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Die geostrategische Rolle der Türkei in Vorderasien

Asiye Öztürk

/ 17 Minuten zu lesen

Der Beitrag behandelt die Beziehungen zwischen regionalen Entwicklungen und der geostrategischen Rolle der Türkei in ihrer Nachbarschaft. Besonders wird das Verhältnis von Geografie und Identität behandelt.

Einleitung

In der geopolitischen Standortbestimmung für die neunziger Jahre ließe sich die türkische Außenpolitik als eine sicherheitsbetonte Außenpolitik im Fahrwasser Washingtons charakterisieren - mit dem klaren Wunsch nach Integration in die westliche Welt. Die islamisch-konservative AKP-Regierung vollzog einen außenpolitischen Strategiewechsel, der vor allem die benachbarten Staaten tangierte und dem Land neue Handlungsoptionen in den internationalen Beziehungen eröffnete.

Die Security first-Politik wurde durch eine friedens- und kompromissorientierte, unabhängigere Außenpolitik nach dem Prinzip "Frieden durch Handel" abgelöst. Durch ein vielfältiges regionales Beziehungsgeflecht werden wirtschaftliche Kooperation und diplomatische Konfliktlösung angestrebt. Diese Politik basiert auf dem Verständnis der Türkei als Brücke zwischen der westlichen und der arabisch-islamischen Welt, der demnach eine Modell- und Vorbildfunktion zukommt. Ökonomisch und strategisch wird die Türkei darüber hinaus als Energiebrücke zwischen Ost und West wahrgenommen. Dementsprechend könnte die Türkei zum Energiekorridor für den Transport der Rohstoffe aus dem Kaspischen Raum nach Europa werden. Erste Meilensteine im Ausbau der türkischen Hafenstadt Ceyhan an der Mittelmeerküste zu einem "Rotterdam des Nahen Ostens" sind die Eröffnung der Baku-Tbilisi-Ceyhan-Pipeline sowie der Blue Stream-Pipeline.

Im Folgenden soll nicht die türkische Außenpolitik der letzten Jahre dargestellt, sondern lediglich die Beziehung zwischen regionalen Entwicklungen und der geostrategischen Rolle der Türkei in ihrer Nachbarschaft untersucht werden. Frei nach Napoleon Bonaparte wird das Zusammenspiel von Geografie und Identität im neuen außenpolitischen Konzept Ankaras besonders hervorgehoben. Als Einstieg in das Thema bietet sich eine kurze Einführung in die geopolitische Lage des Landes an.

Die geopolitische Lage der Türkei

Die Türkei liegt an der Schnittstelle von Nahem Osten, Kaukasus und Südosteuropa. Durch diese geografisch privilegierte Lage kontrolliert sie den westlichen Zugang zu dem als strategische Energieellipse` definierten Raum, der im Osten von Afghanistan und Zentralasien begrenzt wird und dessen Hauptscheitel das Kaspische Meer und der Persische Golf sind. Die globale Bedeutung dieser Region erschließt sich daraus, dass hier ca. 70 Prozent der weltweiten Energieressourcen lagern. Nach dem 11. September 2001 rückten dieser Raum und seine Peripherie unter sicherheitspolitischen Aspekten als Schauplatz des internationalen Terrorismus ins Zentrum der Weltpolitik.

Die globale Aufmerksamkeit verstärkte sich nach dem Irakkrieg 2003, der als Wendepunkt des regionalen Sicherheits- und Stabilitätssystems gilt. Angesichts der Bedeutung der Region für die Weltwirtschaft und ihrer chronischen Instabilität kann davon ausgegangen werden, dass sie auch in den kommenden Dekaden im Mittelpunkt europäischer und amerikanischer Ordnungsbemühungen stehen wird. EU und USA versuchen, durch die Förderung der Demokratisierung dem Terrorismus und der Entstehung so genannter Schurkenstaaten (failed states) entgegenzuwirken. Mit der Begründung, dass es sich um eine mehrheitlich islamische Gesellschaft handele und um den einzigen Staat, der eine islamische Gesellschaft mit einer relativ stabilen Demokratie - wenn auch mit Defiziten - vereinbare, wurde die Türkei in diesen Demokratisierungskonzeptionen als stabilisierender Anker in der Region begriffen.

Zusammengefasst heißt das, dass die geostrategische Rolle der Türkei durch ihr Einflusspotenzial auf die Nachbarregionen bestimmt wird und ihren Ausdruck findet "in den Bildern (...) als Brücke oder Bindeglied zur nahöstlichen, kaukasischen und zentralasiatischen Welt (...) bzw. der Barriere gegen Gefahren, die aus diesen Regionen drohen könnten". Realistisch gesehen, kann die Türkei sowohl zur Zuspitzung als auch zur Entschärfung der Konflikte in der Region beitragen.

"Strategische Tiefe" als neues außenpolitisches Konzept

Mit dem Amtsantritt der AKP-Regierung kam es zur neuen außenpolitischen Doktrin der "strategischen Tiefe". Sie besagt, dass die Türkei kein Peripheriestaat Europas, des Nahen Ostens oder Zentralasiens sei, sondern ein "Schlüsselstaat" (pivotal state), der durch die Verfolgung nationaler Interessen und durch die Nutzung mehrdimensionaler Außenbeziehungen sowie der geografischen Lage zu einer einflussreichen Regional- und Ordnungsmacht werden könne. Diese Strategie steht allerdings im Zusammenhang mit der parallel verfolgten EU-Mitgliedschaft. Denn lediglich durch die EU-Beitrittsperspektive konnte die AKP-Regierung Demokratisierungsreformen durchführen, welche die internen Spannungen zwischen den islamischen Konservativen und den Laizisten entschärften und sie somit zum Entwicklungsmodell für andere islamische Staaten machten; durch die "Demokratisierung bei gleichzeitiger Wahrung der muslimischen Identität des Landes" gewann die Türkei neue Gestaltungsmöglichkeiten in ihren Außenbeziehungen. Die Orientierung an der EU fand auch in der Formulierung ihrer außenpolitischen Leitlinien Eingang: Sie bekannte sich klar zu einer auf Konfliktlösung ausgerichteten Nachbarschaftspolitik unter Betonung des Multilateralismus und der Achtung des Völkerrechts. Mit anderen Worten: Es setzte eine "Europäisierung der türkischen Außenpolitik" ein.

Der Anspruch auf die aktive regionale Führung ist insofern ein Novum, als die Türkei trotz ihrer militärischen Stärke und Stabilität nie Eckpfeiler sicherheitspolitischer Strategien für Vorderasien war. Geschuldet war dies zum einen dem historischen Erbe, zum anderen den bilateralen Streitigkeiten mit Syrien, Irak und Iran. Auch förderte die Allianzbildung mit Israel im Laufe der neunziger Jahre nicht das Vertrauen bei den arabischen Nachbarn und dem Iran. Die Türkei galt als fügsamer Vasall des Westens und "westoxicated". Die seit dem Ende des Kalten Krieges verfolgte Vermittler- und Brückenfunktion der Türkei wurde somit durch ihre Selbstdarstellung als intimate stranger in der Region blockiert. Diese Ansicht muss im Rahmen der Veränderung regionaler Parameter seit der US-Invasion im Irak neu bewertet werden. In Anknüpfung an den oben genannten Erfolg bei der Demokratisierung des Landes unter Beibehaltung der islamischen Identität erhöhte auch die Weigerung der Türkei im März 2003, ihr Territorium für US-Truppen zur Invasion im Nordirak zu öffnen, ihr Ansehen innerhalb der arabischen Gesellschaften. Die ungewöhnlich offene und harte Kritik Erdo?ans an der israelischen Palästinapolitik wertete die türkische Rolle im ohnehin spannungsreichen Verhältnis zwischen islamischer und westlicher Staatenwelt weiter auf. Infolgedessen wurde sogar ein Beobachterstatus der Türkei in der Arabischen Liga diskutiert - ein Don't für nicht-arabische Staaten.

Vermittlerrolle in Vorderasien

Die dramatischen Veränderungen im Nahen Osten durch den Irakkrieg 2003 schufen das geeignete Klima für eine Annäherung zwischen der Türkei, Syrien und Iran im Rahmen der Irak-Kontaktgruppe, die sich aus insgesamt sechs Anrainerstaaten des Irak zusammensetzt. Dazu kam es, weil alle drei Staaten als direkte Nachbarn des Irak dasselbe Interesse verfolgten: nämlich die Vermeidung des territorialen Zerfalls und die damit verbundene Gründung eines unabhängigen kurdischen Staates. Da in allen drei Staaten kurdische Minderheiten leben, rechneten sie in diesem Fall mit inneren Unruhen und einer Destabilisierung ihrer eigenen Grenzen. Darüber hinaus wurden Syrien und Iran insbesondere aufgrund des auf beiden Staaten lastenden US-amerikanischen Drucks zur Suche nach regionalen Partnern und damit zur Neupositionierung gegenüber der Türkei gedrängt. Sie waren dringend auf ein "Fenster zum Westen" angewiesen. Im Fall Teherans führten die geografische Einkreisung durch US-Truppen in Afghanistan, die Besatzung im Irak sowie der vor allem durch Washington forcierte internationale Druck, sein Atomprogramm aufzugeben, zu einer veränderten Sicherheitsperzeption. In einer vergleichbaren Lage befand sich auch Damaskus, das letztendlich auch der Forderung nach dem Abzug seiner Truppen aus dem Libanon nachkam.

Die sicherheitspolitischen Konsultationen in der Irak-Kontaktgruppe begünstigten schließlich den Ausbau des Dialogs auf politischer und wirtschaftlicher Ebene. Für die handelsorientierte Außenpolitik der AKP-Regierung bot sich eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Syrien an, besonders, weil sich im Süden der Türkei - in unmittelbarer Nähe zur syrischen Grenze - die wirtschaftlichen Strukturen sehr schnell entwickelten. Das Ende Dezember 2004 geschlossene bilaterale Freihandelsabkommen zwischen der Türkei und Syrien gilt Damaskus als "Einfallstor zur EU" und soll nach dem Wunsch Ankaras auf weitere Nachbarstaaten ausgedehnt werden. Die Beziehungen zum Iran waren bereits in den neunziger Jahren trotz der bilateralen Streitigkeiten und politischen Distanz durch einen wirtschaftlichen Pragmatismus mit gegenseitigem Nutzen gekennzeichnet: der Wunsch Teherans, seine Energieüberschüsse zu exportieren, und der dringende Bedarf der Türkei an diesen Rohstoffen komplementierten sich, so dass 1997 ein erstes Abkommen zum Bau einer gemeinsamen Gas-Pipeline geschlossen wurde. Aber erst infolge des politischen Dialogs seit 2003 wurde ein weiteres Pipeline-Projekt konkretisiert, das von Turkmenistan via Iran in die Türkei führen und von dort den europäischen Markt beliefern soll.

Die ungewohnte Annäherung an Syrien und Iran hatte für Ankara jedoch Grenzen. Das durch das März-Debakel 2003 ohnehin gespannte Verhältnis zu den USA und Israel sollte nicht unnötig strapaziert werden - und hätte letzten Endes auch die angestrebte Mittlerfunktion zwischen Israel, Syrien und Iran zur Chimäre degradieren können. Daher versuchte die Türkei bei den Koordinationstreffen der Irak-Kontaktgruppe stets, eine Allianzbildung zu vermeiden. Aus den gleichen Gründen wurde der für September 2003 geplante Besuch des Premierministers Erdo?an in Teheran abgesagt. Doch welche Auswirkungen hatte die türkisch-syrisch-iranische Annäherung tatsächlich auf die Allianz Ankaras mit Washington und Tel Aviv?

Auswirkungen auf die Beziehungen zu den USA und Israel

"What was achieved by Turgut Özal in the first Iraqi War is now being lost by Tayyip Erdo?an in the second." Gemeint sind die besonders engen Beziehungen zwischen der Türkei, den USA und Israel infolge des Golfkriegs von 1990/91. Dieser Auffassung soll durch die Betrachtung der außenpolitischen Entwicklung vom Ende her widersprochen werden: Eine auf Vertrauensbildung und diplomatische Konfliktlösung zielende Außenwirtschaftspolitik im Fahrwasser Europas verleiht der türkischen Regionalpolitik mehr Glaubwürdigkeit und Akzeptanz und erleichtert ihr die seit Ende des Kalten Krieges vielbeschworene Vermittlerrolle zwischen Israel und den arabisch-islamischen Staaten erheblich, die auch der regionalen Integration des israelischen Staates dient. Gleichzeitig stabilisiert die Türkei ihren Status als wirksamer US-Verbündeter in der strategisch wichtigen Region. Die Spannungen zwischen den Bündnispartnern waren zwar mehr als eine bloße diplomatische Krise und weiteten sich zu einer tiefen Vertrauenskrise aus. Doch dürfen Natur und Substanz der türkisch-israelischen sowie der türkisch-amerikanischen Beziehungen nicht unterschätzt werden.

Die Interessen der USA und der Türkei überschneiden sich in ihrem Wunsch nach Stabilität im Irak. Die AKP-Regierung ist sich trotz ihres neuen Selbstbewusstseins im Klaren darüber, dass die USA im instabilen regionalen wie auch internationalen System der alleinige Hegemon sind. Sie halten das "Damoklesschwert" über die Türkei, da Washington als einzige Macht den Nordirak, in dem die kurdische PKK/Kadek wieder Bewegungsfreiheit genießt, kontrollieren kann. Auch die US-Administration steht innenpolitisch - im Hinblick auf die Kongresswahlen 2006 - unter erheblichem Druck, stabile Verhältnisse im Irak zu schaffen, um die immensen Besatzungskosten zu senken und einen Zeitplan für den Abzug der eigenen Truppen vorzulegen. Zur Stabilisierung des Landes benötigen sie allerdings die Unterstützung Ankaras, Teherans und Damaskus'. Denn nur, wenn die Nachbarstaaten ihre Interessen gewahrt wissen, "wird man sie zu Anteilseignern an der Stabilisierung des Irak und damit an einer friedlichen Neugestaltung des Mittleren Ostens machen können". Unter diesem Aspekt wird eine potenzielle Vermittlerrolle der Türkei zu Syrien und dem Iran umso wichtiger. So appellierte Paul Wolfowitz bereits im Zuge der Libanon-Krise im Frühling 2005 an Ankara, seine Beziehungen zu Syrien zu nutzen, um es zum Abzug aus dem Libanon zu bewegen.

Das aktive Streben der türkischen Außenpolitik, Modellstaat für die arabisch-islamischen Staaten zu werden, kommt den USA und der im Rahmen ihrer neuen Demokratisierungspolitik 2003 ins Leben gerufenen Greater Middle East-Initiative entgegen. Sie wurde in Kooperation mit den europäischen Partnern zur Broader Middle East- und North Africa-Initiative umformuliert und während des NATO-Gipfels 2004 in Istanbul als Brückenschlag zu der islamischen Welt deklariert. In den Konzeptionen zur Demokratisierung des erweiterten Nahen Ostens kommt der Türkei neben ihrer geografischen Lage auch gesellschaftspolitisch eine Schlüsselrolle zu - so steht sie als Beispiel dafür, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Modernisierung keine genuin westlichen Eigenschaften sind. Das Intervenieren der US-Außenministerin Condolezza Rice auf Bitten Erdo?ans auf dem EU-Krisentreffen am 3. Oktober 2005 in Luxemburg zu Gunsten der Türkei verdeutlichte das kontinuierliche US-Interesse an einer stabilen und demokratischen Türkei, unabhängig von der Position der jeweiligen Regierungen.

In gleichem Maße konnte die Kooperation auf militärstrategischer Ebene ihren Stellenwert in den bilateralen Beziehungen bewahren: Die Zusammenarbeit beider Staaten im Rahmen der NATO-Mitgliedschaft wurde ohne Abstriche in Afghanistan weitergeführt, und die Türkei übernahm dort von Februar bis August 2005 zum zweiten Mal die Führung der Internationalen Sicherheitsbeistandstruppe (ISAF). Ebenso weitgehende und kompetente Unterstützung bot sie bei den Partnership-for-Peace-Programmen der NATO mit kaukasischen und zentralasiatischen Staaten. Für Washington genießen die Militärbasen in der Türkei, allen voran Incirlik in Südostanatolien, weiterhin hohe Priorität für ihre Versorgungsflüge in den Irak und nach Afghanistan. Auch die Zusammenarbeit im Rüstungssektor wurde verstärkt, indem im April 2005 ein bilaterales Abkommen im Volumen von 1,1 Milliarden US-Dollar zur Modernisierung des türkischen Militärs beschlossen wurde.

Hinsichtlich der türkisch-israelischen Beziehungen lässt sich ein ähnliches Bild zeichnen. Die Türkei sieht sich weiterhin als Verbündeter und Freund Israels. Voraussichtlich wird der Ton Ankaras milder werden, sobald Israel von seiner unilateralen Politik gegenüber den Palästinensern abweicht und zum Friedensprozess zurückkehrt. Verbündete Israels finden sich nach wie vor unter den militärischen und wirtschaftlichen Eliten der Türkei, welche trotz der diplomatischen Spannungen für ein enges Verhältnis mit Tel Aviv eintreten. Die Militärkooperation, der wichtigste Sektor im bilateralen Verhältnis, ging unvermindert im Rahmen der Modernisierung der türkischen Armee weiter. Ferner betonte Premierminister Erdo?an während seines Besuchs in Israel im Mai 2005 die Notwendigkeit, gemeinsam gegen den Terrorismus vorzugehen und die geheimdienstliche Zusammenarbeit fortzusetzen. Auch wenn die bilateralen Beziehungen augenscheinlich keinen Bündnischarakter wie in den neunziger Jahren haben, zielt die pragmatische Außenwirtschaftspolitik der AKP weiterhin auf einen regen Austausch in wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht sowie im Energiesektor.

Eines der wichtigen Ausgangsmotive des türkisch-israelischen Bündnisses in den neunziger Jahren war der Wunsch Israels nach regionaler Integration und Annäherung an die islamische Welt. Hier wurde unter Vermittlung der Türkei im September 2005 ein großer Erfolg für Tel Aviv erzielt. Die Öffentlichkeit wurde durch das gemeinsame Posieren des israelischen Außenministers Silvan Shalom und des pakistanischen Außenministers Hursit Mahmud Kasuri in Istanbul überrascht. Die Rolle Ankaras zeigte sich darin, dass das Treffen zum einen in der Türkei und zum anderen unter maßgeblicher türkischer Vermittlung zustande kam. Es war insofern ein Meilenstein in den Beziehungen zwischen Israel und der islamischen Welt, als Pakistan, die "einzige islamische Atommacht", jahrzehntelang gegen Israel Position bezogen hatte. Hinzu kommt, dass Pakistan als Nachbarstaat des Iran in der Sicherheitsstrategie Israels - Einkreisung der feindlichen Staaten durch einen äußeren Ring an befreundeten Staaten - im Hinblick auf das gespannte Verhältnis zwischen Tel Aviv und Teheran ein strategischer Partner ist. Allerdings darf auch hier nicht vernachlässigt werden, dass für Pakistan zweifelsohne die durch den Ausbau der US-Präsenz in Zentralasien veränderten regionalen Parameter ein brisanter Faktor für die Annäherung an Israel waren.

Daher versicherte General Musharraf nach dem Treffen in Istanbul angesichts des Drucks der eigenen Öffentlichkeit und anderer islamischer Staaten, dass damit keine Aufnahme von diplomatischen Beziehungen mit Israel verbunden sei. Es wurde nicht viel über den Inhalt der bilateralen Gespräche bekannt, jedoch kann davon ausgegangen werden, dass unter anderem über Rüstungsgeschäfte und eine Kooperation im Kampf gegen den Terrorismus gesprochen wurde. Weitere Bedeutung bekommt das Treffen angesichts der Pläne, unter der Ägide türkischer Botschaften israelische "Vertretungen" in islamischen Staaten zu eröffnen. Pakistan gilt als erster Anwärter dieser Regelung. Vor diesem Hintergrund muss das Treffen zwischen Israel und Pakistan als wichtiges Signal in den Beziehungen zwischen Israel und der islamischen Welt, aber auch zwischen der Türkei und Israel gewertet werden.

Wie eingangs erwähnt, beruht der zweite Pfeiler der geostrategischen Rolle der Türkei - neben der politischen Brückenfunktion - auf dem Ausbau des Landes zur geografischen Energiebrücke zwischen Ost und West und konzentriert sich auf die Region des Kaspischen Beckens. Dieses Ziel wurde bereits seit den neunziger Jahren verfolgt. In den letzten Jahren gab es konkrete Fortschritte im Ausbau der Transportwege, die den Status als geografische Energiebrücke festigen und damit eine regionale Führungsrolle Ankaras unterstreichen.

Das Pipeline-Netz zur Energiebrücke

Im Mittelpunkt der türkischen Zentralasien- und Kaukasuspolitik der neunziger Jahre stand das Interesse an der Stabilisierung und Transformation der Turkvölker; hinzu kam ab dem 11. September 2001 auch die Bekämpfung des Terrorismus. Der realpolitisch wichtigste Faktor für das türkische Interesse waren allerdings die Energiereserven im Kaspischen Becken. Diese sind einerseits für den Eigenbedarf wichtig, da die Türkei aufgrund ihrer schnell wachsenden Wirtschaft ähnlich wie China und Indien auch in den kommenden Jahrzehnten einen enormen Bedarf an diesen Rohstoffen entwickeln wird. Andererseits gingen Analysten davon aus, dass die Richtung der Transportrouten die Geopolitik der Region mitbestimmen würde, weil sie keinen eigenen Zugang zu den Weltmeeren und damit Weltmärkten hat. Angesichts der Spekulationen, dass Russland, China und Iran in dieser strategisch wichtigen Region Einfluss suchen würden, ergab sich auch für die westliche Staatengemeinschaft - und allen voran für die USA - ein besonderer Handlungsbedarf. Da die ökonomisch günstigeren Transportoptionen durch Iran aufgrund politischer Erwägungen von Washington vehement abgelehnt wurden und werden, entwickelte sich die Türkei zur bevorzugten Alternative. Aus Sicht Europas erhöht sich die strategische Bedeutung Ankaras für den eigenen Energiemarkt zusätzlich, da es seine Rohstoffzufuhr diversifizieren möchte, um unabhängiger vom Nahen Osten zu werden. Darüber hinaus ergeben sich neue Kontrollmechanismen über den Erdöl- und Erdgasfluss und lukrative Transitkosten.

In der Ausgestaltung entstand seit Ende der neunziger Jahre ein Pipeline-Geflecht, das die Türkei in Zukunft zu einer wichtigen Energiedrehscheibe für den Westen machen wird. Die Wegmarken wurden bereits mit der Eröffnung des "Jahrhundertprojekts" Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline im Mai 2005 und der Blue Stream-Pipeline im September 2005 gesetzt. Das Abkommen zur ersteren wurde 1999 unter der Schirmherrschaft des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton von Aserbaidschan, Georgien und der Türkei unterzeichnet. Die 1 760 km lange Pipeline von Baku via Tiflis nach Ceyhan ist die einzige Route vom Kaspischen Becken zum Mittelmeer und hat Anschlussmöglichkeiten an den europäischen Markt. Allerdings war sie besonders kostenaufwändig (die Baukosten betrugen rund 2,5 Milliarden Euro). Daher wird der strategischen Bedeutung erst dann ein finanzieller Gewinn beiwohnen, wenn sich auch andere Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres dem gelegten Pipeline-Netz anschließen. Besonders wichtig ist der Anschluss Kasachstans, das unter den Anrainerstaaten über die größten Ressourcen verfügt und so zur maximalen Auslastung der Pipeline beitragen würde. Bis vor wenigen Jahren war nicht auszumachen, ob Astana sich dem US-favorisierten Projekt anschließen würde, da es freundliche Beziehungen zu Moskau pflegte. Allerdings suchte auch Kasachstan nach einer Diversifizierung seiner Transportwege, um nicht von Russland abhängig zu werden. Diese Überlegungen führten nach dreijährigen Verhandlungen im Mai 2005 zum Abkommen zwischen Aserbaidschan und Kasachstan über den Bau einer Transkaspischen Pipeline, die vom kasachischen Aktau nach Baku führen und dort an die Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline angeschlossen wird.

Obwohl bereits seit Dezember 2002 in Betrieb, wurde die Erdgas-Pipeline Blue Stream erst im November 2005 in Samsun offiziell eröffnet. In Kooperation mit Italien bauten Russland und die Türkei gegen den Widerstand der USA eine Unterwasserleitung durch das Schwarze Meer - vom russischen Novorossisk zur türkischen Stadt Samsun. Von dort führt eine Binnenroute weiter südöstlich nach Ceyhan. Das Besondere an dieser Pipeline ist, dass russisches Erdgas erstmals ohne Zwischenstopp in die Türkei fließt. Für Russland bietet sich dadurch die Möglichkeit, verstärkt nach Südosteuropa und Israel zu exportieren, und die Türkei kann dadurch ihre überregionale Rolle stärken. Dieses Pipeline-Geflecht wird durch ein weiteres Großprojekt, das Nabucco-Projekt, ergänzt, dessen Route von der Türkei über Bulgarien, Rumänien und Ungarn nach Österreich führen soll. Die Machbarkeitsstudien zu diesem Vorhaben wurden bereits erstellt; es wird voraussichtlich bis 2010 realisiert.

Neue Chancen?

Geopolitische Lage und Identität der Türkei begünstigen ihre Rolle als Vermittler zwischen der arabisch-islamischen und der westlichen Staatengemeinschaft sowie als Energiebrücke zwischen den Weltmärkten, insbesondere Europas, und der Kaspischen Region. Dadurch erhöht sich der internationale Handlungsspielraum der prowestlichen Türkei und eröffnet die Möglichkeit, den zentralasiatischen Raum zu ordnen und zu stabilisieren. In den neunziger Jahren war die Wahrnehmung dieser Aufgaben durch die feindliche Türkei-Perzeption der Nachbarstaaten nur eingeschränkt möglich. Doch durch den Wandel zur friedens- und kooperationsorientierten Außenpolitik und die veränderten regionalen Parameter infolge des Irakkriegs 2003 ergaben sich für die Türkei neue Optionen. Die Annäherung an die Nachbarn Syrien und Iran führte lediglich oberflächlich betrachtet zu einer Verschlechterung des Verhältnisses zu den USA und Israel.

Realpolitisch bleiben die Türkei, die USA und Israel aneinander gebunden. Denn zur Stabilisierung Vorderasiens benötigt Washington dringend die Hilfe der Regionalstaaten. Daher bietet sich hier die Chance, an den politischen Kooperationsansätzen der Irak-Kontaktgruppe anzuknüpfen und sie zusammen mit anderen einflussreichen Akteuren in der Region zu einem vertrauensbildenden und beratenden Gremium auszubauen; damit wäre nicht nur ein sicherheitspolitischer Koordinationsmechanismus, sondern auch eine Kontrollinstanz geschaffen. In diesem Rahmen könnte auch die Türkei ihre viel beschworene geostrategische Rolle als Energiebrücke und politischer Mittler zwischen Ost und West effektiv weiterspielen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. So der türkische Energieminister Hilmi Güler bei der offiziellen Eröffnung der Blue Stream-Pipeline unter Anwesenheit von Recep Tayyip Erdo?an, Silvio Berlusconi und Wladimir Putin, zit. in: Le Soir vom 18.11. 2005, S. 25.

  2. Vgl. The policy of a state lies on its geography, zit. in:Reynolds B. Peele, The Importance of Maritime Chokepoints, in: Parameters, (Sommer 1997), S. 66.

  3. Vgl. Geoffrey Kemp/Robert E. Harkavy, Strategic Geography and the Changing Middle East, Washington, D. C. 1997.

  4. Vgl. Rainer Freitag-Wirminghaus, Zentralasien und der Kaukasus nach dem 11. September: Geopolitische Interessen und der Kampf gegen den Terrorismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), (2002) 8, S. 3.

  5. Vgl. Volker Perthes, Greater Middle East. Geopolitische Grundlinien im Nahen und Mittleren Osten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2004) 6, S. 683; Ulrike Guérot/Andrea Witt, Europas neue Geostrategie, in: APuZ, (2004) 17, S. 6 - 12.

  6. Matthias Dembinski, Bedingt handlungsfähig. Eine Studie zur Türkeipolitik der Europäischen Union, HSFK-Report 5/2001, S. 15.

  7. Konzipiert wurde diese Doktrin in erster Linie vom außenpolitischen Berater des türkischen Premierministers Erdo?an und des Außenministers Gül, Ahmet Davuto?lu; vgl. Ahmet Davuto?lu, Stratejik Derinlik (Strategische Tiefe), Istanbul 2002.

  8. Vgl. Günter Seufert, Vom Außenposten des Westens zum regionalen Akteur. Das neue Selbstbewusstsein der Türkei, in: Das Parlament vom 8. 8. 2005.

  9. Aylin Seker Görener, Turkey's Relations with the Divided West: Changing Parameters, in: Turkish Policy Quartely, 4 (2005) 1, http://www.turkishpolicy. com/default.asp ? show=spr _ 2005 _ Gorener (26.7. 2005).

  10. Özden Zeynep Oktav, Changing Security Perceptions in Turkish-Iranian Relations, in: Perceptions, IX (Juni-August 2004) 2, S. 115.

  11. Vgl. Bülent Aras, Turkey and the Greater Middle East, Istanbul 2004, S. 43.

  12. Vgl. G. Seufert (Anm. 8).

  13. US-Präsident George W. Bush benannte in seiner Rede zur Lage der Nation am 29. 1. 2002 u.a. Syrien und den Iran als Teil der "Achse des Bösen". Vgl. Text der Rede http://www.whitehouse.gov/news/releases/2002/01/20020129 - 11.html (23. 11. 2005).

  14. G. Seufert (Anm. 8); vgl. Ö. Z. Oktav (Anm. 10), S. 103.

  15. Die Tageszeitung (taz) vom 22. 12. 2004, S. 10.

  16. Vgl. Simbal A. Khan, Iran's Relations with Central Asia - A strategic analysis, in: Perceptions, IX (März-Mai 2004) 1, S. 57.

  17. Anat Lapidot-Firilla, Turkey's Search for a "Third Option" and its Impact on Relations with the U.S. and Israel, in: Turkish Policy Quartely, 4 (Frühling 2005) 1, http://www.turkishpolicy.com/default.asp?show=spr _ 2005_Lapidot (28. 7. 2005).

  18. V. Perthes (Anm. 5), S. 694.

  19. "Sam'i ikna edin" (Überzeugt Damaskus) in Zaman vom 16.3. 2005.

  20. Die Istanbul-Erklärung der NATO ist abrufbar unter: http://www.nato.int/docu/pr/2004/p04-097e. htm (23.11. 2005).

  21. Das lässt sich daraus schließen, dass Pakistan eine Modernisierung seines Militärs anstrebt, wobei es Interesse an amerikanischen Rüstungsgütern bekundete. Die USA verlangen als Voraussetzung eine moderate Positionierung gegenüber Israel. Auch gilt Pakistan im Kampf gegen den internationalen Terrorismus als wichtige Drehscheibe. Daher würde die Kooperation mit Islamabad Israel wichtige geheimdienstliche Informationen liefern.

  22. Detaillierte Informationen zu den Pipeline-Projekten finden sich auf der Homepage des staatseigenen Unternehmens BOTAS, das auf türkischer Seite für die Realisierung der Projekte verantwortlich ist: http://www.botas.gov.tr/eng/projects/projects.asp (24.11. 2005).

  23. Vgl. V. Perthes (Anm. 5), S. 685.

M. A., geb. 1979; Promotionsstudiengang in Politische Wissenschaften an der Universität Bonn.
E-Mail: E-Mail Link: Asiyeoeztuerk@hotmail.com