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Grundeinkommen und soziale Gerechtigkeit | Grundeinkommen? | bpb.de

Grundeinkommen? Editorial Grundeinkommen als Sozialreform Grundeinkommen und soziale Marktwirtschaft Sozialversicherung und Grundeinkommen Grundeinkommen und soziale Gerechtigkeit Hartz IV: Reform der Reform?

Grundeinkommen und soziale Gerechtigkeit

Christoph Butterwegge

/ 14 Minuten zu lesen

Erfüllt ein bedingungsloses Grundeinkommen die daran geknüpften Erwartungen oder wäre es unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit nicht sinnvoller, eine bedarfsabhängige, armutsfeste und repressionsfreie Grundsicherung zu fordern?

Einleitung

Seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 befindet sich der Sozialstaat in einer tiefen Krise, aus der er durch Reformen und einen Umbau seiner Strukturen herausgeführt werden soll. Unter den zahlreichen Konzepten sticht als eines der radikalsten das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) hervor. Es hat Anhänger in fast allen politischen Lagern: Von der FDP und einflussreichen Unionspolitikern über erhebliche Teile der Bündnisgrünen, neoliberale Ökonomen und einen Großunternehmer bis zur äußersten Linken genießen Modelle eines allgemeinen, mehr oder weniger (gegen)leistungslosen Mindesteinkommens wachsende Popularität.



Entscheidend dürfte dazu Hartz IV beigetragen haben, mit dem "Grundsicherung für Arbeitsuchende" genannten Arbeitslosengeld II (ALG II), das für ein menschenwürdiges Leben in einer Wohlstandsgesellschaft kaum ausreicht. Unter dem Kontrolldruck ihrer ARGE (Arbeitsgemeinschaft aus Agentur für Arbeit und kommunaler Sozialbehörde) bzw. Optionskommune stehende Bezieher von ALGII oder Sozialgeld, Sozialhilfeempfänger und ihre organisatorischen Netzwerke halten das garantierte Grundeinkommen für eine Alternative zu solchen bedürftigkeitsgeprüften Transferleistungen. Mittels eines Grundeinkommens, das auch als "Bürger-" bzw. "Existenzgeld", als "Sozialdividende" oder als "negative Einkommensteuer" firmiert und allen Inländern gezahlt werden soll, hoffen sie, nicht nur die Armut, sondern auch die Demütigungen durch einen als bürokratisch empfundenen Staat überwinden zu können. Weibliche (Langzeit-)Arbeitslose, die wegen eines hohen Partnereinkommens keine Transferleistungen erhalten, und Feministinnen wähnen darin die ersehnte eigenständige soziale Sicherung der Frau.

Hier soll untersucht werden, ob ein bedingungsloses Grundeinkommen die daran geknüpften Erwartungen erfüllt oder ob es nicht gerade unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit sinnvoller wäre, die Forderung nach einer bedarfsabhängigen, armutsfesten und repressionsfreien Grundsicherung - etwa unter dem Dach einer solidarischen Bürgerversicherung - zu erheben. Entscheidend für Wirkung und Bewertung eines Grundeinkommensmodells sind die Höhe des zur Verfügung gestellten Betrages (unter/über Hartz IV bzw. Sozialhilfe?), die Art seiner Refinanzierung (Erhebung/Erhöhung welcher Steuern und Streichung anderer/welcher Sozialleistungen?) sowie die Rahmenbedingungen, unter denen er bezahlt wird (Empfängerkreis, Anspruchsvoraussetzungen, Berechnungsmodalitäten usw.).

Grundeinkommensmodelle im Überblick

Die sozialphilosophische Idee, dadurch Armut zu verhindern und Bürgerinnen und Bürger vom Arbeitszwang zu befreien, dass alle Gesellschaftsmitglieder vom Staat ein gleich hohes, ihre materielle Existenz auf einem Mindestniveau sicherndes Grundeinkommen erhalten, ist uralt. Sie geht auf das 1516 erschienene Buch "Utopia" von Thomas Morus zurück, hat sich bis heute das Flair des Paradiesischen bewahrt und wurde in unterschiedlichen Ländern immer wieder kontrovers diskutiert, aber trotz zahlreicher politischer Vorstöße nie flächendeckend realisiert. Vielmehr hält der Streit darüber weiter an, ob ein Grundeinkommen sinnvoller als die bestehenden Sozialsysteme, leichter finanzierbar und realisierbar ist. Seine Faszination gewinnt es durch die Verbindung der Gerechtigkeitsvorstellungen eines utopischen Sozialismus, bürgerlicher Gleichheitsideale und wesentlicher Funktionselemente der Marktökonomie. Derzeit haben Grundeinkommensmodelle vermutlich deshalb Hochkonjunktur, weil sie mit dem neoliberalen Zeitgeist harmonieren, also die (Markt-) Freiheit des (Wirtschafts-)Bürgers nicht (zer) stören, vielmehr auf Selbstverantwortung, Eigenvorsorge und Privatinitiative abheben sowie die tradierten Mechanismen der kollektiven Absicherung von Lebensrisiken in Frage stellen, ohne jenen Eindruck sozialer Kälte zu hinterlassen, der etablierter Politik mittlerweile anhaftet oder nachgesagt wird.

Das medienwirksamste Modell eines bedingungslosen Grundeinkommens stammt von Götz W. Werner, dem anthroposophisch orientierten Gründer und Geschäftsführenden Gesellschafter der dm-Drogeriemarktkette. Dieser erfolgreiche Unternehmer will "Deutschland zur Steueroase und zum Arbeitsparadies" machen. Er fordert den "Umbau einer Arbeitnehmer-Gesellschaft mit hohem Arbeitslosenanteil hin zu einer Gemeinschaft von Freiberuflern mit bedingungslosem Grundeinkommen", der ohne eine "radikale Steuerreform" nicht möglich sei. Für Werner bildet das Grundeinkommen den Hebel zur Durchsetzung einer weiteren drastischen Steuerentlastung von Unternehmen. Unter dem Motto "Ausgaben- statt Einkommensteuer" begründet er, warum seiner Meinung nach ausschließlich eine reine Konsumsteuer sozial gerecht ausgestaltet werden kann und zeitgemäß ist: "Die Mehrwertsteuer hat (...) als einzige Steuer einen gesamt-, ja weltwirtschaftlichen Charakter. Man könnte sagen, dass sie die adäquate Steuer für eine hochgradig arbeitsteilige Gesellschaft und eine globalisierte Welt ist." Doch so nützlich die Mehrwertsteuer besonders für einen (Handels-)Unternehmer sein mag, der sie einfach auf die Preise umlegt und damit auf die Verbraucher abwälzt, so wenig berücksichtigt sie die unterschiedliche finanzielle Leistungs- bzw. Zahlungsfähigkeit der einzelnen Gesellschaftsmitglieder.

Wolfgang Engler, der für eine "Sozialdividende" plädiert, schlägt zum Zweck ihrer Finanzierung ebenfalls indirekte Steuern vor. Über die Mehrwertsteuer schwärmt er unter Berufung auf Lester Thurow: "Sie wird auf alle Waren erhoben, auch auf die importierten, und zieht daher (anders als bei Abgaben und direkten Steuern) keine Wettbewerbsnachteile für die je einheimische Volkswirtschaft nach sich." Aber folgt man weniger der Standortlogik als sozialen Gerechtigkeitskriterien, kommt die Mehrwertsteuer als (einzige) Finanzierungsquelle kaum in Betracht, weil sie besonders kinderreiche Familien trifft, die in Relation zu ihrem niedrigen Einkommen einen relativ hohen Konsumgüterbedarf haben, während Wohlhabende schon wegen häufigerer Aufenthalte in Ländern ohne Grundeinkommen und vergleichbar hohe Steuersätze ihr leichter ausweichen können. Selbst wenn man die Steuersätze stärker ausdifferenzierte, also beispielsweise Grundnahrungsmittel niedrig oder gar nicht, andere Güter höher und Luxusgüter extrem hoch besteuerte, würde aus einer Konsumsteuer bestimmt kein sozial gerechtes Steuerungsinstrument. Die (progressive) Einkommensteuer und eine Vermögensteuer sind sozial gerechter als die Mehrwertsteuer, weil sie vor allem Besserverdienende, Kapitaleigentümer und Begüterte treffen, während Geringverdiener und Sozialleistungsempfänger unabhängig von ihrem Konsumgüterbedarf verschont bleiben.

Ähnlich wie Engler beschwört Werner das Grundeinkommen als "Bürgerrecht", versteht darunter aber letztlich nur einen "bar ausgezahlten Steuerfreibetrag", der nötig ist, weil in seinem Modell alle direkten Steuern entfallen, was nicht die Armen, sondern die Vermögenden - besonders Milliardäre wie Werner - entlasten würde. Wenn man das Grundeinkommen als bloße "Rücküberweisung des Grundfreibetrages" interpretiert, wie das Werner tut, degeneriert es zum Abfallprodukt einer bestimmten steuerpolitischen Reformkonzeption. Gleichzeitig müssten normale Arbeitnehmer und Menschen, die auf das Grundeinkommen zur Existenzsicherung angewiesen sind, beim Werner-Modell mit einer Mehrwertsteuer in Höhe von ca. 50 Prozent rechnen und wahrscheinlich dramatische Steigerungen der Lebenshaltungskosten verkraften.

Der thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) bezeichnet sein Modell, das er im Sommer 2006 vorgelegt und seither konkretisiert hat, als "Solidarisches Bürgergeld", weil es geeignet sei, die Existenz sämtlicher Staatsbürger bedingungslos zu sichern und der Massenarbeitslosigkeit durch Entkopplung von Arbeitsmarkt und sozialer Sicherung entgegenzuwirken. Nach diesem Konzept erhält jedes Kind 300 Euro, jeder Volljährige 600 Euro im Monat und Erwachsene ab dem 67. Lebensjahr außerdem eine Zusatzrente bis höchstens 600 EUR je nach Art ihrer Erwerbstätigkeit. Ergänzend gibt es eine Gutschrift von 200 EUR als Gesundheits- und Pflegeprämie. Behinderte und Bürger in einer besonderen Lebenslage, etwa Alleinerziehende, können einen Bürgergeldzuschlag beantragen, der sich nach dem individuellen Bedarf richtet. Alle übrigen Sozialleistungen, beispielsweise Wohn-, Kinder- und Elterngeld, entfallen genauso wie sämtliche Sozialversicherungsbeiträge; die Arbeitgeber entrichten stattdessen für ihre Beschäftigten eine Lohnsummensteuer zwischen 10 und 12 Prozent. Finanziert werden soll das Bürgergeld überdies durch eine Erhöhung der Einkommensteuer auf 50 Prozent, die mit dem Bürgergeld verrechnet wird. Ab einer bestimmten Einkommenshöhe (1 600 EUR) halbiert sich das Bürgergeld, während die Bezieher höherer Einkommen umgekehrt nur 25 Prozent Steuern bezahlen.

Solidarisch ist das Modell jedoch kaum zu nennen, liegt die Höhe des Bürgergeldes doch "deutlich unter der von der EU festgelegten Armutsgrenze", wie auch Michael Opielka und Wolfgang Strengmann-Kuhn konstatieren. Gleichzeitig würden die bestehenden Sozialversicherungen geschleift, die Arbeitgeber aus der paritätischen Beitragspflicht entlassen und durch die geplante Flat Tax (Einheitssteuer) mit einem Steuersatz von 25 Prozent à la Paul Kirchhof vor allem Besserverdienende und Vermögende entlastet. Sowenig eine Kopfpauschale im Gesundheitssystem der unterschiedlichen finanziellen Leistungsfähigkeit von Krankenversicherten gerecht würde, sowenig eignet sich das "Solidarische Bürgergeld", um die tiefe Wohlstandskluft in der Gesellschaft zu schließen. Das bedingungslose Grundeinkommen wird zur sozialpolitischen Mogelpackung, die mehr Gerechtigkeit vortäuscht, wenn es nur eine Pauschalierung bestehender Transferleistungen darstellt und das bisherige Sicherungsniveau für die Bedürftigen per Saldo senkt.

Einzelne neoliberale Ökonomen verbinden mit dem Grundeinkommen die Hoffnung, weitreichende Deregulierungskonzepte durchsetzen zu können. Das von Thomas Straubhaar geleitete Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) geht denn auch in seiner Studie "Bedingungsloses Grundeinkommen und Solidarisches Bürgergeld - mehr als sozialutopische Konzepte" nicht nur davon aus, dass "alle steuer- und abgabenfinanzierten Sozialleistungen abgeschafft" werden, sondern schlägt darüber hinaus vor, "alle sozialpolitisch motivierten Regulierungen des Arbeitsmarktes" zu streichen: "Es gibt keinen Schutz gegen Kündigungen mehr, dafür aber betrieblich zu vereinbarende Abfindungsregeln. Es gibt keinen Flächentarifvertrag mehr und auch keine Mindestlöhne, sondern von Betrieb zu Betrieb frei verhandelbare Löhne. Es gibt keine Sozialklauseln mehr. Die heute zu leistenden Abgaben an die Sozialversicherungen entfallen vollständig." Was vielen Erwerbslosen irrigerweise als "Schlaraffenland ohne Arbeitszwang" erscheint, wäre in Wirklichkeit ein wahres Paradies für Unternehmer, in dem Arbeitnehmer wenig Rechte und Gewerkschaften keine (Gegen-)Macht mehr hätten.

Hier liegt vermutlich einer der Hauptgründe dafür, dass manche neoliberale Ökonomen diesem Modell so viel Sympathie entgegenbringen. "Neoliberale lieben das Grundeinkommen als Hebel, um den ganzen Sozialstaat samt seiner Klientel auf einen Schlag loszuwerden, damit zugleich den Staat und den gesamten öffentlichen Sektor gesundzuschrumpfen und jede Form von Beschäftigungspolitik, von makroökonomischer Steuerung ein für allemal ad acta zu legen." Dies gilt allerdings nicht durchgängig. Vielmehr hält Horst Siebert, emeritierter Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (Kiel), das bedingungslose Grundeinkommen für eine "abstruse Idee mit starken Fehlanreizen", die seiner Meinung nach zum gesellschaftlichen Chaos führen muss: "Die Arbeitsmoral würde zerrüttet, die Grundlagen der Arbeitsethik, die die Bevölkerung in Sätzen wie Nach getaner Arbeit ist gut ruhn oder Wo Arbeit das Haus bewacht, kann Armut nicht hinein ausgedrückt hat, würden zerstört. Das Arbeitsangebot würde markant zurückgehen, die Produktion müsste schrumpfen - eine seltsame Empfehlung für das Szenario einer alternden Gesellschaft."

Während sich die bisher erwähnten Protagonisten des Grundeinkommens von dessen Einführung eine Verbilligung des "Faktors Arbeit" und eine größere Bereitschaft der Transferleistungsbezieher zur Arbeitsaufnahme versprechen, sehen linke Befürworter darin umgekehrt eine Möglichkeit, soziale Sicherheit ohne Arbeit zu erlangen. Gewissermaßen spiegelbildlich zum Neoliberalismus und mit teilweise ganz ähnlichen Formulierungen wie dessen Vertreter erheben Organisationen der radikalen Linken gegenüber dem Wohlfahrtssystem den Vorwurf, es beschneide die Freiheit seiner Klientel und hindere diese so daran, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Beispielsweise meint eine sich "Wildcat" nennende Gruppe: "Die sozialstaatlichen Errungenschaften sind Verhinderungsmittel von Selbstbewusstsein und kollektiven Kämpfen. Der Staat tritt an die Stelle unserer Selbsttätigkeit, atomisiert uns durch das bürgerliche Recht und individuelle Geldzahlungen."

Während der 1990er-Jahre machte die organisierte Erwerbslosenbewegung das Existenzgeld zu ihrer Schlüsselforderung, ohne dass seine öffentliche Resonanz und sein Rückhalt in der Bevölkerung spürbar wuchsen. Am 9.Juli 2004, dem Tag der Verabschiedung von Hartz IV, wurde in Berlin ein "NetzwerkGrundeinkommen" (Externer Link: www.grundeinkommen.de ) gegründet, das sämtliche Initiativen und Einzelpersonen miteinander zu verbinden sucht, die hinter der Losung in seinem Namen stehen. Das Netzwerk verlangt ein von der Lohnarbeit abgekoppeltes Existenzgeld, das nach dem Willen seiner Befürworter an die Stelle der bisherigen Sicherungssysteme treten und den Rechtsanspruch auf eine bedarfsunabhängige materielle Absicherung verwirklichen würde: "Weder soll es eine Bedürftigkeitsprüfung noch eine Abhängigkeit von zu leistenden Arbeiten geben. Das Grundeinkommen wird also bedingungslos an den einzelnen Bürger bzw. (die einzelne; Ch. B.) Bürgerin ausgezahlt."

Weiterentwicklung oder Zerstörung des bestehenden Sozialstaates?

Auf den ersten Blick hat ein garantiertes Mindesteinkommen zweifellos etwas Bestechendes: Statt wie im bestehenden Wohlfahrtsstaat diejenigen Menschen durch eine spezielle Transferleistung (ALG II, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Sozialhilfe) aufzufangen, die weder über ein ausreichendes Erwerbseinkommen noch über Leistungsansprüche aus dem Versicherungssystem verfügen, sollen sämtliche (Wohn-) Bürger ohne Ansehen der Person, "Arbeitszwang" und besonderen Nachweis in den Genuss einer finanziellen Zuwendung gelangen, die zur Sicherung ihrer Existenz ausreicht. An die Stelle eines gleichermaßen komplexen wie komplizierten Wohlfahrtsstaates, der vielen Menschen, sogar seinen größten Nutznießern, undurchschaubar erscheint und bloß als "sozialer Reparaturbetrieb" funktioniert, würde ein sozialpolitischer Universaltransfer treten, der keiner Kontrollbürokratie mit ihren Sanktionsmechanismen bedarf.

Das bedingungslose Grundeinkommen suggeriert, ein "gesellschaftspolitischer Befreiungsschlag" zu sein. Nach permanenter "Flickschusterei" am Sozialstaat, die über Jahrzehnte hinweg nur immer neue Probleme und nicht enden wollende Streitigkeiten in der Öffentlichkeit mit sich gebracht hat, erscheint der angestrebte Systemwechsel vielen Menschen geradezu als Erlösung aus dem Jammertal der Konflikte. Endlich können sie hoffen, sowohl vom Elend der Armen, die um Almosen betteln, als auch von ständigen Reformen, die - wie Hartz IV - weitere Verschlechterungen bewirkt haben, befreit zu werden. Für die Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens besteht ein weiterer Fortschritt darin, dass es weder an die (für den Bismarck'schen Sozialversicherungsstaat konstitutive) Arbeitspflicht noch an eine diskriminierend wirkende Bedürftigkeitsprüfung gebunden wäre.

Sieht man genauer hin, fallen demgegenüber jedoch zahlreiche Nachteile ins Auge: Beim allgemeinen Grundeinkommen handelt es sich um eine alternative Leistungsart, die mit der Konstruktionslogik des bestehenden, früher als Jahrhundertwerk gefeierten und in vielen Teilen der Welt nachgeahmten Wohlfahrtsstaates bricht sowie seine ganze Architektur bzw. Struktur zerstören würde. Denn dieser gründet seit Bismarcks Zeiten auf Sozialversicherungen, die in unterschiedlichen Lebensbereichen, -situationen und -phasen auftretende Standardrisiken (Krankheit, Alter, Invalidität, Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit) kollektiv absichern, sofern der versicherte Arbeitnehmer und sein Arbeitgeber vorher entsprechende Beiträge gezahlt haben. Nur wenn dies nicht der Fall oder der Leistungsanspruch bei Arbeitslosigkeit erschöpft ist, muss auf steuerfinanzierte Leistungen (ALG II, Sozialgeld und Sozialhilfe) zurückgegriffen werden, die bedarfsabhängig - das heißt nur nach einer Prüfung der Einkommensverhältnisse, vorrangigen Unterhaltspflichten und Vermögensbestände - gezahlt werden.

Verfechter des Grundeinkommens geraten zwangsläufig in ein Dilemma, denn sie müssen sich zwischen folgenden zwei Möglichkeiten entscheiden:

Entweder erhält jeder Bürger das Grundeinkommen, unabhängig von den jeweiligen Einkommens- und Vermögensverhältnissen. In diesem Fall müssten riesige Finanzmassen bewegt werden, die das Volumen des Bundeshaushaltes (ca. 250 Mrd. EUR) um ein Mehrfaches übersteigen und die Verwirklichung des bedingungslosen Grundeinkommens per se ins Reich der Utopie verweisen. Außerdem stellt sich unter Gerechtigkeitsaspekten die Frage, warum Millionäre vom Staat monatlich ein von ihnen vermutlich als sehr bescheidenes Almosen empfundenes Grundeinkommen erhalten sollten, während Millionen Bürger mehr als den für sämtliche Empfänger einheitlichen Geldbetrag viel nötiger hätten.

Oder wohlhabende und reiche Bürger bekommen das Grundeinkommen nicht bzw. im Rahmen der Steuerfestsetzung wieder abgezogen. Dann ist es weder allgemein und bedingungslos, noch entfällt die Bedarfsprüfung, denn es müsste ja in jedem Einzelfall geprüft werden, ob die Anspruchsvoraussetzungen nicht durch (verdeckte) anderweitige Einkünfte verwirkt sind. Damit wären Arbeitslose und Arme jedoch einem ähnlichen Kontrolldruck wie gegenwärtig ausgesetzt, auch wenn er vom Finanzamt statt von der ARGE oder einer Sozialbehörde ausgeübt würde, den zu beseitigen jedoch gerade ein Hauptargument für das Grundeinkommen bildet.

Das Existenzgeld gründet wie das garantierte Mindesteinkommen generell auf der Wunschvorstellung seiner Befürworter, die soziale Sicherung von der Erwerbsarbeit entkoppeln zu können. Dabei handelt es sich jedoch um einen Trugschluss, denn sofern Letztere existiert, basiert die Erstere auf ihr. Allenfalls können Teile der Bevölkerung leben, ohne zu arbeiten, aber nur so lange, wie das andere (für sie) tun und den erzeugten gesellschaftlichen Reichtum mit ihnen teilen. Von der Erwerbsarbeit trennen lassen sich bloß der individuelle Rechtsanspruch auf Transferleistungen, den jemand geltend macht, und der Zuteilungsmechanismus, nach dem die Zahlungen erfolgen. Daniel Kreutz kritisiert, das bedingungslose Grundeinkommen verspreche die Befreiung vom Joch der Lohnarbeit, sei als "individuelle Ausstiegsoption" aber dem Modell eines müßigen Vermögensbesitzers nachgebildet und verkenne damit völlig die Notwendigkeit "kollektiver Pflichtarbeit", der sich die Gesellschaft nicht entziehen könne, wenn sie ihren Wohlstand sichern wolle. Je mehr Bürger das Mindesteinkommen beziehen würden, ohne zu arbeiten, umso härter müssten dies andere tun. Wahrscheinlicher ist, dass die Höhe des Grundeinkommens seine Bezieher zwingen würde, ergänzend Lohnarbeit zu verrichten, um leben zu können. Letztlich würde es als "Kombilohn" für alle wirken, jedes zu geringe Arbeitseinkommen aufgestockt und der Niedriglohnsektor dramatisch wachsen.

Einer Realisierung der Forderung nach einem Grundeinkommen stehen zahlreiche organisatorisch-technische Umsetzungsschwierigkeiten entgegen. Richard Hauser rechnet beispielsweise mit einer "deutliche(n) Schrumpfung der Produktion und des Volkseinkommens" und befürchtet negative Konsequenzen durch die wirtschaftliche Verflechtung der Bundesrepublik mit anderen Ländern: "Selbst wenn es gelänge, das unbedingte und universelle Grundeinkommen nach dem Territorialprinzip mit Erstwohnsitz in Deutschland zu beschränken - was rechtlich nicht gesichert ist -, müsste mit einer starken Sogwirkung auf Zuwanderer aus anderen EU-Ländern und auch aus Nicht-EU-Ländern gerechnet werden; denn jeder EU-Bürger könnte sich durch Einwanderung nach Deutschland ein an den deutschen Standards orientiertes sozio-kulturelles Existenzminimum ohne jegliche Anstrengung und Gegenleistung beschaffen." Damit sich der erforderliche Finanzaufwand nicht weiter erhöhen würde, wäre mit einer noch restriktiveren Zuwanderungspolitik der Bundesrepublik zu rechnen.

Ob ein bedingungsloses Grundeinkommen finanzierbar, sinnvoll und sozial gerecht ist, erscheint mehr als fraglich. Ein solches, nicht auf Erwerbsarbeit gegründetes, "leistungsloses" Einkommen gleicht einer schönen Utopie. "Aber manche Utopien sind gefährlich, weil sie von der Suche nach realistischeren Alternativen ablenken." Die Achillesferse des Grundeinkommens ist seine Finanzierung. Dabei geht es gar nicht mal in erster Linie um die großen Finanzmassen, die bewegt werden müssten, um es einführen zu können, sondern um Gerechtigkeitsdefizite im Rahmen des Steuersystems. Hinzu kommt, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen den Druck, die Massenarbeitslosigkeit konsequent zu bekämpfen, mindern würde. Denn die Politik könnte darauf hinweisen, dass auch ohne Erwerbsarbeit für jeden (auf einem Mindestsicherungsniveau) gesorgt sei. In einer Arbeitsgesellschaft resultieren der soziale Status und das Selbstwertgefühl der Menschen jedoch aus der Erwerbsarbeit.

Daher und weil für sie die Bedürftigkeit der Empfänger und die Frage eine Rolle spielen, warum jemand in eine Notsituation geraten ist, dürfte ein Grundeinkommen kaum die Zustimmung breiter Bevölkerungsschichten finden. Da es keine "generalisierte Umverteilungsbereitschaft" gibt, wie Georg Vobruba konzediert, kann die neuere Debatte über das Mindesteinkommen zwar nicht zu dessen Verwirklichung führen, aber die Einsicht fördern, dass der Einbau von wirkungsvollen Grundsicherungselementen in die bestehenden Sozialsysteme nötig ist. Diese müssen zu einer Bürgerversicherung weiterentwickelt werden, in die alle Wohnbürgerinnen und Wohnbürger mit sämtlichen Einkünften einbezogen sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Christoph Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates, Wiesbaden 2006(3), S. 115ff.

  2. Vgl. Yannick Vanderborght/Philippe Van Parijs, Ein Grundeinkommen für alle? - Geschichte und Zukunft eines radikalen Vorschlags, Frankfurt/M. - New York 2005, S. 15.

  3. Vgl. Christoph Butterwegge/Bettina Lösch/Ralf Ptak, Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden 2007.

  4. Götz W. Werner, Einkommen für alle, Köln 2007, S. 192.

  5. Ebd., S. 149.

  6. Ebd., S. 207.

  7. Wolfgang Engler, Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft, Berlin 2005, S. 371f.

  8. Vgl. Christoph Butterwegge/Michael Klundt/Matthias Zeng, Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland, Wiesbaden 2005.

  9. Vgl. G. W. Werner (Anm. 4), S. 211.

  10. Vgl. Dieter Althaus, Das Solidarische Bürgergeld. Sicherheit und Freiheit ermöglichen Marktwirtschaft, in: Michael Borchard (Hrsg.), Das Solidarische Bürgergeld - Analyse einer Reformidee, Stuttgart 2007, S. 2.

  11. Michael Opielka/Wolfgang Strengmann-Kuhn, Das Solidarische Bürgergeld. Finanz- und sozialpolitische Analyse eines Reformkonzepts. Studie im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung, in: M. Borchard (Anm. 10), S. 109. Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag von M. Opielka in dieser Ausgabe.

  12. Siehe Hamburgisches WeltWirtschaftsInstitut, Bedingungsloses Grundeinkommen und Solidarisches Bürgergeld - mehr als sozialutopische Konzepte, März 2007, S. 13 (www.thueringen.de/imperia/md/content/
    buergergeld/grundeinkommen-studie.pdf; 9.10. 2007). Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag von Ingrid Hohenleitner und Thomas Straubhaar in dieser Ausgabe.

  13. Michael R. Krätke, Leben und Arbeiten, Brot und Spiele. Das Grundeinkommen als Sozialstaatsersatz?, in: Widerspruch, 27 (2007) 52, S. 154.

  14. Horst Siebert, Gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen. Eine abstruse Idee mit starken Fehlanreizen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 27.6. 2007.

  15. Wildcat, Die Perspektiven des Klassenkampfes liegen jenseits einer Reform des Sozialstaats, in: Hans-Peter Krebs/Harald Rein (Hrsg.), Existenzgeld. Kontroversen und Positionen, Münster 2000, S. 107f.

  16. Vgl. Bundesarbeitsgruppen der Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und Armut (Hrsg.), Existenzgeld. 10 Positionen gegen falsche Bescheidenheit und das Schweigen der Ausgegrenzten, Frankfurt/M. 1996.

  17. Harald Rein, Das Ende der Bescheidenheit ... - Existenzgeld, eine Forderung von Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen, in: Axel Gerntke u.a., Einkommen zum Auskommen. Von bedingungslosem Grundeinkommen, gesetzlichen Mindestlöhnen und anderen Verteilungsfragen, Hamburg 2004, S. 53.

  18. Daniel Kreutz, Wider den Götzen "bedingungsloses Grundeinkommen". Ein Beitrag zur Ideologiekritik, in: Berliner Debatte Initial, 18 (2007) 2, S. 65.

  19. Richard Hauser, Alternativen einer Grundsicherung - soziale und ökonomische Aspekte, in: Gesellschaft - Wirtschaft - Politik, 55 (2006) 3, S. 339.

  20. Robert Castel, Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Hamburg 2005, S. 113 (Fn. 14).

  21. Vgl. Holger Lengsfeld/Stefan Liebig, Wie sozial gerecht wäre ein allgemeines Grundeinkommen?, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 7 - 8/2002, S. 472.

  22. Vgl. Georg Vobruba, Gute Gründe reichen nicht. Zur neueren Diskussion eines garantierten Grundeinkommens, in: ders., Entkoppelung von Arbeit und Einkommen. Das Grundeinkommen in der Arbeitsgesellschaft, Wiesbaden 2006, S. 181.

Dr. rer. pol., geb. 1951; o. Professor an der Universität zu Köln; Humanwissenschaftliche Fakultät, Institut II: Politikwissenschaft, Gronewaldstr. 2, 50931 Köln.
E-Mail: E-Mail Link: ewf-politikwissenschaft@uni-koeln.de (Sekretariat)
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