Hindernisse für eine "volle Parlamentarisierung" der EU darstellen, die institutionell nicht überwunden werden können. Aus diesem Grunde würde eine "volle Parlamentarisierung" der EU nicht zu mehr, sondern zu weniger Demokratie führen: Sie würde nicht zu einer besseren Selbstbestimmung eines europäischen Volkes, sondern nur zu einer größeren Fremdbestimmung der nationalen Völker in der EU führen.
Neben dem Fehlen eines europäischen demos sowie einer europäischen Öffentlichkeit existiert gegenwärtig noch ein weiteres Hindernis für eine "volle Parlamentarisierung" der EU: das Parlament selbst, das nicht das ist, wofür es häufig gehalten wird - ein "echtes Parlament", d.h. eine Volksvertretung nach nationalem Vorbild. Schließlich existieren zwischen dem Europäischen Parlament und nationalen Parlamenten keineswegs nur machtpolitische, sondern auch strukturelle Unterschiede.
Der sicherlich wichtigste strukturelle Unterschied besteht darin, dass das Europäische Parlament kein Parlament eines europäischen Volks, sondern ein Parlament der europäischen Völker bildet: Es wird von nationalen Völkern nach nationalen Wahlgesetzen in nationalen Wahlen gewählt, bei denen nationale Parteien in nationalen Wahlkämpfen um nationale "Kontingente" konkurrieren. Letztere machen deutlich, dass das Europäische Parlament schon aufgrund seiner Zusammensetzung keine Vertretung eines europäischen Volks sein kann: Die - nach dem Prinzip der fallenden Proportionalität - relative Unterrepräsentation großer Staaten (z.B. Deutschlands) sowie die relative Überrepräsentation kleiner Staaten (z.B. Luxemburgs) führt zu einer drastischen Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit auf europäischer Ebene, welche auf nationaler Ebene bzw. "nach deutschem Recht zur Verfassungswidrigkeit des Gemeinschaftswahlrechts führen würde". Natürlich ließe sich das Fehlen eines "echten Parlaments" als Hindernis für eine "volle Parlamentarisierung" der EU institutionell beheben - nicht jedoch das Fehlen eines europäischen demos sowie das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit. Folglich wäre es ein großer Fehler, die europäische Repräsentativdemokratie nach dem Vorbild der nationalstaatlichen Repräsentativdemokratie zu formen.
Fazit
Die parlamentarische Demokratie ist sicherlich die bestmögliche Form demokratischer Herrschaft auf nationaler Ebene, jedoch nicht auf europäischer Ebene. Die Errichtung demokratischer Strukturen auf europäischer Ebene ist keine Frage der "pauschalen Übertragung nationalstaatlicher Mechanismen auf nicht-nationale Einrichtungen", sondern eine Frage der adäquaten Anpassung demokratischer Postulate an supranationale Rahmenbedingungen.
Die bestmögliche - nicht zwingend befriedigende - Antwort auf diese Frage liefert die "Mittelbarkeitslehre". Diese impliziert aber das zentrale Problem der Diskrepanz zwischen Legitimität und Effektivität, das neben dem "Verfassungsproblem" (oder als Teil des "Verfassungsproblems") zur Zerreißprobe für die EU im 21. Jahrhundert werden könnte.