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Politische Skandale in Deutschland und Großbritannien | Inszenierte Politik | bpb.de

Inszenierte Politik Editorial Politik als Fiktion Personalisiert und emotional: Strategien des modernen Wahlkampfes Politiker als Prominente - die Sicht der Zuschauer Politische Skandale in Deutschland und Großbritannien Politik und Inszenierung in der Römischen Republik

Politische Skandale in Deutschland und Großbritannien

Frank Bösch

/ 17 Minuten zu lesen

Skandale beeinflussen seit jeher das Image von Politikern und der Politik insgesamt. Der historische Vergleich zwischen Deutschland und Großbritannien zeigt, wie sehr die tatsächlichen Auswirkungen eines Skandals von den jeweils geltenden gesellschaftlichen Normen abhängen.

Einleitung

Skandale bestimmen in hohem Maße das Image von Politikern und Politikerinnen sowie der Politik insgesamt. Sie sorgen für kollektive Empörung und prägen die Vorstellungen über den Missbrauch von öffentlichen Ämtern. Dies geschieht auf unterschiedlichen Feldern. Skandale um Parteispenden, Abfindungen oder privat genutzte Bonusmeilen suggerieren die Korruption von Politikern und ihre Bereicherung an öffentlichen Mitteln. Skandale, die Politiker unwahrer Behauptungen überführen, verstärken das Bild der "lügenden Politikerkaste".

Skandale um ethisch-moralische Normverletzungen erwecken gar den Eindruck, Politiker würden generell verantwortungslos handeln. Und insbesondere in der angelsächsischen Politik sorgen regelmäßige Sexskandale dafür, dass Politikern ein promiskuitiver Geschlechtsverkehr nachgesagt wird. Einzelfälle, deren Wahrheitsgehalt oft kaum überprüfbar ist, werden dabei generalisiert.

Erklärt werden diese Skandale zum einen mit kulturpessimistischen Deutungen, die einen moralischen Verfall der Politiker annehmen. Optimistische Erklärungen sehen in Skandalen dagegen das Ergebnis einer zunehmenden öffentlichen Kontrolle der Politik. Andere Studien deuten Skandale vor allem als Machtkämpfe um Vertrauen, denn dies sei im Medienzeitalter eine zentrale und mühsam aufgebaute Ressource von Politikern, die durch Skandale angefochten werde. Zudem gelten Skandale als ein Produkt der modernen Medienmacht. Vor allem die Zunahme des Boulevardjournalismus, der Bildmedien und ihre zunehmende Konkurrenz würden heutzutage zu überzogenen Vorwürfen führen.

Aus historischer Perspektive lassen sich solche aktualitätsbezogenen Einschätzungen relativieren. Tatsächlich sind Skandale so alt wie die öffentliche Kommunikation selbst. Schon in der Antike sorgten beispielsweise Korruptionsvorwürfe für eine Empörung, die sich als Skandal fassen lässt. Ähnlich alt ist bereits der Begriff scandalon, der bis zur Zeit der Aufklärung vor allem schwere religiöse Normbrüche bezeichnete. Ebenso wenig kann man von einer kontinuierlichen Zunahme der Skandale ausgehen. Vielmehr treten seit dem späten 18. Jahrhundert Skandale immer wieder wellenartig gehäuft auf. So kam es beispielsweise im späten 19. Jahrhundert, in den 1920er Jahren und nach 1960 in allen westlichen Demokratien zu zahlreichen Skandalen. Es gab offenbar gemeinsame politische, gesellschaftliche und mediale Entwicklungen, die das international zeitgleiche Auftreten der Skandale begünstigten.

Was ist ein Skandal?

Eine Beschäftigung mit der historischen Entwicklung von Skandalen erscheint in mehrfacher Hinsicht lohnenswert. Skandale verraten erstens einiges über die Normen, die in einer Gesellschaft jeweils galten. Was zu einer bestimmten Zeit unzulässig ist, führt zu einem anderen Zeitpunkt nicht zwangsläufig zum Skandal. Zweitens zeigen Skandale, in welchem Verhältnis die Medien, die Öffentlichkeit und die Politik zueinander stehen. Skandale lassen sich demnach als Kontrollsysteme der politischen Sphäre verstehen, die auch die Macht der Öffentlichkeit zeigen. Insofern setzen sie eine freie Öffentlichkeit und eine politische Konkurrenz voraus, in der Medien und Politik um Deutung ringen können. Drittens ermöglichen Skandale einen Vergleich zwischen den politischen Kulturen und Normen verschiedener Länder. Denn offensichtlich gelten auch in Demokratien unterschiedliche Wertesysteme, an die sich Politiker halten müssen oder gegen die sie jeweils verstoßen.

Großbritannien und Deutschland bieten sich als interessante Vergleichsfälle an, da die Entwicklung ihrer Demokratiebildung, Mediensysteme und Skandalkulturen offensichtlich anders verlief. Wie haben Skandale seit dem 19. Jahrhundert in beiden Ländern das Bild des Politikers geprägt? Welche historischen Entwicklungsphasen, nationalen Schwerpunkte und Verlaufsformen lassen sich bei den Skandalen ausmachen?

Wenn man Skandale genauer analysieren will, benötigt man zunächst eine brauchbare Definition des Gegenstandes. Sie zu finden, ist nicht ganz einfach. Denn durch die weit verbreitete, alltagssprachliche Verwendung des Wortes gelten Skandale quasi als Synonym für jede Art von Missstand. Vergleicht man die großen Skandale der letzten zweihundert Jahre miteinander, so erscheinen vor allem drei Bedingungen notwendig, um im analytischen Sinne von einem Skandal sprechen zu können: erstens ein Normbruch einer Person oder Institution, die für die Wahrung von Normen steht; zweitens die Aufdeckung des Normbruches; und drittens eine breite öffentliche Empörung darüber.

Eine korrupte Handlung, die heimlich bleibt, ist demnach noch kein Skandal. Dies gilt auch dann nicht, wenn eine Zeitung sich aufregt, die breitere Öffentlichkeit dies jedoch ignoriert. Wann eine breite Empörung vorliegt, lässt sich natürlich nicht immer trennscharf feststellen. Im "Idealfall" reicht sie über Parteigrenzen hinweg. Und gerade diese parteiübergreifende Empörung unterscheidet den Skandal von gewöhnlichen Kampagnen gegen den politischen Gegner.

Skandale um 1900

Ende des 19. Jahrhunderts traten in ganz Westeuropa, aber auch in den USA verstärkt Skandale auf. Ihre Wirkungsmacht, ihre Häufigkeit und ihr breites Themenspektrum standen den heutigen Skandalen in nichts nach. Gelegentlich übertrafen sie die derzeitigen Empörungen sogar. Der Anstieg der Skandale um 1900 lässt sich zunächst quantitativ belegen. Eine Volltextauswertung einer international ausgerichteten Qualitätszeitung wie der Times nach der Häufigkeit des Wortes "scandal" belegt dementsprechende Häufungen. Noch aussagekräftigere Belege erhält man allerdings, wenn man die Medien der letzten zweihundert Jahre qualitativ auf wirkungsmächtige Skandale untersucht.

Heute noch berühmte Fälle, wie die französische Dreyfus-Affäre oder der Oscar Wilde-Skandal, bildeten lediglich die Spitze des Eisberges. Bislang waren vor allem hohe Adlige von Skandalen betroffen, deren Lebensstil an den bürgerlichen Normen gemessen wurde. Im Unterschied insbesondere zum vorrevolutionären Frankreich geschah dies jedoch in Deutschland und Großbritannien vergleichsweise selten - etwa im Zuge der Queen-Caroline-Affair (1820) oder der Lola-Montez-Affäre von Ludwig II. (1847/48). Nun trafen die Skandale auch Parteipolitiker und prägten die Vorstellungen über sie.

So kam es beispielsweise zu diversen Skandalen um die Ehebrüche von Politikern. In Großbritannien empörte man sich über die Liebesaffäre des Irenführers Charles Stewart Parnell (1890) und des aufstrebenden Liberalen Charles Dilke (1886). In Deutschland trafen ähnliche Vorwürfe den antisemitischen Reichstagsabgeordneten Schack, den angehenden Außenminister Kiderlen-Waechter und Otto Hammann (1908), den Pressechef und Berater von Reichskanzler Bernhard von Bülow. Ebenso mussten sich Staatsrepräsentanten öffentlich gegen Homosexualitätsbeschuldigungen wehren. In Großbritannien traf dies etwa Vertreter der Dubliner Administration (1883), hohe adlige Freunde des Prince of Wales (1890) und einzelne Abgeordnete (1891), in Deutschland den Industriellen Friedrich Alfred Krupp (1902) und verschiedene Kaiserberater und Offiziere (1906/07).

Neben derartigen "Sexskandalen" entfalteten sich international beachtete Skandale um den Missbrauch von Amtsgewalt. So kam es zu breiten Empörungen über die Gewalt in den Kolonien, die "Kolonialhelden" wie Henry Morton Stanley (1889) und Carl Peters (1896) trafen, aber auch diverse deutsche Kolonial-Gouverneure und Kanzler. Auch die Monarchie verlor durch Skandale an Reputation. In Großbritannien musste sich der Prince of Wales wegen seiner Spielleidenschaft verspotten lassen, in Deutschland entwickelten sich zahlreiche Skandale um Wilhelm II., die auf seinen großspurigen öffentlichen Äußerungen basierten, wie etwa die Daily-Telegraph-Affäre (1908). Auch die Korruption wurde nun zu einem Thema, das eine breite öffentliche Empörung und damit Skandale auslösen konnte. So führte in Großbritannien bereits Anfang der 1880er Jahre die seit langem verbreitete Wahlbestechung zu Skandalen. Bis zum Ersten Weltkrieg nahmen auch die Fälle zu, in denen korrupte Beziehungen zwischen Politikern und Wirtschaftsunternehmen Skandale auslösten - etwa um Joseph Chamberlains Gewinne an südafrikanischen Unternehmen während des Burenkrieges oder den Profit des Premierministers Lloyd George an Marconi-Aktien. Ebenso musste sich in Deutschland die Regierung im Reichstag dafür verantworten, dass die Friedrich Krupp AG vertrauliche Information gegen kleine Gegenleistungen erhalten hatte.

Wie erklärt sich dieses vielfältige und internationale Aufkommen von Skandalen Ende des 19. Jahrhunderts? Erstens scheint dies aus der einsetzenden Medialisierung des Politischen zu resultieren. Denn genau in dieser Zeit etablierte sich in ganz Westeuropa eine auflagenstarke Massenpresse. Boulevardblätter und Generalanzeiger, Parteizeitungen und Illustrierte gewannen an Bedeutung und erfuhren insbesondere seit den 1880er Jahren einen steilen Anstieg ihrer Auflagenzahlen. Zweitens scheint das verstärkte Aufkommen der Skandale aus der Transformation der politischen Kultur hervorgegangen zu sein. Denn durch die Etablierung des Wahlrechtes kam es in ganz Westeuropa in diesen Jahrzehnten zu einer Fundamentalpolitisierung und schrittweisen Demokratisierung. Diese führte zu einer intensiveren Konkurrenz von Parteien und unterschiedlichen Weltdeutungsmustern, was Skandalisierungen begünstigte. Beide Entwicklungen standen zudem für die Entfaltung einer nationalen öffentlichen Kommunikation, die eine breite und wirkungsmächtige Empörung erst ermöglichte.

Verlaufsformen

Diese Hypothesen lassen sich am Ablauf der damaligen Skandale überprüfen. Dabei fällt zunächst auf, dass die auflagenstarken "Boulevardblätter" sie nur selten auslösten. Vielmehr waren es eher kleinere, dafür aber politisch orientierte Blätter (wie der Vorwärts, Die Zukunft, The Truth oder United Ireland), die entsprechende Vorwürfe lancierten. Zudem führten häufig Enthüllungen im Parlament zu den Skandalen. Insbesondere Politiker, die gleichzeitig als Journalisten arbeiteten, traten hierbei hervor. Insofern sind die Skandale zunächst eher als eine Form der politischen Profilierung zu erklären und weniger als ein Ergebnis des kommerziellen Journalismus. Dies belegt auch die Beobachtung, dass viele Skandale nicht mit Schlagzeilen einsetzten, sondern mit versteckten Andeutungen. Indem sie detailliertere Berichte androhten, beeinflussten die Skandalisierer den politischen Kurs und erpressten ihre politischen Ziele.

Die Skandalisierer entstammten zumeist den jeweils ausgegrenzten Oppositionsparteien. In Großbritannien wurden Skandale vielfach von der irischen Partei und vom radikalen Flügel der Liberalen angestoßen, in Deutschland von Sozialdemokraten, aber auch vom linken Flügel des Freisinns und der Zentrumspartei. Skandale waren damit vor allem eine neue Kommunikationstechnik der Opposition, um emotional eine breite öffentliche Aufmerksamkeit zu kanalisieren. Nicht allein die Massenmedien führten zur einer Neuinszenierung von Politik und Politiker-Images, sondern die Politiker selbst.

Die Etablierung des Skandals war zudem nur im geringen Maße das Ergebnis eines neuen, besonders investigativen Journalismus. Journalisten, die entsprechende Vorwürfe erhoben, stützten sich in der Regel auf Gerüchte. Vertrauliche Informationen wurden eher Politikern zugespielt und auch von Politikern lanciert. Detaillierte Informationen konnten die Journalisten vor allem bei den Gerichtsprozessen erhalten, die meistens im Zuge der Skandale geführt wurden. Gerade die Öffentlichkeit der Gerichtsverfahren und die Möglichkeit, über mehrere Zeitungsseiten die dortigen Aussagen zu rekapitulieren, waren damit eine weitere Voraussetzung für die Etablierung der Skandale. Die betroffenen Politiker und Regierungen versuchten dementsprechend mit allen Mitteln, Prozesse zu vermeiden oder einzudämmen.

Gefördert wurde die Wirkungsmacht der Skandale durch die breite Visualisierung der Politik, die sich damals zu etablieren begann. Zeitschriften, die gelegentlich Politikerbilder und -karikaturen druckten, waren zwar seit einigen Jahrzehnten verbreitet. Aber erst um die Jahrhundertwende enthielten auch die auflagenstarken Tageszeitungen regelmäßig Bilder, spöttische Karikaturen und nach 1900 auch zunehmend Fotos von Politikern. Die zahllosen Visualisierungen der Skandale verfestigten die Imaginationen über das "Fehlverhalten" der Politiker und der Staatsrepräsentanten. Hierzu zählten auch Bilder, die sie mit Frauen im Schlafzimmer oder bei homosexuellen Offerten zeigten.

Die Visualisierung verstärkte zudem die Dynamik der Skandale. Denn auf die abgedruckten Bilder meldeten sich jeweils zahlreiche Leser mit weiteren belastenden Beobachtungen, die sie angeblich gemacht hatten. Das Interesse am Privatleben der Politiker wurde dadurch gestärkt, dass diese um 1900 ihre Privatbereiche selbst in den Medien inszenierten. Reichskanzler und Minister ließen sich im Kreise ihrer Familie fotografieren und berichteten über ihren Alltag. Insbesondere Reichskanzler Bülow sei hier als ein früher Medienkanzler genannt, der sich bei seinen Urlauben auf Norderney gerne von Journalisten ablichten ließ, hierüber Artikel lancierte oder Bildberichte über seine Hunde verbreitete. In dem Augenblick, in dem das Private politischer wurde, wurde auch das Politische privater.

Die Folgen der Skandale zeigen die neue Wirkungsmacht der öffentlichen Meinung. Skandale sorgten vielfach für den Rücktritt von Politikern und Staatsrepräsentanten. Dies war insbesondere im Kaiserreich bemerkenswert, da die Regierung noch nicht vom Parlament abhängig war. Zudem führten sie zu Diskussionen über Gesetzesreformen. Natürlich liegen für diese Zeit keine Meinungsumfragen vor, die die tatsächliche Wirkungsmacht der Skandale quantifizieren. Aber Stimmungs- und Polizeiberichte deuten zumindest an, dass sich die Medienberichte in einer entsprechenden Empörung im Alltag niederschlugen. An den Stammtischen in den Kneipen wurden die Fälle diskutiert und zum Anlass genommen, um generelle politische Meinungen auszutauschen.

Die Normen, die in den Skandalen ausgehandelt wurden, unterschieden sich teilweise in den westlichen Ländern. Auf diese Weise entstanden nationale Stereotype. Frankreich galt etwa spätestens nach dem Panama-Skandal der frühen 1890er Jahre als das Land der Korruption. "Panama" war deshalb auch in der deutschen und britischen Öffentlichkeit ein Schlagwort, mit dem man auf korrupte Zustände hinwies, die es angeblich nur in Frankreich gäbe. Deutschland erschien dagegen, was heute erstaunen mag, als das Land der Homosexualität, da hier mit dem Eulenburg/Moltke-Skandal der größte politische Homosexualitätsskandal stattfand. Großbritannien war hingegen schnell für Scheidungs- und Ehebruchskandale bekannt.

Dass in den Ländern unterschiedliche Typen von Skandalen aufkamen, hängt auch mit dem jeweiligen rechtlichen Rahmen zusammen. In Deutschland und Großbritannien kam es etwa zu zahlreichen Skandalen um Homosexualität, da diese mit besonders schweren Strafen geahndet wurde. In Frankreich oder Italien waren sie seltener, weil die strafrechtlichen Bestimmungen wesentlich toleranter waren. Ebenso gab es in Großbritannien viele Ehebruchskandale, weil das rückständige Scheidungsrecht ein Bekenntnis zum Ehebruch in einem öffentlichen Prozess verlangte.

Der rechtliche Rahmen korrespondierte zugleich mit den jeweiligen kulturellen Normen, die die Skandale prägten. In Großbritannien mussten die eines Ehebruchs beschuldigten Politiker bereits in den 1880er Jahren zurücktreten. In Deutschland konnten dagegen einige Politiker ihre Posten weiter behalten. Während in Deutschland ein starker säkularer Flügel in der Politik agierte, mussten in Großbritannien selbst die Liberalen auf kirchlich-moralische Normen Rücksicht nehmen. Denn sie wurden im hohen Maße von den Non-Konformisten unterstützt (also den nicht der anglikanischen Kirche angehörigen Protestanten), die besonders vehement für eine strenge Moral eintraten.

Gemeinsam war allen Skandalen, dass sie etwas aus der Sphäre des Geheimen öffentlich machten. Damit standen sie für den Anspruch auf absolute Transzendenz in der Politik. Die bislang geforderte öffentliche Teilhabe an staatlichen Entscheidungen wurde nun auf die Teilhabe am Lebenswandel des Politikers übertragen. Die Skandale kamen dabei genau in der Zeit auf, in der sich der Typus des professionellen Politikers entwickelte. In der Folge entstanden Normen, die die bürgerlichen Anforderungen an einen "idealen Politiker" konstruierten. Sie machten quasi warnend deutlich, dass er aufrichtig, treu, heterosexuell und ohne zu enge Verbindung zu Wirtschaftsunternehmen zu sein hatte.

Skandale bis 1945

Für die Zeit des Ersten Weltkrieges kann man nur bedingt von Skandalen sprechen. Durch die Einschränkung der Pressefreiheit waren die Voraussetzungen für eine öffentliche Empörung nicht mehr gegeben. Noch entscheidender dürfte gewesen sein, dass zur Wahrung der nationalen Einheit die Aufregung über entsprechende Normverstöße von Politikern nachließ. Das Empörungspotenzial richtete sich vielmehr gegen die Handlungen des Kriegsgegners.

In den zwanziger Jahren kam es dann jedoch wieder zu folgenreichen Skandalen. Durch die neue Stärke der "politischen Linken" waren es nun vor allem die Konservativen, die Skandale anstießen. Nachdem sich die Linke bisher in der Opposition durch ihren Anspruch auf moralische Überlegenheit profiliert hatte, besaß sie nun als Regierungspartei die nötige Fallhöhe, um selbst über Skandale zu stolpern. Der Vorwurf der Korruption und der Bereicherung stand dabei im Vordergrund. So stürzte in Großbritannien Premierminister Lloyd George 1922 über den sogenannten Honour-Skandal. Den Liberalen wurde hierbei vorgehalten, Ehrentitel an wenig ehrenwerte Personen vergeben zu haben, wenn diese im Gegenzug Geld an die Partei spendeten.

Ebenso thematisierten die bekanntesten Skandale der Weimarer Republik Korruption auf Seiten der Sozialdemokraten. Um Veruntreuung ging es sowohl bei dem Skandal um Julius Barmat (1925) als auch beim sogenannten Sklarek-Skandal (1929). Auffällig ist dabei, dass diese beiden größten deutschen Skandale der 1920er Jahre antisemitisch gefärbt waren. Sie verfestigten auf diese Weise das Zerrbild des "sozialistisch-jüdisch-korrupten Politikers".

Viele Beschuldigungen mündeten in der Weimarer Republik jedoch nicht in Skandale. Die Korruptionsvorwürfe der Rechten gegen Reichspräsident Ebert und Reichsminister Erzberger wirkten zwar im eigenen Lager, führten jedoch nur zum Teil zu einer breiteren Empörung. Auch wenn die Grenze zum Skandal stets schwer zu ziehen ist, handelte es sich hier eher um hetzerische Kampagnen, die keine hinreichenden Belege aufbrachten, um breitenwirksame Skandale auszulösen. Die politische Polarisierung in der Weimarer Republik minderte dabei generell das Potenzial für Skandale. Die radikalisierten Vorwürfe der äußersten Rechten und Linken gegen demokratische Politiker versandeten an den Parteigrenzen.

Insbesondere die Parteipresse der NSDAP profilierte sich am Ende der Weimarer Republik mit Skandalisierungen. Sie warf den Demokraten vor, korrupt zu sein. Umgekehrt versuchten auch die Demokraten und die Kommunisten, die NSDAP mit bewährten Skandalen zu diskreditieren. So berichteten sie ausführlich darüber, dass im Umfeld von Ernst Röhm und der SA-Führung Homosexualität verbreitet sei. Trotz der umfangreichen Presseberichte konnte dies jedoch weder die Stellung Röhms noch die der NSDAP insgesamt schwächen. Die Grenzen der Empörung waren vielmehr durch die politische Fragmentierung abgesteckt.

Ob man für die NS-Zeit und für die spätere DDR von Skandalen sprechen kann, ist umstritten. Da zur Empörung eine freie Öffentlichkeit nötig ist, kann man angesichts der Medienkontrolle und der eingeschränkten Meinungsfreiheit daran zweifeln. Vielmehr versuchten beide Diktaturen, durch Schauprozesse Empörung und Skandale künstlich herzustellen. So wurden insbesondere im ersten Jahr der NS-Diktatur viele demokratische Politiker wegen Korruptions- und Ehebruchsvorwürfen in solchen Prozessen gedemütigt. Von Skandalen ist in den Diktaturen vielleicht nur insoweit zu sprechen, als sich kollektive Empörungen über Missstände in alltäglichen Begegnungen (Kneipen, Warteschlangen u. ä.) verbreiten konnten.

Auffälligerweise blieben auch in den westlichen Demokratien im Zweiten Weltkrieg Skandale weitgehend aus. Wie bereits im Ersten Weltkrieg kanalisierte die nationale Loyalität das Empörungspotenzial gegen den Gegner. Auch in den Nachkriegsjahren kam es zu vergleichsweise wenigen Skandalen. Dies lässt sich mit einem gewissen Konsens der Wiederaufbaugesellschaften erklären. In der Bevölkerung und in den Medien verloren jene grundsätzlichen weltanschaulichen Auseinandersetzungen an Bedeutung, die Skandale förderten. Der Kalte Krieg dürfte zudem das Gefühl verstärkt haben, dass diskreditierende Enthüllungen das Ansehen des eigenen Landes zugunsten des gemeinsamen kommunistischen Feindes schmälern könne.

Skandale der jüngsten Zeitgeschichte

Um 1960 setzte eine erneute Skandalwelle ein. Diese ging wiederum mit einer Politisierung, Demokratisierung und Polarisierung der Gesellschaft einher. Sie entstand abermals parallel zur Etablierung eines neuen Massenmediums, des Fernsehens, das die Visualität des Politischen verstärkte. Bei diesen Skandalen zeigten sich die unterschiedlichen Skandalkulturen deutlicher als zuvor. In Großbritannien bildeten Sex-Skandale noch ausgeprägter jene Fälle, über die Politiker stürzten. Die Liebesaffäre von Verteidigungsminister John Profumo mit Christine Keeler (1963) und der Homosexuellenskandal um den liberalen Vorsitzenden Jeremy Thorpe (1976) bildeten dabei Prototypen für Skandale, die bis heute die britische Politik bestimmen.

Man kann dies mit der langen moralischen Nachwirkung der puritanischen Prägung und entsprechender Normen und Gesetze erklären. Ebenso dürfte die große Bedeutung von Boulevard-Zeitungen und der frühe Aufbau des kommerziellen Fernsehens diesen Trend verstärkt haben. Zudem wurde argumentiert, die Sex-Skandale würden einen "Ersatz" für die in Großbritannien kaum vorhandenen Korruptionsfälle bilden. Letztere gelten als selten, weil die Ausgaben für Wahlkämpfe generell begrenzt sind, Abgeordnete nur über eine eingeschränkte Macht verfügen und das Londoner Establishment sehr überschaubar ist.

In der Bundesrepublik spielten Sex-Skandale dagegen kaum eine Rolle. Dennoch versuchten auch hier die politischen Kontrahenten mit entsprechenden Enthüllungen Politiker zu stürzen. Während seit 1957 insbesondere über Franz Josef Strauß entsprechende Skandalisierungen "von links" lanciert wurden, gab es nach 1961 mehrfach entsprechende Enthüllungen "von rechts" über das Liebesleben von Willy Brandt. Die breitere Presse griff jedoch beides nicht auf. Gerade nach den Erfahrungen im Nationalsozialismus hatte sich in den deutschen Medien offensichtlich ein gewisser Konsens herausgebildet, dass bestimmte Enthüllungen als inakzeptabel gelten und die Grenzen des Privaten zu respektieren sind.

In Deutschland beruhten die Skandale seit den sechziger Jahren vor allem auf drei Formen des Normbruches: Korruption, Missbrauch von öffentlicher Macht und inadäquater Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Alle drei Formen des Skandals erlebten um 1960 eine erste Hochphase (wie die Spiegel-Affäre 1962 oder der Rücktritt von Theodor Oberländer 1960) und erfuhren seit den 1980er Jahren einen weiteren Bedeutungszuwachs.

Im internationalen Vergleich bilden zum einen die Skandale um den Umgang mit der NS-Vergangenheit eine deutsche Besonderheit. Dass sie seit den 1980er Jahren verstärkt aufkamen, belegt den zunehmend sensibleren Umgang mit der deutschen Geschichte. Die jüngeren Skandale offenbaren zudem die öffentlich akzeptierten Grenzen im Umgang mit der NS- und auch mit der DDR-Vergangenheit. Die verhandelten Normen unterscheiden sich dabei: Während Skandale um die DDR-Geschichte sich vor allem auf frühere Geheimdiensttätigkeiten bezogen, basierten die Skandale zur NS-Vergangenheit auf einem inadäquaten Umgang mit dem Erbe des Holocaust.

Zum anderen waren in Deutschland Skandale um Parteispenden in den letzten beiden Jahrzehnten besonders markant. Sie ergaben sich aus der starken gesellschaftlichen Stellung der deutschen Parteien und stehen zugleich für die Kritik hieran. Obwohl die Formen der Parteienfinanzierung bis in die siebziger Jahre wesentlich problematischer waren, kamen erst seit den achtziger Jahren verstärkt größere Spendenskandale auf. Dies zeigt erneut, dass nicht die Schwere eines Vergehens über das Aufkommen von Skandalen entscheidet. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob in der politischen Kultur ein Vergehen als Normbruch aufgefasst wird und dies für Empörung sorgt. Spätestens mit dem Flick-Skandal war in den achtziger Jahren diese Sensibilität erreicht.

Im Unterschied zu früher decken heute fast ausschließlich die Medien Skandale auf. Dennoch muss man weiterhin von einer engen Kooperation zwischen Medien und Parteien ausgehen, da letztere oft Material gegen den politischen Gegner sammeln und lancieren. Skandale lassen sich jedoch weiterhin nicht nach Plan inszenieren. Ihre Wirkung hängt nach wie vor von kaum kalkulierbaren öffentlichen Reaktionen ab.

Der historische Blick macht deutlich, dass Skandale nicht für einen neuartigen moralischen Verfall von Politik und Medien stehen. Im Gegenteil: Sie repräsentieren heute gerade in Deutschland stärker denn je eine demokratische Kontrolle durch die Öffentlichkeit und damit eine pluralisierte Gesellschaft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. John B. Thompson, Political Scandal. Power and Visibility in the Media Age, Cambridge 2000.

  2. Vgl. etwa Wolfgang Schuller (Hrsg.), Korruption im Altertum, München 1982.

  3. Vgl. Manfred Schmitz, Theorie und Praxis des politischen Skandals, Frankfurt/M. 1981, S. 12 - 19.

  4. Vgl. zu den Mediensystemen: Frank Esser, Die Kräfte hinter den Schlagzeilen. Englischer und deutscher Journalismus im Vergleich, Freiburg 1998.

  5. Diese Definition modifiziert leicht die Eingrenzung von: Karl Otto Hondrich, Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt/M. 2002, S. 15f.

  6. Vgl. Flora Fraser, The Unruly Queen. The Life of Queen Caroline, London 1996; Reinold Rauh, Lola Montez. Die königliche Mätresse, München 1992.

  7. Vgl. Frank Bösch, Das Private wird politisch: Die Sexualität des Politikers und die Massenmedien des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 52 (2004), S. 781 - 801.

  8. Vgl. Martin Reuss, The Disgrace and Fall of Carl Peters: Morality, Politics, and Staatsräson in the Time of Wilhelm II., in: Central European History, 14 (1981), S. 110 - 141.

  9. Vgl. Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und Transformationen der wilhelmischen Monarchie, Berlin 2005.

  10. Vgl. Cornelius O'Leary, The Elimination of Corrupt Practises in British Elections 1868 - 1911, Oxford 1962.

  11. Vgl. Geoffrey R. Searle, Corruption in British Politics 1895 - 1930, Oxford 1987.

  12. Vgl. Frank Bösch, Krupps "Kornwalzer". Formen und Wahrnehmungen von Korruption im Kaiserreich, in: Historische Zeitschrift, 270 (2005), S. 337 - 379.

  13. Vgl. Jürgen Wilke, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Köln 2000.

  14. Vgl. James D. Steakley, Iconography of a scandal: political cartoons and the Eulenburg affair in Wilhelmine Germany, in: Wayne R. Dynes/Stephen Donaldson (Hrsg.), History of Homosexuality in Europe and America, New York 1992, S. 323 - 385.

  15. Vgl. etwa Berliner Illustrirte Zeitung vom 17.8. 1902, 26.4. 1903, 26. und 30. 6. 1903 sowie vom 30.6. 1906.

  16. Vgl. Frank Bösch, Zeitungsberichte im Alltagsgespräch: Mediennutzung, Medienwirkung und Kommunikation im Kaiserreich, in: Publizistik, 49 (2004), S. 319 - 336.

  17. Vgl. G. Searle (Anm. 11), S. 359 - 375.

  18. Beide Fälle wurden vielfältig untersucht; vgl. Stephan Malinowski, Politische Skandale als Zerrspiegel der Demokratie. Die Fälle Barmat und Sklarek imKalkül der Weimarer Rechten, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 5 (1996), S. 46 - 65; Dagmar Reese, Skandal und Ressentiment: Das Beispiel des Berliner Sklarek-Skandals von 1929, in: Rolf Ebbighausen/Sighard Neckel (Hrsg.), Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt/M. 1989, S. 374 - 395.

  19. Vgl. Susanne zur Nieden/Sven Reichardt, Skandale als Instrument des Machtkampfes in der NS-Führung: Zur Funktionalisierung der Homosexualität von Ernst Röhm, in: Martin Sabrow (Hrsg.), Skandal und Diktatur. Formen öffentlicher Diktatur und Empörung im NS-Staat und in der DDR, Göttingen 2004.

  20. Vgl. M. Sabrow (Anm. 19).

  21. Vgl. Robin Gaster, Sex, Spies and Scandal. The Profumo Affair and British Politics, in: Andrei S. Markovits/Mark Silverstein (Hrsg.), The Politics of Scandal: Power and Process in Liberal Democracies, New York 1988, S. 62 - 88.

  22. Vgl. Anthony King, Sex, Money and Power, in: Richard Hodder-Williams/James Ceaser (Hrsg.), Politics in Britain and the United States. Comparative Perspectives, Durham 1986, S. 173 - 202.

  23. Vgl. Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse. Die verzögerte Renaissance des Medienskandals zwischen Staatsgründung und Ära Brandt, in: Bernd Weisbrod (Hrsg.), Die Politik der Öffentlichkeit - die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2003, S. 225 - 250.

  24. Vgl. Frank Esser/Uwe Hartung, Nazis, Pollution, and No Sex. Political Scandals as a Reflection of Political Culture in Germany, in: American Behavioral Scientist, 47 (2004), S. 1040 - 1071.

Dr. phil., geb. 1969; Juniorprofessor für Mediengeschichte an der Ruhr-Universität Bochum, Historisches Institut, Universitätsstraße 150, 44801 Bochum.
E-Mail: E-Mail Link: frank.boesch@ruhr-uni-bochum.de