Einleitung
In der geopolitischen Standortbestimmung für die neunziger Jahre ließe sich die türkische Außenpolitik als eine sicherheitsbetonte Außenpolitik im Fahrwasser Washingtons charakterisieren - mit dem klaren Wunsch nach Integration in die westliche Welt. Die islamisch-konservative AKP-Regierung vollzog einen außenpolitischen Strategiewechsel, der vor allem die benachbarten Staaten tangierte und dem Land neue Handlungsoptionen in den internationalen Beziehungen eröffnete.
Die Security first-Politik wurde durch eine friedens- und kompromissorientierte, unabhängigere Außenpolitik nach dem Prinzip "Frieden durch Handel" abgelöst. Durch ein vielfältiges regionales Beziehungsgeflecht werden wirtschaftliche Kooperation und diplomatische Konfliktlösung angestrebt. Diese Politik basiert auf dem Verständnis der Türkei als Brücke zwischen der westlichen und der arabisch-islamischen Welt, der demnach eine Modell- und Vorbildfunktion zukommt. Ökonomisch und strategisch wird die Türkei darüber hinaus als Energiebrücke zwischen Ost und West wahrgenommen. Dementsprechend könnte die Türkei zum Energiekorridor für den Transport der Rohstoffe aus dem Kaspischen Raum nach Europa werden. Erste Meilensteine im Ausbau der türkischen Hafenstadt Ceyhan an der Mittelmeerküste zu einem "Rotterdam des Nahen Ostens"
Im Folgenden soll nicht die türkische Außenpolitik der letzten Jahre dargestellt, sondern lediglich die Beziehung zwischen regionalen Entwicklungen und der geostrategischen Rolle der Türkei in ihrer Nachbarschaft untersucht werden. Frei nach Napoleon Bonaparte wird das Zusammenspiel von Geografie und Identität im neuen außenpolitischen Konzept Ankaras besonders hervorgehoben.
Die geopolitische Lage der Türkei
Die Türkei liegt an der Schnittstelle von Nahem Osten, Kaukasus und Südosteuropa. Durch diese geografisch privilegierte Lage kontrolliert sie den westlichen Zugang zu dem als strategische Energieellipse` definierten Raum, der im Osten von Afghanistan und Zentralasien begrenzt wird und dessen Hauptscheitel das Kaspische Meer und der Persische Golf sind.
Die globale Aufmerksamkeit verstärkte sich nach dem Irakkrieg 2003, der als Wendepunkt des regionalen Sicherheits- und Stabilitätssystems gilt. Angesichts der Bedeutung der Region für die Weltwirtschaft und ihrer chronischen Instabilität kann davon ausgegangen werden, dass sie auch in den kommenden Dekaden im Mittelpunkt europäischer und amerikanischer Ordnungsbemühungen stehen wird.
Zusammengefasst heißt das, dass die geostrategische Rolle der Türkei durch ihr Einflusspotenzial auf die Nachbarregionen bestimmt wird und ihren Ausdruck findet "in den Bildern (...) als Brücke oder Bindeglied zur nahöstlichen, kaukasischen und zentralasiatischen Welt (...) bzw. der Barriere gegen Gefahren, die aus diesen Regionen drohen könnten"
"Strategische Tiefe" als neues außenpolitisches Konzept
Mit dem Amtsantritt der AKP-Regierung kam es zur neuen außenpolitischen Doktrin der "strategischen Tiefe".
Der Anspruch auf die aktive regionale Führung ist insofern ein Novum, als die Türkei trotz ihrer militärischen Stärke und Stabilität nie Eckpfeiler sicherheitspolitischer Strategien für Vorderasien war. Geschuldet war dies zum einen dem historischen Erbe, zum anderen den bilateralen Streitigkeiten mit Syrien, Irak und Iran. Auch förderte die Allianzbildung mit Israel im Laufe der neunziger Jahre nicht das Vertrauen bei den arabischen Nachbarn und dem Iran. Die Türkei galt als fügsamer Vasall des Westens und "westoxicated"
Vermittlerrolle in Vorderasien
Die dramatischen Veränderungen im Nahen Osten durch den Irakkrieg 2003 schufen das geeignete Klima für eine Annäherung zwischen der Türkei, Syrien und Iran im Rahmen der Irak-Kontaktgruppe, die sich aus insgesamt sechs Anrainerstaaten des Irak zusammensetzt. Dazu kam es, weil alle drei Staaten als direkte Nachbarn des Irak dasselbe Interesse verfolgten: nämlich die Vermeidung des territorialen Zerfalls und die damit verbundene Gründung eines unabhängigen kurdischen Staates. Da in allen drei Staaten kurdische Minderheiten leben, rechneten sie in diesem Fall mit inneren Unruhen und einer Destabilisierung ihrer eigenen Grenzen. Darüber hinaus wurden Syrien und Iran insbesondere aufgrund des auf beiden Staaten lastenden US-amerikanischen Drucks zur Suche nach regionalen Partnern und damit zur Neupositionierung gegenüber der Türkei gedrängt.
Die sicherheitspolitischen Konsultationen in der Irak-Kontaktgruppe begünstigten schließlich den Ausbau des Dialogs auf politischer und wirtschaftlicher Ebene. Für die handelsorientierte Außenpolitik der AKP-Regierung bot sich eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Syrien an, besonders, weil sich im Süden der Türkei - in unmittelbarer Nähe zur syrischen Grenze - die wirtschaftlichen Strukturen sehr schnell entwickelten. Das Ende Dezember 2004 geschlossene bilaterale Freihandelsabkommen zwischen der Türkei und Syrien gilt Damaskus als "Einfallstor zur EU" und soll nach dem Wunsch Ankaras auf weitere Nachbarstaaten ausgedehnt werden.
Die ungewohnte Annäherung an Syrien und Iran hatte für Ankara jedoch Grenzen. Das durch das März-Debakel 2003 ohnehin gespannte Verhältnis zu den USA und Israel sollte nicht unnötig strapaziert werden - und hätte letzten Endes auch die angestrebte Mittlerfunktion zwischen Israel, Syrien und Iran zur Chimäre degradieren können. Daher versuchte die Türkei bei den Koordinationstreffen der Irak-Kontaktgruppe stets, eine Allianzbildung zu vermeiden. Aus den gleichen Gründen wurde der für September 2003 geplante Besuch des Premierministers Erdo?an in Teheran abgesagt. Doch welche Auswirkungen hatte die türkisch-syrisch-iranische Annäherung tatsächlich auf die Allianz Ankaras mit Washington und Tel Aviv?
Auswirkungen auf die Beziehungen zu den USA und Israel
"What was achieved by Turgut Özal in the first Iraqi War is now being lost by Tayyip Erdo?an in the second."
Die Interessen der USA und der Türkei überschneiden sich in ihrem Wunsch nach Stabilität im Irak. Die AKP-Regierung ist sich trotz ihres neuen Selbstbewusstseins im Klaren darüber, dass die USA im instabilen regionalen wie auch internationalen System der alleinige Hegemon sind. Sie halten das "Damoklesschwert" über die Türkei, da Washington als einzige Macht den Nordirak, in dem die kurdische PKK/Kadek wieder Bewegungsfreiheit genießt, kontrollieren kann. Auch die US-Administration steht innenpolitisch - im Hinblick auf die Kongresswahlen 2006 - unter erheblichem Druck, stabile Verhältnisse im Irak zu schaffen, um die immensen Besatzungskosten zu senken und einen Zeitplan für den Abzug der eigenen Truppen vorzulegen. Zur Stabilisierung des Landes benötigen sie allerdings die Unterstützung Ankaras, Teherans und Damaskus'. Denn nur, wenn die Nachbarstaaten ihre Interessen gewahrt wissen, "wird man sie zu Anteilseignern an der Stabilisierung des Irak und damit an einer friedlichen Neugestaltung des Mittleren Ostens machen können".
Das aktive Streben der türkischen Außenpolitik, Modellstaat für die arabisch-islamischen Staaten zu werden, kommt den USA und der im Rahmen ihrer neuen Demokratisierungspolitik 2003 ins Leben gerufenen Greater Middle East-Initiative entgegen. Sie wurde in Kooperation mit den europäischen Partnern zur Broader Middle East- und North Africa-Initiative umformuliert und während des NATO-Gipfels 2004 in Istanbul als Brückenschlag zu der islamischen Welt deklariert.
In gleichem Maße konnte die Kooperation auf militärstrategischer Ebene ihren Stellenwert in den bilateralen Beziehungen bewahren: Die Zusammenarbeit beider Staaten im Rahmen der NATO-Mitgliedschaft wurde ohne Abstriche in Afghanistan weitergeführt, und die Türkei übernahm dort von Februar bis August 2005 zum zweiten Mal die Führung der Internationalen Sicherheitsbeistandstruppe (ISAF). Ebenso weitgehende und kompetente Unterstützung bot sie bei den Partnership-for-Peace-Programmen der NATO mit kaukasischen und zentralasiatischen Staaten. Für Washington genießen die Militärbasen in der Türkei, allen voran Incirlik in Südostanatolien, weiterhin hohe Priorität für ihre Versorgungsflüge in den Irak und nach Afghanistan. Auch die Zusammenarbeit im Rüstungssektor wurde verstärkt, indem im April 2005 ein bilaterales Abkommen im Volumen von 1,1 Milliarden US-Dollar zur Modernisierung des türkischen Militärs beschlossen wurde.
Hinsichtlich der türkisch-israelischen Beziehungen lässt sich ein ähnliches Bild zeichnen. Die Türkei sieht sich weiterhin als Verbündeter und Freund Israels. Voraussichtlich wird der Ton Ankaras milder werden, sobald Israel von seiner unilateralen Politik gegenüber den Palästinensern abweicht und zum Friedensprozess zurückkehrt. Verbündete Israels finden sich nach wie vor unter den militärischen und wirtschaftlichen Eliten der Türkei, welche trotz der diplomatischen Spannungen für ein enges Verhältnis mit Tel Aviv eintreten. Die Militärkooperation, der wichtigste Sektor im bilateralen Verhältnis, ging unvermindert im Rahmen der Modernisierung der türkischen Armee weiter. Ferner betonte Premierminister Erdo?an während seines Besuchs in Israel im Mai 2005 die Notwendigkeit, gemeinsam gegen den Terrorismus vorzugehen und die geheimdienstliche Zusammenarbeit fortzusetzen. Auch wenn die bilateralen Beziehungen augenscheinlich keinen Bündnischarakter wie in den neunziger Jahren haben, zielt die pragmatische Außenwirtschaftspolitik der AKP weiterhin auf einen regen Austausch in wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht sowie im Energiesektor.
Eines der wichtigen Ausgangsmotive des türkisch-israelischen Bündnisses in den neunziger Jahren war der Wunsch Israels nach regionaler Integration und Annäherung an die islamische Welt. Hier wurde unter Vermittlung der Türkei im September 2005 ein großer Erfolg für Tel Aviv erzielt. Die Öffentlichkeit wurde durch das gemeinsame Posieren des israelischen Außenministers Silvan Shalom und des pakistanischen Außenministers Hursit Mahmud Kasuri in Istanbul überrascht. Die Rolle Ankaras zeigte sich darin, dass das Treffen zum einen in der Türkei und zum anderen unter maßgeblicher türkischer Vermittlung zustande kam. Es war insofern ein Meilenstein in den Beziehungen zwischen Israel und der islamischen Welt, als Pakistan, die "einzige islamische Atommacht", jahrzehntelang gegen Israel Position bezogen hatte. Hinzu kommt, dass Pakistan als Nachbarstaat des Iran in der Sicherheitsstrategie Israels - Einkreisung der feindlichen Staaten durch einen äußeren Ring an befreundeten Staaten - im Hinblick auf das gespannte Verhältnis zwischen Tel Aviv und Teheran ein strategischer Partner ist. Allerdings darf auch hier nicht vernachlässigt werden, dass für Pakistan zweifelsohne die durch den Ausbau der US-Präsenz in Zentralasien veränderten regionalen Parameter ein brisanter Faktor für die Annäherung an Israel waren.
Daher versicherte General Musharraf nach dem Treffen in Istanbul angesichts des Drucks der eigenen Öffentlichkeit und anderer islamischer Staaten, dass damit keine Aufnahme von diplomatischen Beziehungen mit Israel verbunden sei. Es wurde nicht viel über den Inhalt der bilateralen Gespräche bekannt, jedoch kann davon ausgegangen werden, dass unter anderem über Rüstungsgeschäfte und eine Kooperation im Kampf gegen den Terrorismus gesprochen wurde.
Wie eingangs erwähnt, beruht der zweite Pfeiler der geostrategischen Rolle der Türkei - neben der politischen Brückenfunktion - auf dem Ausbau des Landes zur geografischen Energiebrücke zwischen Ost und West und konzentriert sich auf die Region des Kaspischen Beckens. Dieses Ziel wurde bereits seit den neunziger Jahren verfolgt. In den letzten Jahren gab es konkrete Fortschritte im Ausbau der Transportwege, die den Status als geografische Energiebrücke festigen und damit eine regionale Führungsrolle Ankaras unterstreichen.
Das Pipeline-Netz zur Energiebrücke
Im Mittelpunkt der türkischen Zentralasien- und Kaukasuspolitik der neunziger Jahre stand das Interesse an der Stabilisierung und Transformation der Turkvölker; hinzu kam ab dem 11. September 2001 auch die Bekämpfung des Terrorismus. Der realpolitisch wichtigste Faktor für das türkische Interesse waren allerdings die Energiereserven im Kaspischen Becken. Diese sind einerseits für den Eigenbedarf wichtig, da die Türkei aufgrund ihrer schnell wachsenden Wirtschaft ähnlich wie China und Indien auch in den kommenden Jahrzehnten einen enormen Bedarf an diesen Rohstoffen entwickeln wird. Andererseits gingen Analysten davon aus, dass die Richtung der Transportrouten die Geopolitik der Region mitbestimmen würde, weil sie keinen eigenen Zugang zu den Weltmeeren und damit Weltmärkten hat. Angesichts der Spekulationen, dass Russland, China und Iran in dieser strategisch wichtigen Region Einfluss suchen würden, ergab sich auch für die westliche Staatengemeinschaft - und allen voran für die USA - ein besonderer Handlungsbedarf. Da die ökonomisch günstigeren Transportoptionen durch Iran aufgrund politischer Erwägungen von Washington vehement abgelehnt wurden und werden, entwickelte sich die Türkei zur bevorzugten Alternative. Aus Sicht Europas erhöht sich die strategische Bedeutung Ankaras für den eigenen Energiemarkt zusätzlich, da es seine Rohstoffzufuhr diversifizieren möchte, um unabhängiger vom Nahen Osten zu werden. Darüber hinaus ergeben sich neue Kontrollmechanismen über den Erdöl- und Erdgasfluss und lukrative Transitkosten.
In der Ausgestaltung entstand seit Ende der neunziger Jahre ein Pipeline-Geflecht, das die Türkei in Zukunft zu einer wichtigen Energiedrehscheibe für den Westen machen wird.
Obwohl bereits seit Dezember 2002 in Betrieb, wurde die Erdgas-Pipeline Blue Stream erst im November 2005 in Samsun offiziell eröffnet. In Kooperation mit Italien bauten Russland und die Türkei gegen den Widerstand der USA eine Unterwasserleitung durch das Schwarze Meer - vom russischen Novorossisk zur türkischen Stadt Samsun. Von dort führt eine Binnenroute weiter südöstlich nach Ceyhan. Das Besondere an dieser Pipeline ist, dass russisches Erdgas erstmals ohne Zwischenstopp in die Türkei fließt. Für Russland bietet sich dadurch die Möglichkeit, verstärkt nach Südosteuropa und Israel zu exportieren, und die Türkei kann dadurch ihre überregionale Rolle stärken. Dieses Pipeline-Geflecht wird durch ein weiteres Großprojekt, das Nabucco-Projekt, ergänzt, dessen Route von der Türkei über Bulgarien, Rumänien und Ungarn nach Österreich führen soll. Die Machbarkeitsstudien zu diesem Vorhaben wurden bereits erstellt; es wird voraussichtlich bis 2010 realisiert.
Neue Chancen?
Geopolitische Lage und Identität der Türkei begünstigen ihre Rolle als Vermittler zwischen der arabisch-islamischen und der westlichen Staatengemeinschaft sowie als Energiebrücke zwischen den Weltmärkten, insbesondere Europas, und der Kaspischen Region. Dadurch erhöht sich der internationale Handlungsspielraum der prowestlichen Türkei und eröffnet die Möglichkeit, den zentralasiatischen Raum zu ordnen und zu stabilisieren. In den neunziger Jahren war die Wahrnehmung dieser Aufgaben durch die feindliche Türkei-Perzeption der Nachbarstaaten nur eingeschränkt möglich. Doch durch den Wandel zur friedens- und kooperationsorientierten Außenpolitik und die veränderten regionalen Parameter infolge des Irakkriegs 2003 ergaben sich für die Türkei neue Optionen. Die Annäherung an die Nachbarn Syrien und Iran führte lediglich oberflächlich betrachtet zu einer Verschlechterung des Verhältnisses zu den USA und Israel.
Realpolitisch bleiben die Türkei, die USA und Israel aneinander gebunden. Denn zur Stabilisierung Vorderasiens benötigt Washington dringend die Hilfe der Regionalstaaten. Daher bietet sich hier die Chance, an den politischen Kooperationsansätzen der Irak-Kontaktgruppe anzuknüpfen und sie zusammen mit anderen einflussreichen Akteuren in der Region zu einem vertrauensbildenden und beratenden Gremium auszubauen; damit wäre nicht nur ein sicherheitspolitischer Koordinationsmechanismus, sondern auch eine Kontrollinstanz geschaffen.