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Das türkische Militär und der EU-Beitritt der Türkei

Esra Sezer

/ 15 Minuten zu lesen

Die politische Rolle der Militärs in der Türkei ist nach wie vor ungebrochen. Ihre Haltung zum EU-Beitritt wird von Seiten der Militärführung nicht öffentlich dementiert.

Einleitung

Mit den sinkenden Zustimmungswerten für einen Beitritt der Türkei in die Europäische Union und den lediglich zwei statt drei eröffneten Verhandlungskapiteln im Juni dieses Jahres gerieten die Beitrittsverhandlungen ins Stocken. Die Wahlergebnisse vom 22. Juni waren ein glatter Erfolg für die islamisch orientierte Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung ("Adalet ve Kalkinma Partisi", AKP) Recep Tayyip Erdogans und damit die Beitrittsbestrebungen seiner Partei in die Europäische Union. Mit dem Sieg der AKP sind die internationalen Erwartungen, dass die nötigen Reformen für den EU-Beitritt der Türkei konsequent weitergeführt werden, noch gestiegen.


Mit fast 47 Prozent der Stimmen stellt die AKP die alleinige Regierung, was diese Erwartungshaltung zusätzlich steigert - ein Novum in der Geschichte der Türkei, das bisher nur der Demokratischen Partei von Adnan Menderes (1899 - gestürzt beim Putsch von 1961) im Jahre 1954 gelungen war. Damals wie heute provoziert der Sieg den Ärger des kemalistischen Establishments im Staatsapparat, das sich am 27. April durch einen Warnbrief an die Regierung zurückmeldete.

Wer den Sieg der AKP nun als einen neuen Auftakt für die nötigen Reformen ohne politischen Widerstand begreift, unterschätzt die verwurzelte Stellung des kemalistischen Establishments im Staatsapparat, das seine Kraft aus der bürokratischen Elite, den Geheimdiensten, vor allem aber aus dem Militär zieht. Es gilt als ein Gegengewicht zum gewählten Parlament, und seine Rolle in der politischen Kultur ist noch immer als sehr bedeutend einzuschätzen.

Die Akzeptanz

Der Einfluss des türkischen Militärs auf die Politik hat seine Wurzeln im Osmanischen Reich (1299 bis 1922). Während damals die Armee die Kraft war, welche die ersten Reformen durchsetzte, genoss sie nach dem Zerfall des Reiches und der Errichtung der Türkischen Republik unter der Führung von Mustafa Kemal Atatürk (1881 bis 1938 "Vater der Türken") das Ansehen als Republikgründerin. Die Überzeugung der Offiziere, sie seien die eigentlichen Hüter der Republik, die entscheidenden Verantwortungsträger und die Erbwächter des Kemalismus, wird bis heute in den Militärakademien gelehrt und durch ihre Mitglieder vertreten.

Dabei behielt der Staat mit den von Atatürk durchgesetzten Reformen (1923 bis 1934) seine Rolle als Urheber der Modernisierung "von oben", was zur politischen Tradition der Osmanen gehört. Die Modernisierungsschübe rührten also nicht von sozioökonomischen Entwicklungen her, sondern wurden vielmehr von der militärischen Elite befördert. Das türkische Militär, die einzige Kraft, welche die fehlende Bourgeoisie ersetzen konnte, entwickelte sich zunehmend zu einer Art eigener sozialer "Klasse", die ein ambivalentes Verhältnis zur Frage der politischen Intervention entwickelte.

Neben ihrer ruhmreichen Rolle in der Vergangenheit halten die türkischen Streitkräfte ihre privilegierte Stellung im Bewusstsein der Bevölkerung weiterhin aufrecht. Die allgemeine Wehrpflicht gilt als der integrierende Aspekt zwischen der Armee und der türkischen Gesellschaft. Dabei wird nach weit verbreiteter Meinung bei der Einberufung der wehrpflichtigen jungen Männer, unabhängig vom sozialen und ökonomischen Status, für alle dasselbe Verfahren angewendet. Für die Bevölkerung ist die Tatsache, dass das Militär eine der wenigen Institutionen ist, in welcher Korruption und Bestechung kaum eine Rolle spielen und keiner sich "freikaufen" kann, von immenser Bedeutung. Infolgedessen wird die Armee als "Herd der Nation" ("Yurdun Ocagi") begriffen, der alle sozialen Unterschiede auflöst und durch den der türkische Nationalismus verwirklicht werden kann.

Zu dieser Solidarität gehört auch, dass in unterentwickelten Regionen jungen Männern das Lesen und Schreiben beigebracht, berufliche Ausbildungsmöglichkeiten und technische Schulungen angeboten werden. Somit lernen die Männer in den Provinzen die "modernen Errungenschaften" nicht erst über die zivilen Einrichtungen, sondern über die Armee kennen, was zu ihrem positiven Image in der Bevölkerung beiträgt. Auch die "nationale Sicherheit", bei der nicht nach innerer und äußerer Abwehr unterschieden wird, fällt in den Zuständigkeitsbereich der türkischen Armeeführung. Denn die "nationale Sicherheit" ist nach Artikel 118 der Türkischen Verfassung und nach dem Artikel 2945 des Sekretariats des Nationalen Sicherheitsrates dem Nationalen Sicherheitsrat ("Milli Güvenlik Kurulu") zugeordnet. Dementsprechend sind auch die Sicherheitsregelungen in den Provinzen, die überwiegend durch die Gendarmerie ("Jandarma") verwirklicht werden, die dem Generalstab untersteht und die der zivilen Kontrolle weitestgehend entzogen ist.

Die Akzeptanz der türkischen Streitkräfte im öffentlichen Bewusstsein in der Türkei ist historisch und soziologisch-kulturell fest verankert, weshalb sie einen unantastbaren Ruf genießen und aus der sie ihre "Legitimation" nähren. Dieses Ansehen bestätigt sich auch in den jährlichen Umfragewerten verschiedener Forschungsinstitute, bei denen die Armee als die vertrauenswürdigste Institution gilt - vor allen anderen Institutionen, Parteien und der gewählten Regierung. Die Konsequenz ist, dass die türkischen Streitkräfte sich als den eigentlichen "Staat" in der Türkei sehen. In ihrem Verständnis habe dabei die Politik im Dienste "ihres" Staates zu stehen und nicht umgekehrt. Denn Politiker verträten nicht die Staatsinteressen, seien bestechlich und nur auf Zeit berufen, während die türkischen Streitkräfte auf eine ruhmreiche Vergangenheit zurückblicken könnten und ihre Position im System auch für die Zukunft gesichert sei. Diese Erfahrung lehrten ihnen vor allem die militärischen Interventionen der Vergangenheit, welche sie als "Retter des Systems" immer wieder bestätigte und aus der sie gestärkt hervorgingen.

Die Entwicklungen

Für das Eingreifen der Militärführung in die Politik des Landes gibt es genügend Beispiele. Neben den Interventionen in den Jahren 1960, 1971, 1980 sowie dem "weichen Putsch" vom April 1997 hat der Generalstabschef jüngst am 27. April zur Präsidentschaftswahl Abdullah Güls seine "Bedenken" geäußert, was in der Presse als der "fünfte Coup" bezeichnet wurde. Bisher wurde von nicht wenigen Analysten die Einschätzung vertreten, dass jeder Eingriff der türkischen Streitkräfte ein behutsamer "funktionaler Putsch" im letzten Augenblick gewesen sei, ohne unnötige Gewalt und zum Wohle der Gemeinschaft und der Demokratie im Lande. Ob diese Einschätzung für die Ereignisse dieses Jahres ebenfalls zutrifft, ist zu bezweifeln. Fest steht aber, dass die Besonderheit der türkischen Streitkräfte darin liegt, dass sie das demokratische System im Sinne des Kemalismus akzeptieren und zu keinem Zeitpunkt die Errichtung eines Militärregimes angestrebt haben. Denn für die türkische Militärführung ist der effektive Einfluss und die Kontrolle der Politik wichtiger als die anhaltende Übernahme der Regierungsfunktionen.

Die mit dem "fünften Coup" laut gewordenen Putsch-Szenarien in den nationalen und internationalen Medien blieben zur Enttäuschung einiger "Hardcore-Kemalisten" aus. Und obwohl der Sieg der AKP als Referendum gegen die "Interventionsgelüste" der türkischen Militärs verstanden wurde, ist es wichtig zu verstehen, dass sich auch die türkischen Streitkräfte entwickelt haben. Mit dem Putsch vom 12. September 1980 ist die Ära der militärischen bzw. der offenen Intervention zu Ende gegangen. Dies zeigten auch die politischen Ereignisse vom 28. Februar 1997, die als "weicher Putsch" in die Geschichte eingingen und bei dem der islamisch orientierte Ministerpräsident Necmettin Erbakan "aufgefordert" wurde, als Ministerpräsident zurückzutreten.

Die türkischen Streitkräfte sind nunmehr in der Lage, mit bloßen Veröffentlichungen Regierungen unter Druck zu setzen oder sie gar zu stürzen. Ihre Rolle im System ist so stabil, dass sie es kaum nötig haben, militärisch einzugreifen. Denn die moderne Kommunikationstechnik hat es mit sich gebracht, dass engere Verbindungen zu bestimmten Einrichtungen und Kreisen sofort gewährleistet und Gruppen mobilisiert werden können. Die Großdemonstrationen in Ankara, Istanbul und Izmir gegen die Präsidentschaftswahl Abdullah Güls im April und Juni dieses Jahres sind die besten Beispiele hierfür gewesen. Die Generäle werden deshalb auch zu Recht als Chefs eines großen Orchesters beschrieben, die zu gegebenem Anlass nur noch die Aufgabe des "Dirigierens" übernehmen. Im internationalen Kontext ist nach dem 11.September 2001 und angesichts der sich verändernden politischen Machtstrukturen auch eine veränderte Haltung des Westens gegenüber den türkischen Streitkräften zu verzeichnen. Die katastrophale Lage im Irak, der Konflikt um die potenzielle Nuklearmacht im benachbarten Iran und die Verbreitung des politischen Islam im internationalen Kontext lassen die Westeuropäer ihre Kritik an der Rolle des türkischen Militärs noch einmal überdenken. Auch die Reaktionen auf die Äußerungen des Generalstabchefs Yasar Büyükanits gegen die Präsidentschaft Abdullah Güls vom 27. April gehen in diese Richtung. Denn abgesehen von der Reaktion der Europäischen Kommission blieb große Kritik aus dem Ausland überraschenderweise aus.

Die "islamische Unterwanderung"

Durch die Akzeptanz in der politischen Kultur der Türkei bilden die türkischen Streitkräfte für die türkische Regierung eine große Hemmschwelle bei den EU-Beitrittsverhandlungen. Dabei hat es die AKP besonders schwer, da die säkularen Militärs von Amtsbeginn gegen die Regierungsmitglieder waren, die als Gefolgsleute des im Februar 1997 gestürzten radikal-islamischen Politikers Necmettin Erbakan der Wohlfahrtspartei ("Refah Partisi") gelten. Diese ablehnende Haltung gegen den Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seinen damaligen Außenminister Abdullah Gül - beide sprachen sich 1994 in einem Interview für die Zeitung Milliyet für einen islamischen Staat ("Scharia") aus - machen die Verhandlung von Tabuthemen wie z.B. Meinungsfreiheit und Minderheitenrechte, die für einen EU-Beitritt nötig sind, besonders schwer. Der plötzliche Wandel der einstigen "Kämpfer" für die islamische Ordnung zu überzeugten Demokraten und Europäern schürt noch heute tiefe Bedenken in der laizistisch-kemalistisch orientierten Gesellschaft und der Militärführung.

Dabei geht es um weit mehr als nur um die Reformen für die Europäische Union. Während die einen in den bisherigen Reformbestrebungen den Beweis dafür sehen, dass sich die Mitglieder der AKP geändert haben und keine "geheime Agenda führen", befürchten die Skeptiker, dass der EU-Beitritt genutzt wird, um die säkularen Militärs zurückzudrängen und den Weg für die Islamisierung des Landes zu ebnen.

Die Bedenken der türkischen Streitkräfte sind hier von doppelter Natur; sie sehen mit einem EU-Beitritt nicht "nur" ihre eigene Machtposition, sondern durch die AKP auch die von ihnen bisher aufrechterhaltenen existenziellen Werte wie den Kemalismus und den Laizismus bedroht. Der negative Einfluss der türkischen Armee auf den EU-Beitrittsprozess der Türkei wird sich damit verstärken, da jetzt auch mit einer möglichen islamischen Unterwanderung gerechnet wird, gegen die die Armee seit der Republikgründung 1923 unter Atatürk als "Konterrevolution" angeht.

Die Wiederwahl der religiös-konservativen AKP stellt für sie ein "Wiedererwachen" der von ihnen verdrängten Parteien wie die Demokratische Partei (1946 bis 1960) von Adnan Menderes oder die Wohlfahrtspartei (1983 bis 1998) von Necmettin Erbakan dar, die politische "Krisen" verursachten und nach der militärischen Intervention verboten wurden. Die Ironie der Geschichte liegt dabei darin, dass die türkischen Militärs das Erstarken der islamischen Bewegungen in der Türkei selbst verursacht haben. Mit dem Putsch vom 12. September 1980 und der "Türkisch-Islamischen Synthese" wurde der Islam zu einem politischen Faktor aufgewertet und legalisiert, um das islamische Zusammengehörigkeitsgefühl wiederzubeleben.

Die gezielte Bekämpfung der linken Bewegungen von damals hat zur Folge, dass sich keine erwähnenswerte linke Opposition bilden konnte, die heute gegen die Regierung antreten und das von der Militärführung ausgefüllte politische "Vakuum" übernehmen könnte. Der erneute Antritt Abdullah Güls und seine Wahl zum Präsidenten - trotz der Demonstrationen gegen ihn und des Versprechens von Tayyip Erdogan, bei der erneuten Nominierung kompromissbereit zu sein - verstärken die Polarisierung in der Bevölkerung und das Gefühl eines Déjà-vu-Erlebnisses der politischen Krisen aus der Vergangenheit. In Diplomatenkreisen wird die nicht genutzte Chance, einen moderaten Präsidenten zu nominieren, mit Kopfschütteln betrachtet. In ihren Augen ist dies eine verpasste Gelegenheit, die Bedenken der Militärführung zu zerstreuen, das Land vor politischen Krisen zu bewahren und ihm letztlich den Weg in die Europäische Union zu ebnen.

Dagegen könnte die Präsidentschaft Abdullah Güls als eine Chance für die Versöhnung der kemalistischen Ablehnungshaltung gegenüber der islamischen Religion verstanden werden, was die Tabus in der Gesellschaft aufbrechen könnte. Dabei wird die politische Haltung der Regierung, vor allem die des neu gewählten Präsidenten, ausschlaggebend sein. Ein politischer Fehlgriff käme einem Schuss nach hinten gleich, womit alte Tabus bestätigt würden.

EU - die Vollendung des Projekts von Atatürk

Die "islamische Unterwanderung" - auch wenn sie ein Vorwand der Militärführung ist - wird nach neuesten Umfragen von ca. 30 Prozent der Bevölkerung ernst genommen. Diese Wahrnehmung könnte den negativen Einfluss der Armee auf einen möglichen EU-Beitritt der Türkei verstärken. Die führenden Militärs warnen schon seit langem davor, dass die von der Europäischen Union geforderten Reformen die nationale Einheit gefährden und damit die Stabilität des Landes aufs Spiel setzen würden. Aus ihrer Sicht ist der EU-Beitritt der Türkei zwar für die Eindämmung des politischen Islam und des kurdischen Separatismus wünschenswert, jedoch stoßen die Forderungen der Europäischen Union bezüglich der Eindämmung des Einflusses der Armee, der Zypernfrage und des Kurdenproblems beim Militär auf Ablehnung. Trotz der oppositionellen Haltung des Militärs gegenüber den Reformbestrebungen der AKP für einen EU-Beitritt ist die Ausrichtung der Türkei nach Westen doch ein Bestandteil der von ihnen vertretenen kemalistischen Staatsideologie.

Das Ziel der Kemalisten war schon zu Lebzeiten Atatürks, die türkische Gesellschaft an die moderne und westliche Zivilisation ("muasir medeniyet") heranzuführen. Dies versuchte er mit seinen Reformen ab 1924 zu realisieren. Dass die Regierungsmitglieder der AKP, die in der Weltsicht der Kemalisten eben nicht die westlichen Werte vertreten, mutiger als sie die Reformen für einen EU-Beitritt der Türkei angehen, stellt für die Militärs eine herbe politische Niederlage dar. Das wahre Problem liegt dabei für sie in der Zurückweisung der Vorstellung, dass ihr Verständnis vom Kemalismus und der laizistischen Republik nicht mehr mit der gesellschaftlich-sozialen Realität im Einklang stünde und einer Anpassung bedürfe.

Die Auffassung, der Kemalismus sei nicht reformierbar - entgegen dem eigenen Prinzip des Reformismus -, hat zur Folge, dass der Kemalismus zu einem Dogma erstarrt und folglich an gesellschaftlicher Akzeptanz verliert. Trotz all der Bedenken möchte die Militärführung nicht für ein Scheitern des EU-Beitritts verantwortlich sein, weshalb sie bis auf einige wenige Themen (Zypern und das Kurdenproblem) einem Beitritt nicht im Wege stehen wird. Letztlich sollte nicht vergessen werden, dass zu einem Teil auch die Anhänger des Kemalismus, zu denen auch die türkischen Streitkräfte gehören, trotz ihren Warnungen ebenfalls das Ziel eines EU-Beitritts der Türkei verfolgen. Allerdings nach ihren eigenen Vorstellungen und zu "ehrenhafteren" Bedingungen.

Das "Sèvres-Syndrom" als Hindernis

Eine offene Diskussion über Themen wie Kemalismus, Laizismus und Minderheiten, die nicht nur für EU-Reformen, sondern auch für die politische Entwicklung der Türkei dringend notwendig ist, ist noch immer mit sehr vielen Emotionen verbunden. Zu diesen tragen vor allem die historischen Erfahrungen des Untergangs des Osmanischen Reiches bei, das unter der Kontrolle der europäischen Mächte stand und durch den Diktatfrieden von Sèvres (1920) unter ihnen aufgeteilt werden sollte. Die Angst vor einer Teilung des Landes, die durch den Vertrag von Sèvres real erschien, sitzt seitdem tief im Unterbewusstsein vieler Türken. Das seither als "Sèvres-Syndrom" bekannte Phänomen nährt bis heute ein übersteigertes Nationalitätsverständnis und die Vorstellung von der Notwendigkeit eines starken Staates. Dieser starke Staat fordert, entgegen dem liberal-demokratischen Grundsatz, dass die Interessen des Staates denen des Individuums übergeordnet werden. Der Vorrang des einzelnen Bürgers vor dem Staat und der Gemeinschaft erfährt seine Grenzen an der herrschenden Doktrin von der Einheit des türkischen Staates. Unter diesen Voraussetzungen sind Diskussionen über Individualrechte, Minderheiten oder das Staatsprinzip des Kemalismus nicht einfach. Dies zeigten auch die aktuellen Diskussionen um den linksliberalen Verfassungsrechtler und Abgeordneten der AKP Zafer Üskül. Sein Vorstoß, das Bekenntnis zur kemalistischen Ideologie aus der neuen Verfassung zu streichen und eine ideologiefreie, auf den Gründungswerten der türkischen Republik fußende Verfassung zu entwerfen, erregte eine umfassende öffentliche Diskussion. Prompt wurde ihm seine Loyalität zum Staat - auch gerade wegen seiner Mitgliedschaft in der AKP - abgesprochen.

Diese Tabuisierung von Themen wie dem Kemalismus, den Minderheiten sowie der durch den Mythos von der "Unteilbarkeit des Staates" genährte Bedrohungswahn stellt heute ein Hindernis für die emotionale Integration der Türkei in die Europäische Union dar.

Änderung der Gesetzeslage ist keine Lösung

Die Notwendigkeit eines starken Staates in der Türkei wird vor allem durch das Militär propagiert. Mit regelmäßigen Äußerungen zu "inneren" und "äußeren" Feinden wird das Bild einer ständige Bedrohung suggeriert. So wurde rechtzeitig zur Wahl Abdullah Güls eine weitere unmissverständliche Mitteilung des Generalstabschefs zum Tag des Sieges am 30. August via Internet publiziert. Wenige Stunden vor seiner Wahl wurde vor politischen Angriffen auf den säkularen Staat gewarnt. Es wurde noch einmal die Entschlossenheit der Generäle betont, die Demokratie und die Trennung von Staat und Religion zu verteidigen. Dabei stützt sich die Militärführung auf die formale Grundlage des bekannten Artikel 34 des Inneren Dienstgesetzes aus dem Jahre 1935. Gemäß Art. 34 "ist es die Aufgabe der Streitkräfte, das türkische Vaterland zu beschützen und zu verteidigen". Dieser wird dahingehend interpretiert, dass die Armee die Aufgabe hat, die Republik nicht nur gegen äußere, sondern auch gegen "innere" Feinde zu verteidigen.

Für die Zurückdrängung des Militärs aus dem politischen Bereich wären zwar Gesetzesänderungen ein erster Schritt, als viel schwieriger wird sich aber die Durchsetzung auf der normativen Ebene erweisen. Der Einfluss der Armee basiert zwar formal gesehen auf dem Artikel 34, normativ gesehen und viel stärker fußt er aber auf seinem historisch gewachsenen Selbstverständnis, das durch das öffentliche Bewusstsein geteilt wird.

Deshalb müssen für einen EU-Beitritt nicht nur Reformen eingeführt und Gesetze korrigiert, sondern tiefsitzende Werte der türkischen Gesellschaft verändert werden. Diese reichen vom Bildungssystem - einschließlich der militärischen Kadettenschulen - bis zum Unterbinden der öffentlichen Äußerungen durch die Militärführung. Dazu müssten sowohl die Medien und Politiker als auch die politische Öffentlichkeit ihre Verhaltensweisen grundlegend ändern.

Nur wenn sie aufhören, den politischen Äußerungen, Briefings oder Pressemitteilungen öffentliches Gewicht beizumessen, werden die Militärs diese auch unterlassen. Um dies zu verwirklichen, bedarf es eben nicht nur politisch-administrativer Änderungen. Es ist deshalb so schwierig, weil es die historisch gewachsenen Grundfesten der Republik berührt.

Für die im Rahmen der Fortschrittsberichte erwähnten Probleme des Landes, zu denen auch der politische Einfluss des Militärs gehört, ist die Rolle der EU als Reformkatalysator weiterhin von zentraler Bedeutung. Dabei kommt den Nichtregierungsorganisationen eine besondere Bedeutung zu, da diese seit längerem ihren Beitrag zum Wertewandel der Gesellschaft leisten.

Sie bilden die Kräfte, die das politische Bewusstsein der Bürger anregen, um bei gegebener politischer Situation in Opposition gehen und den Staat vor seinen "inneren Feinden" schützen zu können. Ihre Stärkung und Etablierung könnte in Zukunft den nötigen Wertewandel in der türkischen Gesellschaft vorantreiben und dadurch anderen Einrichtungen wie dem Militär auf politischer Ebene die "Legitimation" entziehen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Tarhan Erdem, Yüzde 30 seriat tehlikesinden çekiniyor (30 Prozent zögern wegen der Bedrohung vor der islamischen Ordnung (Scharia)), in: Milliyet vom 26. August 2007, S. 14.

  2. Vgl. Günter Seufert/Christopher Kubaseck, Die Türkei, München 2004, S. 80f.

  3. Vgl. Fortschrittsbericht 2006 der Europäischen Kommission, S. 8ff.

  4. Vgl. Umfrage der Zeitung Cumhurriyet vom 6. April 2007, S. 4; hiernach erhielt sie als vertrauenswürdigste Institution 8,2 von 10 Punkten. Vgl. auch Umfragewerte der Wirtschaftskammer von Ankara von 2001, http://www.radikal.com.tr/haber.php?habe rno= 10975 (20. 8. 2007).

  5. Vgl. Heinz Kramer, Demokratieverständnis und Demokratisierungsprozess in der Türkei, in: http://www.swp-berlin.org/de/common/get_document.php? asset_id=1144&PHPS ESSID= 30afee949742 ceb3021b 9d4201e 656ff (12. 1. 2005).

  6. (...) Vgl. Boris Kalnoky, Das Ende des türkischen Traums, in: Welt Online, http://www.welt.de/politik/article841435/
    Das_Ende_des_tuerkischen_Traums. html (29. 4. 2007).

  7. Vgl. H. Kramer (Anm. 5).

  8. Niels Kadritzke, Alla turca, in: Le Monde diplomatique, http://www.monde-diplomatique.de/pm/home_ edi2.php (26. 8. 2007).

  9. Vgl. Ömer Erzeren, Ende einer Schmierenkomödie, in: taz, http://www.taz.de/index. php?id = start&art = 3737&id=kommentar-artikel&cHash=d6ef578308 (28. 8. 2007).

  10. Vgl. Militär gegen Regierung, in: Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 30. 4./1. 5. 2007, S. 1.

  11. Vgl. Mehmet Ali Birand, Artik karsimizda farkli bir TSK var (Wir stehen nun einem sich verändernden Militär gegenüber), in: Milliyet-online http://www.milliyet.com.tr2007/05/23/yazar/
    zbirand.html; (23. 5. 2007).

  12. Vgl. Günter Seufert, Die türkische Gesellschaft im Umbruch, in: Hans-Georg Wehling (Hrsg.), Türkei, Opladen 2002, S. 72 - 99.

  13. Vgl. Brigitte Moser/Michael Weithmann, Die Türkei-Nation zwischen Europa und dem Nahen Osten, Regensburg 2002.

  14. Vgl. Tarhan Erdem, Yüzde 30 seriat tehlikesinden çekiniyor (30 Prozent zögern wegen der Bedrohung vor der islamischen Ordnung), in: Milliyet vom 26. 8. 2007, S. 14.

  15. Vgl. Ersen Aydinli/Nihat A.Özcan/Dogan Akyaz, The Turkish Military's march Toward Europe, in: Foreign Affairs, 85 (January/February 2006) 1, S. 77 - 90.

  16. Vgl. Heinz Kramer, Türkei-Verhandlungen als Spielball der Interessen, in: http://www.swp- berlin. org / c o m mon / et_ ocument. php ? asset_ id = 2424 (13. 9. 2006).

  17. Vgl. ders., Die Türkei im Prozess der "Europäisierung" in: http://www.bpb.de/publikationen/358DIV
    ,0,ie_%FCrkei_im_Prozess_der_Europäisier ung.html, (26. 2. 2007).

  18. Vgl. Raoul Motika, Kulturelle Unvereinbarkeit oder "normaler" Anpassungsprozess? Zum türkischen EU-Beitritt, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 3 (2005) 2, S. 211 - 234, hier S. 226ff.

  19. Vgl. H. Kramer (Anm. 5).

  20. Vgl. R. Motika (Anm. 18), S. 211 - 234.

M. A., geb. 1980; Studium der Politikwissenschaft, Jura und Pädagogik in Bonn und Ankara; freie Journalistin, Am Alfterhof 9, 53125 Bonn.
E-Mail: E-Mail Link: Esrasezer.MA@gmail.com