Einleitung
Mit der zunehmenden Bedeutung europäischer Entscheidungen hat sich auch die Interessenpolitik in Europa verändert. In immer mehr Studien wird auf die schwierige Anpassungsarbeit verwiesen, die ehemals korporatistische Akteure im Zuge der Europäisierung und der Globalisierung zu leisten haben.
Interessenvertretung sowohl auf nationaler wie auch europäischer Ebene zu betreiben, fällt dentraditionellen Verbänden oft schwer. Gleichzeitig beobachten Forscherinnen und Forscher seit den achtziger Jahren eine Fülle neuer Gruppen und Akteure, die in Brüssel auf ihre Belange aufmerksam zu machen suchen. Insbesondere Firmen handeln zunehmend direkt als politische Akteure im Mehrebenensystem der regionalen, nationalen und europäischen Politik. Mutmaßte man im Nachkriegsdeutschland noch eine "Herrschaft der Verbände",
Diese Verlagerung "vom Korporatismus zum Lobbyismus"
Im vorliegenden Beitrag wird diesem Vorwurf nachgegangen, indem die Mechanismen der Interessenvertretung in der Europäischen Union (EU) untersucht werden: Ist die EU tatsächlich der Spielball einflussreicher Wirtschaftsinteressen? Was genau ist die Rolle von Lobbyisten in der europäischen Politik, und wie sind ihre Aktivitäten aus demokratietheorischer Perspektive zu bewerten?
Auch wenn Wirtschaftsinteressen effektiv den größten Teil der europäischen Lobbyingindustrie ausmachen, ist davor zu warnen, den Einfluss privater Akteure überzubewerten. Eine Übersicht über Zusammensetzung und Aufgaben der europäischen Lobbyisten zeigt, dass nicht automatisch von der Präsenz privater Akteure auf deren politischen Einfluss geschlossen werden kann. Tatsächlich sind Lobbyisten nicht nur damit beschäftigt, Einfluss auszuüben, eine wichtige Aufgabe ist auch die Beobachtung der europäischen Politik. Des Weiteren hängt der Zugang zum politischen Prozess von der Qualität der Informationen ab, die Lobbyisten anbieten können, liegen doch die Bewertung der Informationen und die entsprechende Delegation politischer Aufgaben in den Händen der bürokratischen und politischen Entscheidungsträger. Inwieweit diese allerdings einer demokratischen Kontrolle bei ihren Entscheidungen unterworfen sind, ist nicht immer eindeutig und verweist auf das Ausmaß des bis jetzt ungelösten europäischen Demokratiedefizits.
Lobbying
Der Begriff des Lobbying ist in der Öffentlichkeit negativ besetzt. Die versuchte Einflussnahme auf politische Entscheidungen in Europa weckt Assoziationen von unkontrollierter Politikmanipulation bis hin zur Korruption. Grundsätzlich scheint die politische Durchsetzung von individuellen Interessen zu Lasten des Allgemeinwohls zu geschehen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn man - wie der politische Denker Jean-Jacques Rousseau - von einer volonté générale, einem Gemein- oder Volkswillen ausgeht, der sich nur bei Abwesenheit von Teilgesellschaften herausbilden kann. Im Gegensatz zu dieser Vorstellung versteht man in der amerikanischen Politiktradition unter Allgemeinwohl die Summe der Partikularinteressen eines Landes. Deshalb wird dort für eine größtmögliche Vielfalt an Interessenvertretung - für Pluralismus - plädiert.
Auch wenn man zunächst annahm, dass sich die korporatistischen Traditionen einzelner Mitgliedstaaten auf das supranationale Niveau verlagern würden, hat sich in der EU tatsächlich ein solcher Pluralismus herausgebildet.
Betrachtet man die Entwicklung der europäischen Verbände, so zeigt sich, dass sich diese in Reaktion auf supranationale Politikinitiativen formiert haben: Sowohl die Gründung der Europäischen Gemeinschaft wie auch das Binnenmarktprojekt führten zu einem bemerkenswerten Anstieg an supranationalen Verbandsgründungen (vgl. die Abbildung S. 34 der PDF-Version). Im Mai 2002 hatten sich 941 EU-Verbände bei der Europäischen Kommission registriert; hinzu kommen knapp 350 nationale Verbände und Körperschaften, rund 250 Interessenvertretungen von Unternehmen sowie eine ebenso große Anzahl von professionellen Beratungsfirmen und Anwaltskanzleien.
Die Zusammensetzung der europäischen Interessenlandschaft reicht von Wirtschaftsverbänden und Unternehmensvertretungen, Gewerkschaften, regionalen Gruppen, Umweltorganisationen, humanitären und gemeinnützigen Einrichtungen und Verbraucherschutzorganisationen bis hin zu Koalitionen zwischen Mitgliedern verschiedener Kategorien, wie beispielsweise dem Verband europäischer Biertrinker. Zählt man Wirtschafts-, Agrar- und Berufsverbände zusammen, zeigt sich allerdings, dass etwa 70 Prozent der organisierten Interessenvertretungen wirtschaftliche Ziele verfolgen.
Asymmetrische Einflussnahme?
Tatsächlich verweist die ungleiche Anzahl von Wirtschafts- und Bürgergruppen auf ein Grundproblem der Interessenpolitik. Intensivvorgebrachte Partikularinteressen kleiner Gruppen sind leichter zu vertreten als weit gestreute Allgemeininteressen. So zeigte der Pluralismuskritiker Mancur Olson in seinem einflussreichen Buch "Die Logik des kollektiven Handelns", dass einzelne Mitglieder großer Gruppen in die Versuchung geraten, sich wie Trittbrettfahrer zu verhalten: Sie möchten von ihrer potenziellen Gruppe profitieren, sich aber nicht selbst engagieren, keine Arbeit investieren, da diese mit großer Wahrscheinlichkeit auch von anderen übernommen werden kann.
Um diese grundsätzliche Asymmetrie auszugleichen, hat es sich die Europäische Kommission zur Aufgabe gemacht, unterprivilegierte Gruppen finanziell zu fördern. Sie unterstützt die Schaffung europäischer Netzwerke sowie - im Allgemeinen - Verbände, die in ihrer Arbeit auf europäische Themen eingehen. Die Vergabe der Mittel hängt dabei teilweise an bestimmten Politikbereichen, etwa der Sozial- oder der Entwicklungspolitik. Schon seit 1976 fördert die Kommission zumBeispiel Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die sich mit humanitären Aufgaben befassen.
Das erklärte Ziel der Europäischen Kommission ist es, durch diese Maßnahmen den politischen Prozess in der EU offener und interaktiver zu gestalten. In ihrem Weißbuch zum europäischen Regieren legt sie dar, dass mit der Einbindung von Interessengruppen das Ziel verfolgt wird, die "Kluft zwischen der Union und ihren Bürgern zu überbrücken".
Ungeachtet dieser Bemühungen ist die EU noch weit entfernt von einer ausgewogenen Interessenpolitik, wie die prozentualen Anteile von Wirtschaftsverbänden gezeigt haben. Aber ist es gerechtfertigt, von der ungleichen Anzahl verschiedener Interessengruppen auf einen ungleichen Einfluss zu schließen? Bemüht sich etwa die EU um die Wettbewerbsfähigkeit und die Integration von Märkten, weil Wirtschaftslobbies soziale oder ökologische Anliegen von der Tagesordnung gedrängt haben?
Logik der Interessenvertretung der EU
In ihrer Studie nationaler Unternehmensverbände konnten Philippe C. Schmitter und Wolfgang Streeck zeigen, dass Verbandsaktivitäten von zwei unterschiedlichen Motivationen geleitet werden:
Einen großen Anteil ihrer Arbeitszeit verbringen Verbändevertreter daher mit dem so genannten Monitoring, der Informationsarbeit für ihre Mitglieder über das politische Geschehen in der europäischen Hauptstadt, etwa durch das Schreiben von Newslettern. Lobbyisten sind also nicht so sehr der Motor europäischer Entscheidungen. Vielmehr ist ihre wachsende Präsenz eine Reaktion auf die zunehmende Bedeutung der EU, wie die reaktiven Verbandsgründungen in der Abbildung zeigen. Dass Verbandsaktivitäten in Europa oft zum Großteil aus der Informationsvermittlung "nach unten", also zu den Mitgliedern, bestehen, ist umso einleuchtender, wenn man sich vergegenwärtigt, wie wenig offenbar selbst scheinbar einflussreiche Akteure von europäischer Politik verstehen. So erhielt zum Beispiel das Brüsseler Büro eines wichtigen nationalen Arbeitgeberverbands einmal einen Anruf eines aufgeregten Unternehmers aus der Landeshauptstadt. Er habe von einem beunruhigenden Richtlinienvorschlag gehört und möchte dringend mit Herrn Coreper sprechen, der seines Wissens für solche Fragen zuständig sei. Dass COREPER keine Person, sondern der Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten ist, der bis zu 180 verschiedene Arbeitsgruppen umfasst, wurde dem Unternehmer erst im Laufe des Gesprächs klar.
Wenn eine Interessengruppe auf ein Ereignis reagieren möchte, erfordert es viel Koordinationsarbeit, eine politische Position für alle Mitglieder zu formulieren und somit im Namen einer Gruppe zu sprechen. Sobald eine solche Position erarbeitet worden ist, tritt der Lobbyist im Konsultationsprozess in Kontakt mit den politischen Entscheidungsträgern und informiert diese darüber. Diese Stellungnahmen sind für die Kommission und die Arbeitsgruppen des europäischen Parlaments wichtige Informationsquellen. Beziehungen zwischen politischen und privaten Akteuren beruhen daher in erster Linie auf gegenseitigem Erfahrungs- und Informationsaustausch.
Wie erfolgreich der Informationsaustausch zwischen privaten und politischen Akteuren ist, das heißt inwieweit auf ein Positionspapier bei der Konzipierung einer europäischen Richtlinie eingegangen wird, liegt letztendlich im Ermessen der politischen und bürokratischen Akteure. Diese wiederum berücksichtigen vor allem jene Informationen, die ihnen in der Ausübung ihrer institutionellen Funktion am hilfreichsten erscheinen. In seinen Studien zu Angebot von und Nachfrage nach politischen Informationen hat Pieter Bouwen diese Erkenntnis als "Zugangslogik der Europäischen Union" bezeichnet.
Die Selektionslogik der europäischen Institutionen erklärt außerdem, was Lobbyisten beachten müssen, um mit ihren Forderungen durchzukommen. Im oft informellen Konsultationsprozess können Interessenvertreter nur dann langfristige Beziehungen zu politischen Entscheidungsträgern aufbauen, wenn sie auf deren Bedürfnisse eingehen. Auch wenn die Kommission zum Beispiel allgemein nach Expertenwissen sucht, bevorzugt sie insbesondere die Zusammenarbeit mit Gruppen, die ihre Legitimität als politischer Entscheidungsträger stützen. Kann ein Interessenvertreter eine gewisse Repräsentativität nachweisen, ermöglicht dies der Kommission zu belegen, dass sie zum Beispiel mit der "europäischen Textilindustrie" gesprochen hat und nicht nur mit einem Vertreter von etwa Lacoste. Des Weiteren führt das allgegenwärtige Risiko einer Politikblockade im Falle eines Länderkonflikts dazu, dass die europäischen Institutionen daran interessiert sind, gesamteuropäische Lösungsvorschläge zu formulieren. Gruppen, die mit ihren Positionspapieren Problemlösungen ermöglichen, werden daher eher Beachtung finden als Vertreter von Partikularinteressen ohne gesamteuropäische Relevanz. Die Autonomie europäischer Akteure von privaten Akteuren wirkt sich demnach auf die Lobbyingstrategien aus und führt zu grundlegenden Unterschieden in der Interessenvertretung in der EU und den USA, in denen Repräsentanten ihren Wählerinnen und Wählern direkt Rede und Antwort stehen müssen. Im weniger institutionalisierten Konsultationsprozess sind europäische Lobbyisten deshalb grundsätzlich darum bemüht, konstruktiv am europäischen Politikgeschehen teilzunehmen, weil gerade an ihrer Konstruktivität der Zugang zum politischen Prozess hängt.
Verschiedentlich haben Lobbyisten, die diese Logik nicht beachteten, ihre Strategien revidieren müssen. So hat die europäische Abteilung der American Chamber of Commerce in den siebziger Jahren versucht, die Durchsetzung einer Sozialrichtlinie zu stoppen. Zu diesem Zweck schickte sie eigens ein Flugzeug voller Anwälte nach Brüssel. Dieses aggressive Vorgehen löste bei den europäischen Repräsentanten große Empörung aus. Noch mehrere Jahre danach musste sich die europäische Abteilung von American Chamber of Commerce darum bemühen, das gute Bild der in Europa tätigen amerikanischen Unternehmen wiederherzustellen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass europäisches Lobbying im transatlantischen Vergleich zurückhaltender und konstruktiver ist. Interessanterweise hängt dies jedoch mit der mangelnden Transparenz des europäischen Politikprozesses zusammen. So kann Daniel Naurin durch einen Vergleich des Lobbyings in der EU und Schweden zeigen, dass höhere Transparenz zu einem Abbau an konstruktiver Partizipation führt.
Demokratietheoretischer Ausblick
Fehlende Transparenz erhöht - wie gezeigt - die Konsensfähigkeit europäischer Politik. Gerade dies ist aber ein zentrales Problem der EU, welcher es an demokratischen Mechanismen wie voll ausgebildeten Parteien, sozialen Bewegungen oder einer europäischen Öffentlichkeit mangelt. Europäische Politik rechtfertigt sich nicht aus dem ausgewogenen System demokratischer Teilhabe und politischer Partizipation, sondern vielmehr durch die Effektivität und Effizienz ihrer Problemlösungsfähigkeit.
Die zentrale Frage lautet vielmehr, ob die EU tatsächlich nur Probleme behandelt, bei denen es um effiziente Lösungen geht und nicht um Verteilungskonflikte, zu deren Schlichtung eine öffentliche Debatte um Werte und Alternativen notwendig ist.