Wurde das Computerspiel in den 1980er Jahren noch als exotisches Hobby technikaffiner Jugendlicher gehandelt, ist das Spielen auf Tablets, Handys, PCs und Konsolen mittlerweile unproblematischer Teil der Alltagskultur und die Games-Branche eine der umsatzstärksten Unterhaltungsindustrien geworden.
Mit den folgenden Überlegungen geht es mir darum, diese beiden Alternativen – Computerspiele allesamt als potenziell schädliches Produkt der Unterhaltungsindustrie zu verstehen oder sie allesamt der Kunst zuzuschlagen – zurückzuweisen. Ich halte eine vorschnelle Adelung des Computerspiels, wie sie heute nicht allein von der Computerspieleindustrie, sondern auch von Teilen des Feuilletons befördert wird, für ebenso gefährlich wie die ehemals verbreitete pauschale Verurteilung des Mediums. Ich möchte also keineswegs in Zweifel ziehen, dass viele Computerspiele ein durchaus problematischer Teil der Unterhaltungsindustrie sind, ebenso wie ich nicht in Zweifel ziehen möchte, dass es viele Computerspiele gibt, über die sinnvoll im Kunstkontext diskutiert werden kann. Aber wie alle ästhetischen Medien – vom Film über die Fotografie bis zur Literatur und Musik – ist das Computerspiel kein homogenes Medium. Viele Computerspiele sind nur eine Verlängerung der Arbeitswelt, die in Form von gamification mittlerweile selbst begonnen hat, computerspieltypische Verfahrensweisen zu integrieren, etwa durch Punktesysteme oder zu erreichende Level. Andere Computerspiele hingegen handeln das, was ein Computerspiel überhaupt ist, in Form einer Selbstthematisierung ihrer eigenen Medialität derart neu aus, dass sie zu spielen heißt, ein neues Verständnis unserer selbst als Spielende zu gewinnen – was es lohnenswert macht, sich mit ihnen als Kunst auseinanderzusetzen.
Markt und Arbeit
Mit den Debatten um Computerspielsucht, die freilich nur in Bezug auf bestimmte Spiele nachvollziehbar sind (nämlich in Bezug auf solche, die die Spielenden durch Design und Belohnungssysteme abhängig machen können),
Eine Kritik des Computerspiels muss an einer anderen Stelle ansetzen und kann sich dabei auf Theodor W. Adornos und Max Horkheimers klassische Analyse der Kulturindustrie berufen, in der sie geltend machten, dass vermeintlich selbstgenügsame Produkte der Unterhaltungsindustrie Ausdruck problematischer gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse sind.
Nicht das Experimentieren mit selbstgenügsamen Formen ist also der Motor der Entwicklung des Computerspiels, sondern – in seinen Distributions- und Produktionsmechanismen mit dem Blockbuster-Film vergleichbar – der Markt: Die Standardisierung folgt dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Das heißt: Was sich gut verkauft, wird als Standard übernommen; oder es wird versucht, einen neuen Standard zu etablieren. Bereits die frühen Spielhallenspiele, deren grundsätzliche Struktur darauf ausgerichtet war, dass die Spielenden möglichst viele Münzen in den Automaten stecken, haben ans Plagiat grenzende Kopien anderer Hersteller nach sich gezogen.
So wie es neben dem Blockbuster- auch das Independent-Kino gibt, haben sich Computerspiele vor allem durch den Aufschwung der digitalen Vertriebswege weiter ausdifferenziert (besonders markant befördert durch die Online-Plattform Steam): Während um die Jahrtausendwende vor allem Großproduktionen dominierten, hat sich inzwischen eine Szene kleinerer Entwicklerstudios gebildet, die – ähnlich wie zu den Anfangszeiten des Computerspiels – in kleinen Teams versuchen, neue Spielkonzepte aus der Taufe zu heben. Man sollte sich aber nicht täuschen: Entsprechende Independent-Games erfüllen im Rahmen des derzeitigen Computerspielemarktes ein präzises Kalkül. Sind sie das Gegenmodell zu den Großproduktionen, sind sie gleichwohl dialektisch auf diese angewiesen, um sich ihnen gegenüber als Alternative zu profilieren. Und genau wie für den Bereich des Independent-Films gilt: Mag es hier mitunter besonders zündende ästhetische Gegenstände geben, so ist die Produktionsweise doch noch keineswegs ein Garant für die Qualität der Gegenstände.
Die Prinzipien des Marktes bestimmen nicht allein die Produktion und Distribution von Computerspielen, sondern auch ihre Nutzung. Zugespitzt könnte man sagen, dass viele Computerspiele ein "training for the job" in der Freizeit sind: In Strategiespielen geht es immer auch um die effiziente Nutzung von Ressourcen, in Actionspielen um die Optimierung der eigenen Spielweise, und in jüngeren Open-World-Spielen und Online-Rollenspielen wird der Spielfortschritt vielfach durch monotone Tätigkeiten erreicht. So muss man etwa beim Spielen von "Far Cry 5" (2018) die Spielwelt immer wieder akribisch nach sammelbaren Gegenständen absuchen, um bestimmte Aufgaben zu erledigen, so wie man schon bei frühen Rollenspielen wie "Wizardry" (1981) mit zufällig auftauchenden Monstern konfrontiert wurde, die man wiederholt bekämpfen musste, um später auch nur den Hauch einer Chance gegen stärkere Monster zu haben. Es ist dann kein Wunder, dass Spielende andere Spielende für das stundenlange Sammeln spielinterner Ressourcen oder seltener Gegenstände mit echtem Geld bezahlen – etwa im Fall des Online-Rollenspiels "World of Warcraft" (2004) – oder auch komplette Accounts verkauft werden, wenn ein bestimmtes Level erreicht ist – beispielsweise im Fall von "Pokemon Go" (2016). Es handelt sich hier um Formen sublimierter Arbeit, und die Aufwendung von echtem Geld ist die Entlohnung dieser virtuellen Arbeit. Insofern könnte man in diesem Zusammenhang – als Gegenstück zur gamification der realen Welt – gar von einer laborification der Spielewelten sprechen.
Angesichts dieser Diagnose sollte man Abschied nehmen von dem Gedanken, dass das Spielen von Computerspielen aus der Tradition des ästhetischen Spielbegriffs heraus erläutert werden kann,
Ebenso wenig ist es bereits Ausdruck einer progressiven Haltung, wenn in Spielen nur auf "die Bösen" geschossen wird.
Das Besondere wertschätzen
Habe ich durch meine bisherigen Überlegungen die ideologischen Dimensionen vieler Computerspiele offengelegt und dadurch die Einseitigkeit dieser Spiele betont – und damit auch gezeigt, dass die meisten von ihnen dem eigenen Anspruch, das Computerspiel als kulturell relevantes Medium zu bestimmen, nicht gerecht werden – so sind diese Überlegungen natürlich selbst einseitig. Wie ich bereits festgehalten habe, gibt es nicht die eine Art und Weise, auf die etwas ein Computerspiel ist. Vielmehr ist das Computerspiel wie alle ästhetischen Medien nicht homogen, sondern in sich differenziert: Neben seichten Unterhaltungsprodukten hat das Hollywood-Kino auch Kunstwerke hervorgebracht; sind einige Independent-Filme schale Experimente, so sind andere kraftvoller ästhetischer Ausdruck. Das Gelingen solcher Filme als Kunstwerke ist dabei nichts, was sich als Formel abbilden ließe – die Filme des Regisseurs Wong Kar-Wai gelingen anders als die des Regisseurs Michael Haneke.
Wegen ihrer Ausdifferenziertheit und ihres prozessualen Charakters lassen sich ästhetische Medien nicht in einem herkömmlichen Sinne definieren. Dass das Computerspiel anders als der Film ein interaktives Medium sei, ist aufgrund der abstrakten Allgemeinheit dieser These letztlich falsch. Denn das, was uns Spiele jeweils zu tun erlauben, ist in unterschiedlichen Genres und sogar einzelnen Spielen so verschieden, dass der Begriff "Interaktion" als Kennzeichnung einer Mediendifferenz nicht viel taugt. Und warum sollten wir überhaupt von interagieren sprechen, wenn wir üblicherweise sagen, wir spielen ein Computerspiel? Es ist schlicht eine verschrobene Redeweise, zu behaupten, man interagiere mit einem Computer oder einem Spiel; Interaktionen finden in allen Dingen, die wir tun, unter bestimmten Beschreibungen statt.
Es geht mir hierbei um folgenden Punkt: Was es heißt, ein Computerspiel zu spielen, gewinnt je nach Genre und Spiel einen anderen Sinn. So kann man im First-Person-Shooter "Doom" (1993) nicht nur mehr machen als in einem interaktiven Movie-Spiel wie "Phantasmagoria" (1995), sondern man macht schlichtweg ganz andere Dinge. Eine ästhetische Perspektive auf Computerspiele einzunehmen, heißt auch, dass man ein Computerspiel nur dann verstehen kann, wenn man es tatsächlich spielt oder jemandem beim Spielen zuschaut und schon weiß, was es heißt, solche Spiele zu spielen – so wie man ein Gemälde nur dann verstehen und beurteilen kann, wenn man es betrachtet und nicht nur davon erzählt bekommt. Romane muss man Lesen, Filme schauen, Computerspiele spielen – es ist eine grundsätzliche ästhetische Lektion, dass es nichts gibt, was diese Art von Gegenstandsbezug ersetzen kann, weil es in solchen Gegenständen immer auch darum geht, wie sie etwas zeigen und gestalten, und nicht nur darum, was sie zeigen. In ästhetischen Gegenständen ist die Art und Weise der Darstellung der Schlüssel zum Verständnis des Dargestellten.
Eine ästhetische Perspektive auf Computerspiele einzunehmen heißt also, sie als je besondere Gegenstände zu würdigen.
Ästhetisches Scheitern
Diese Bemerkungen zu einer Medienästhetik des Computerspiels widersprechen nicht meiner knappen Analyse der ideologischen Dimension vieler Computerspiele – dass nämlich das, was vermeintlich Freizeitvergnügen ist, in Wahrheit nur eine Verlängerung der Arbeitswelt ist. Die ideologische Dimension ließe sich vielmehr als eine besondere Weise des Scheiterns der ästhetischen Dimension erläutern. Das impliziert auch folgende These: Dass Computerspiele in einer Beschreibung als lohnendes Geschäft verstanden werden können, schließt nicht prinzipiell aus, dass sie in einer anderen Beschreibung durchaus als gelungene ästhetische Gegenstände gewürdigt werden können. Ganz wie im Hollywood-Blockbuster kann es sein, dass die Produktion solcher Gegenstände durchaus von kommerziellen Interessen geprägt ist, dass dabei aber etwas hervorgebracht wird, was nicht in diesen Interessen aufgeht, und mehr noch: was manchmal sogar eine andere Logik entwickelt als diese Interessen. Um einer zu stark ideologischen Lesart des Computerspiels den Wind aus den Segeln zu nehmen, kann man zudem auf die vielfältigen partizipativen Eingriffe in Code oder Oberfläche des Spiels durch die Spielenden selbst verweisen: Durch Modifikationen oder komplette Umarbeitungen, die Produzenten als lebensverlängernde Maßnahmen unter kommerziellen Gesichtspunkten oft ermöglichen, bringen sich die Spielenden selbst in grundlegende Strukturen bestimmter Spiele ein. Zudem gibt es viele Spiele, die gerade nicht in der Weise gespielt werden, wie sie gedacht waren; am bekanntesten sind hier sicher sogenannte speedruns, bei denen versucht wird, ein Spiel so schnell wie möglich durchzuspielen.
Was bedeutet es nun, dass das Computerspiel ein kunstfähiges Medium ist? Dass Elemente von Computerspielen oder Computerspiele insgesamt in Kunstpraktiken integriert werden können, ist unstrittig. So dringt etwa die von Joan Heemskerk und Dirk Paesmans als Netzkunstduo "Jodi" veröffentlichte Arbeit "SoD" (2000) – eine Code-Modifikation des First-Person-Shooters "Spear of Destiny" (1992) aus der "Wolfenstein"-Reihe – gewissermaßen hinter die ästhetische Oberfläche des Shooter-Bildes und lässt ebenso reflexive wie aus der Perspektive habitualisierter Spielhandlungen tendenziell unverständliche Computerspielbilder entstehen. Obwohl hier nicht länger räumliche Verhältnisse zu sehen sind, kommt man nicht umhin, entsprechende Verhältnisse hineinzulesen.
Damit ist bereits ein wesentliches Moment der Kunstfähigkeit des Computerspiels wie auch anderer ästhetischer Medien benannt: Computerspiele als Kunstwerke verwickeln uns in eine Thematisierung unserer selbst als Spielende, indem sie ihre eigenen Elemente und Strukturen thematisieren. Plakativer ausgedrückt: Das Spielen von Computerspielen wird hier ein Durchspielen unserer selbst; im Medium der Spielerfahrung reflektieren wir unsere wesentlichen Orientierungen und Verständnisse.
Für die Tiefe und Wichtigkeit von Kunst ist deshalb auch nicht entscheidend, dass sie "tiefe" Themen aufgreift. Wer an einen First-Person-Shooter eine Rahmenhandlung anklebt, in der irgendwelche moralischen Dilemmata thematisiert werden, die aber nichts mit dem eigentlichen Spielgeschehen zu tun haben, oder wer ein Geschicklichkeitsspiel mit Streichern unterlegt und in Pastellfarben inszeniert, produziert nicht mehr als ein missglücktes Kunstwerk. So ist etwa fraglich, ob das viel diskutierte "Detroit: Become Human" (2018) nicht gerade deshalb trotz der relevanten Themen, die es anschneidet (etwa die Frage nach dem ethischen Unterschied zwischen Mensch und Maschine), kolossal scheitert, weil es diese Themen letztlich nicht hinreichend auf das Spielgeschehen selbst bezieht. Es ist zwar nicht durchweg so, dass es eine Einheit von Spielgeschehen und Themen geben muss – im Gegenteil: Das Verfahren synchroner Parallelisierungen verschiedener und unverbundener Elemente ist aus anderen Künsten bekannt – aber die meisten Computerspiele dringen gar nicht bis zu der Ebene vor, dass sie durch künstlerische Verfahren zum Nachdenken anregen, weil sie in klassischen Erzählweisen und Spielmechanismen verhaftet bleiben.
Kunstfähigkeit
Computerspiele als Kunstwerke zu betrachten, heißt, sie als eigenlogische Aushandlungen ihrer Elemente zu begreifen, die die Spielenden durch den Nachvollzug einer solchen Aushandlung in ihren Überzeugungen und Orientierungen zugleich neu aushandeln. Darin unterscheidet sich das Computerspiel nicht grundsätzlich von anderen Künsten, von denen es zehrt und die seit seiner Entstehung zugleich von ihm zehren. Denn ein solches Reflexionsgeschehen leistet jedes gelungene Spiel als Kunstwerk in je eigener Weise.
Nach den hier vorgestellten Überlegungen spricht nichts dagegen, dass das Computerspiel ein kunstfähiges Medium ist. Welche Computerspiele Kunstwerke sind und welche in dieser Hinsicht gelingen oder scheitern, ist eine offene Frage, die immer nur im kollektiven Streit der Spielenden und unter Einbezug ihrer Erfahrungen mit diesen Spielen beantwortet werden kann. Dass aber etwas an dem Gedanken problematisch ist, dass alle Computerspiele der Kunst zuzuschlagen sind und sie grundsätzlich vom Verdacht jeglicher Ideologie zu befreien wären – das hoffe ich zugleich mit der Verteidigung der Kunstfähigkeit des Computerspiels gezeigt zu haben.