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Kleine Philosophie des Computerspiels | Gaming | bpb.de

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Kleine Philosophie des Computerspiels Zur Ästhetik digitaler Spiele im Spannungsfeld von Ideologie und Kunst - Essay

Daniel Martin Feige

/ 12 Minuten zu lesen

Computerspiele folgen in vielerlei Hinsicht einer Marktlogik. Dennoch schließt das ihre prinzipielle Kunstfähigkeit nicht aus. Eine ästhetische Perspektive auf sie einzunehmen heißt, sie als je besondere Gegenstände zu würdigen. Denn tatsächlich sind längst nicht alle Kunst.

Wurde das Computerspiel in den 1980er Jahren noch als exotisches Hobby technikaffiner Jugendlicher gehandelt, ist das Spielen auf Tablets, Handys, PCs und Konsolen mittlerweile unproblematischer Teil der Alltagskultur und die Games-Branche eine der umsatzstärksten Unterhaltungsindustrien geworden. Im Zuge seiner gestiegenen gesamtgesellschaftlichen Relevanz haben sich die bis in die 2000er Jahre hinein mitunter hitzig geführten medialen Debatten um das Computerspiel deutlich abgekühlt: Hatte bereits 2003 die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien nach dem Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt im April 2002 den First-Person-Shooter "Counter-Strike" (2000) wider Erwarten nicht auf den Index gesetzt, erklärte Olaf Zimmermann, der Vorsitzende des Deutschen Kulturrats, Computerspiele 2008 zu Kulturprodukten. In jüngster Zeit werden sie nicht nur vermehrt in Feuilletons besprochen, sondern sie wandern auch zunehmend in Museen, und die Frage nach ihrem Kunststatus wird oft sehr rasch zu ihren Gunsten beantwortet. Wurde ehedem das Computerspiel wie vormals der Film oder der Comic als schmuddeliges, potenziell gefährliches Produkt der Unterhaltungskultur gesehen, wird es heute oftmals gleichberechtigt neben dem Film, der Malerei und der Literatur eingegliedert.

Mit den folgenden Überlegungen geht es mir darum, diese beiden Alternativen – Computerspiele allesamt als potenziell schädliches Produkt der Unterhaltungsindustrie zu verstehen oder sie allesamt der Kunst zuzuschlagen – zurückzuweisen. Ich halte eine vorschnelle Adelung des Computerspiels, wie sie heute nicht allein von der Computerspieleindustrie, sondern auch von Teilen des Feuilletons befördert wird, für ebenso gefährlich wie die ehemals verbreitete pauschale Verurteilung des Mediums. Ich möchte also keineswegs in Zweifel ziehen, dass viele Computerspiele ein durchaus problematischer Teil der Unterhaltungsindustrie sind, ebenso wie ich nicht in Zweifel ziehen möchte, dass es viele Computerspiele gibt, über die sinnvoll im Kunstkontext diskutiert werden kann. Aber wie alle ästhetischen Medien – vom Film über die Fotografie bis zur Literatur und Musik – ist das Computerspiel kein homogenes Medium. Viele Computerspiele sind nur eine Verlängerung der Arbeitswelt, die in Form von gamification mittlerweile selbst begonnen hat, computerspieltypische Verfahrensweisen zu integrieren, etwa durch Punktesysteme oder zu erreichende Level. Andere Computerspiele hingegen handeln das, was ein Computerspiel überhaupt ist, in Form einer Selbstthematisierung ihrer eigenen Medialität derart neu aus, dass sie zu spielen heißt, ein neues Verständnis unserer selbst als Spielende zu gewinnen – was es lohnenswert macht, sich mit ihnen als Kunst auseinanderzusetzen.

Markt und Arbeit

Mit den Debatten um Computerspielsucht, die freilich nur in Bezug auf bestimmte Spiele nachvollziehbar sind (nämlich in Bezug auf solche, die die Spielenden durch Design und Belohnungssysteme abhängig machen können), also keineswegs das Medium als Ganzes betreffen, werden jüngst differenziertere und ernster zu nehmende Kritikpunkte an Computerspielen artikuliert als zu Beginn des Jahrtausends, als noch viel von "Killerspielen" die Rede war. Die Diskussionen um diesen polemischen Kampfbegriff – befördert durch eher exotische Spiele wie "America’s Army" (2002), die weniger dem Training des Waffengangs als einer beispielhaften Darstellung soldatischen Zusammenhaltes dienen sollten – waren schon deshalb wenig zielführend, weil in ihnen vielfach die Medialität des Computerspiels übergangen wurde: Sowohl der Gedanke, dass wir beim Computerspielen unbemerkt toxische soziale Verhaltensweisen lernen, als auch der Gedanke, dass mit fortschreitenden technischen Möglichkeiten eine Verwechslungsgefahr von Realität und Spiel drohe, ist irrig. Der erste Gedanke verwechselt menschliches Handeln mit dem Verhalten dressierter Hunde; der zweite Gedanke übersieht, dass ein Spiel zu spielen immer heißt, zu wissen, dass man ein Spiel spielt. Ganz gleich, wie sehr man vom Spielgeschehen absorbiert sein mag: Nichts von dem, was die Lust am Spiel ausmacht, wäre erklärbar, wenn tatsächlich die Gefahr drohte, hier kognitiv den Faden zu verlieren.

Eine Kritik des Computerspiels muss an einer anderen Stelle ansetzen und kann sich dabei auf Theodor W. Adornos und Max Horkheimers klassische Analyse der Kulturindustrie berufen, in der sie geltend machten, dass vermeintlich selbstgenügsame Produkte der Unterhaltungsindustrie Ausdruck problematischer gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse sind. Nicht erst die Kontroversen um sogenannte lootboxes in Spielen wie "Star Wars: Battlefront 2" (2017), die für kleinere Echtgeldbeträge zufällige Spielgegenstände enthalten und zu Recht im Zusammenhang mit Glücksspielen diskutiert worden sind, zeigen, dass Computerspiele vor allem eines sind: etwas, womit sich viel Geld verdienen lässt. Aus diesen kommerziellen Interessen heraus wird auch die starke Standardisierung im Bereich des Computerspiels erklärlich: Das unter anderem mit "Assassin’s Creed" (2007) geprägte Game-Design hat so massiv in fast alle Produktionen des Spieleentwicklers Ubisoft Eingang gefunden, dass die Redeweise von der Ubisoft-Formel zum geflügelten Wort geworden ist. Auch "Grand Theft Auto III" (2001) war so erfolgreich, dass seine grundlegenden Spielmechaniken in vielen anderen Spielen aufgegriffen wurden.

Nicht das Experimentieren mit selbstgenügsamen Formen ist also der Motor der Entwicklung des Computerspiels, sondern – in seinen Distributions- und Produktionsmechanismen mit dem Blockbuster-Film vergleichbar – der Markt: Die Standardisierung folgt dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Das heißt: Was sich gut verkauft, wird als Standard übernommen; oder es wird versucht, einen neuen Standard zu etablieren. Bereits die frühen Spielhallenspiele, deren grundsätzliche Struktur darauf ausgerichtet war, dass die Spielenden möglichst viele Münzen in den Automaten stecken, haben ans Plagiat grenzende Kopien anderer Hersteller nach sich gezogen.

So wie es neben dem Blockbuster- auch das Independent-Kino gibt, haben sich Computerspiele vor allem durch den Aufschwung der digitalen Vertriebswege weiter ausdifferenziert (besonders markant befördert durch die Online-Plattform Steam): Während um die Jahrtausendwende vor allem Großproduktionen dominierten, hat sich inzwischen eine Szene kleinerer Entwicklerstudios gebildet, die – ähnlich wie zu den Anfangszeiten des Computerspiels – in kleinen Teams versuchen, neue Spielkonzepte aus der Taufe zu heben. Man sollte sich aber nicht täuschen: Entsprechende Independent-Games erfüllen im Rahmen des derzeitigen Computerspielemarktes ein präzises Kalkül. Sind sie das Gegenmodell zu den Großproduktionen, sind sie gleichwohl dialektisch auf diese angewiesen, um sich ihnen gegenüber als Alternative zu profilieren. Und genau wie für den Bereich des Independent-Films gilt: Mag es hier mitunter besonders zündende ästhetische Gegenstände geben, so ist die Produktionsweise doch noch keineswegs ein Garant für die Qualität der Gegenstände.

Die Prinzipien des Marktes bestimmen nicht allein die Produktion und Distribution von Computerspielen, sondern auch ihre Nutzung. Zugespitzt könnte man sagen, dass viele Computerspiele ein "training for the job" in der Freizeit sind: In Strategiespielen geht es immer auch um die effiziente Nutzung von Ressourcen, in Actionspielen um die Optimierung der eigenen Spielweise, und in jüngeren Open-World-Spielen und Online-Rollenspielen wird der Spielfortschritt vielfach durch monotone Tätigkeiten erreicht. So muss man etwa beim Spielen von "Far Cry 5" (2018) die Spielwelt immer wieder akribisch nach sammelbaren Gegenständen absuchen, um bestimmte Aufgaben zu erledigen, so wie man schon bei frühen Rollenspielen wie "Wizardry" (1981) mit zufällig auftauchenden Monstern konfrontiert wurde, die man wiederholt bekämpfen musste, um später auch nur den Hauch einer Chance gegen stärkere Monster zu haben. Es ist dann kein Wunder, dass Spielende andere Spielende für das stundenlange Sammeln spielinterner Ressourcen oder seltener Gegenstände mit echtem Geld bezahlen – etwa im Fall des Online-Rollenspiels "World of Warcraft" (2004) – oder auch komplette Accounts verkauft werden, wenn ein bestimmtes Level erreicht ist – beispielsweise im Fall von "Pokemon Go" (2016). Es handelt sich hier um Formen sublimierter Arbeit, und die Aufwendung von echtem Geld ist die Entlohnung dieser virtuellen Arbeit. Insofern könnte man in diesem Zusammenhang – als Gegenstück zur gamification der realen Welt – gar von einer laborification der Spielewelten sprechen.

Angesichts dieser Diagnose sollte man Abschied nehmen von dem Gedanken, dass das Spielen von Computerspielen aus der Tradition des ästhetischen Spielbegriffs heraus erläutert werden kann, ohne seine immanente Dialektik in den Blick zu nehmen: Was aus der Perspektive der Spielenden ein selbstgenügsames Geschehen sein mag und als von jeder weiteren sozialen und politischen Dimension entkoppelt erscheint, kann durchaus soziale Funktionen erfüllen und politische Aspekte aufweisen. Die unter dem Hashtag #Gamergate geführte Kontroverse um Frauenbilder in Videospielen und die Diskussionen um den gewalttätigen Umgang mit einer fiktiven Frauenrechtlerin in "Red Dead Redemption 2" (2018) zeigen an, dass Computerspiele keineswegs von gesamtgesellschaftlichen Debatten getrennt werden können.

Ebenso wenig ist es bereits Ausdruck einer progressiven Haltung, wenn in Spielen nur auf "die Bösen" geschossen wird. Die eigentliche Gewalt vieler Computerspiele liegt nicht darin, dass sie gewalttätige Handlungen zeigen oder als Mittel von Spielhandlungen anbieten oder fordern. Die eigentliche Gewalt liegt vielmehr in der binären Logik von Gut und Böse, Freund und Feind, sodass Computerspiele, die nicht mit Gewaltdarstellungen operieren, manchmal gewalttätiger sein können als diejenigen, die das nicht tun. Neben dem "Was" ist deshalb auch immer das "Wie" der Darstellung zu thematisieren.

Das Besondere wertschätzen

Habe ich durch meine bisherigen Überlegungen die ideologischen Dimensionen vieler Computerspiele offengelegt und dadurch die Einseitigkeit dieser Spiele betont – und damit auch gezeigt, dass die meisten von ihnen dem eigenen Anspruch, das Computerspiel als kulturell relevantes Medium zu bestimmen, nicht gerecht werden – so sind diese Überlegungen natürlich selbst einseitig. Wie ich bereits festgehalten habe, gibt es nicht die eine Art und Weise, auf die etwas ein Computerspiel ist. Vielmehr ist das Computerspiel wie alle ästhetischen Medien nicht homogen, sondern in sich differenziert: Neben seichten Unterhaltungsprodukten hat das Hollywood-Kino auch Kunstwerke hervorgebracht; sind einige Independent-Filme schale Experimente, so sind andere kraftvoller ästhetischer Ausdruck. Das Gelingen solcher Filme als Kunstwerke ist dabei nichts, was sich als Formel abbilden ließe – die Filme des Regisseurs Wong Kar-Wai gelingen anders als die des Regisseurs Michael Haneke.

Wegen ihrer Ausdifferenziertheit und ihres prozessualen Charakters lassen sich ästhetische Medien nicht in einem herkömmlichen Sinne definieren. Dass das Computerspiel anders als der Film ein interaktives Medium sei, ist aufgrund der abstrakten Allgemeinheit dieser These letztlich falsch. Denn das, was uns Spiele jeweils zu tun erlauben, ist in unterschiedlichen Genres und sogar einzelnen Spielen so verschieden, dass der Begriff "Interaktion" als Kennzeichnung einer Mediendifferenz nicht viel taugt. Und warum sollten wir überhaupt von interagieren sprechen, wenn wir üblicherweise sagen, wir spielen ein Computerspiel? Es ist schlicht eine verschrobene Redeweise, zu behaupten, man interagiere mit einem Computer oder einem Spiel; Interaktionen finden in allen Dingen, die wir tun, unter bestimmten Beschreibungen statt.

Es geht mir hierbei um folgenden Punkt: Was es heißt, ein Computerspiel zu spielen, gewinnt je nach Genre und Spiel einen anderen Sinn. So kann man im First-Person-Shooter "Doom" (1993) nicht nur mehr machen als in einem interaktiven Movie-Spiel wie "Phantasmagoria" (1995), sondern man macht schlichtweg ganz andere Dinge. Eine ästhetische Perspektive auf Computerspiele einzunehmen, heißt auch, dass man ein Computerspiel nur dann verstehen kann, wenn man es tatsächlich spielt oder jemandem beim Spielen zuschaut und schon weiß, was es heißt, solche Spiele zu spielen – so wie man ein Gemälde nur dann verstehen und beurteilen kann, wenn man es betrachtet und nicht nur davon erzählt bekommt. Romane muss man Lesen, Filme schauen, Computerspiele spielen – es ist eine grundsätzliche ästhetische Lektion, dass es nichts gibt, was diese Art von Gegenstandsbezug ersetzen kann, weil es in solchen Gegenständen immer auch darum geht, wie sie etwas zeigen und gestalten, und nicht nur darum, was sie zeigen. In ästhetischen Gegenständen ist die Art und Weise der Darstellung der Schlüssel zum Verständnis des Dargestellten.

Eine ästhetische Perspektive auf Computerspiele einzunehmen heißt also, sie als je besondere Gegenstände zu würdigen. So darf eine medienästhetische Perspektive eben nicht so ausbuchstabiert werden, dass sie nach Wesenseigenschaften vom Computerspiel im Kontrast zum Film und zur Literatur sucht. Das Computerspiel ist keine Untergattung des Films oder der Literatur – aber worin der Unterschied genau besteht, das wird von jedem ästhetisch relevanten Computerspiel neu ausgehandelt. Dieser Gedanke macht erst verständlich, dass Computerspiele in vielfältiger Weise ästhetische Verfahrensweisen des Films, der Literatur und auch der Musik aufnehmen, ohne dadurch als eigenständiges Medium verwässert zu werden. Kurz gesagt: Das, was das Computerspiel ist, lässt sich nicht durch eine abstrakte Definition klären, die wesentliche Eigenschaften benennt und es dadurch von anderen ästhetischen Medien trennscharf unterscheidet, sondern vielmehr durch einen Blick darauf, wie sich das Medium entwickelt hat und mit einer Sensibilität dafür, dass diese Entwicklung offen ist.

Ästhetisches Scheitern

Diese Bemerkungen zu einer Medienästhetik des Computerspiels widersprechen nicht meiner knappen Analyse der ideologischen Dimension vieler Computerspiele – dass nämlich das, was vermeintlich Freizeitvergnügen ist, in Wahrheit nur eine Verlängerung der Arbeitswelt ist. Die ideologische Dimension ließe sich vielmehr als eine besondere Weise des Scheiterns der ästhetischen Dimension erläutern. Das impliziert auch folgende These: Dass Computerspiele in einer Beschreibung als lohnendes Geschäft verstanden werden können, schließt nicht prinzipiell aus, dass sie in einer anderen Beschreibung durchaus als gelungene ästhetische Gegenstände gewürdigt werden können. Ganz wie im Hollywood-Blockbuster kann es sein, dass die Produktion solcher Gegenstände durchaus von kommerziellen Interessen geprägt ist, dass dabei aber etwas hervorgebracht wird, was nicht in diesen Interessen aufgeht, und mehr noch: was manchmal sogar eine andere Logik entwickelt als diese Interessen. Um einer zu stark ideologischen Lesart des Computerspiels den Wind aus den Segeln zu nehmen, kann man zudem auf die vielfältigen partizipativen Eingriffe in Code oder Oberfläche des Spiels durch die Spielenden selbst verweisen: Durch Modifikationen oder komplette Umarbeitungen, die Produzenten als lebensverlängernde Maßnahmen unter kommerziellen Gesichtspunkten oft ermöglichen, bringen sich die Spielenden selbst in grundlegende Strukturen bestimmter Spiele ein. Zudem gibt es viele Spiele, die gerade nicht in der Weise gespielt werden, wie sie gedacht waren; am bekanntesten sind hier sicher sogenannte speedruns, bei denen versucht wird, ein Spiel so schnell wie möglich durchzuspielen.

Was bedeutet es nun, dass das Computerspiel ein kunstfähiges Medium ist? Dass Elemente von Computerspielen oder Computerspiele insgesamt in Kunstpraktiken integriert werden können, ist unstrittig. So dringt etwa die von Joan Heemskerk und Dirk Paesmans als Netzkunstduo "Jodi" veröffentlichte Arbeit "SoD" (2000) – eine Code-Modifikation des First-Person-Shooters "Spear of Destiny" (1992) aus der "Wolfenstein"-Reihe – gewissermaßen hinter die ästhetische Oberfläche des Shooter-Bildes und lässt ebenso reflexive wie aus der Perspektive habitualisierter Spielhandlungen tendenziell unverständliche Computerspielbilder entstehen. Obwohl hier nicht länger räumliche Verhältnisse zu sehen sind, kommt man nicht umhin, entsprechende Verhältnisse hineinzulesen. "SoD" ist insofern ein Kunstwerk, als es uns in eine Selbstthematisierung unserer Spielhandlungen nicht zuletzt hinsichtlich der Frage verwickelt, wie es um die codeförmige Unterseite von Spielen und ihr Verhältnis zum Sicht- und Hörbaren steht.

Damit ist bereits ein wesentliches Moment der Kunstfähigkeit des Computerspiels wie auch anderer ästhetischer Medien benannt: Computerspiele als Kunstwerke verwickeln uns in eine Thematisierung unserer selbst als Spielende, indem sie ihre eigenen Elemente und Strukturen thematisieren. Plakativer ausgedrückt: Das Spielen von Computerspielen wird hier ein Durchspielen unserer selbst; im Medium der Spielerfahrung reflektieren wir unsere wesentlichen Orientierungen und Verständnisse.

Für die Tiefe und Wichtigkeit von Kunst ist deshalb auch nicht entscheidend, dass sie "tiefe" Themen aufgreift. Wer an einen First-Person-Shooter eine Rahmenhandlung anklebt, in der irgendwelche moralischen Dilemmata thematisiert werden, die aber nichts mit dem eigentlichen Spielgeschehen zu tun haben, oder wer ein Geschicklichkeitsspiel mit Streichern unterlegt und in Pastellfarben inszeniert, produziert nicht mehr als ein missglücktes Kunstwerk. So ist etwa fraglich, ob das viel diskutierte "Detroit: Become Human" (2018) nicht gerade deshalb trotz der relevanten Themen, die es anschneidet (etwa die Frage nach dem ethischen Unterschied zwischen Mensch und Maschine), kolossal scheitert, weil es diese Themen letztlich nicht hinreichend auf das Spielgeschehen selbst bezieht. Es ist zwar nicht durchweg so, dass es eine Einheit von Spielgeschehen und Themen geben muss – im Gegenteil: Das Verfahren synchroner Parallelisierungen verschiedener und unverbundener Elemente ist aus anderen Künsten bekannt – aber die meisten Computerspiele dringen gar nicht bis zu der Ebene vor, dass sie durch künstlerische Verfahren zum Nachdenken anregen, weil sie in klassischen Erzählweisen und Spielmechanismen verhaftet bleiben.

Kunstfähigkeit

Computerspiele als Kunstwerke zu betrachten, heißt, sie als eigenlogische Aushandlungen ihrer Elemente zu begreifen, die die Spielenden durch den Nachvollzug einer solchen Aushandlung in ihren Überzeugungen und Orientierungen zugleich neu aushandeln. Darin unterscheidet sich das Computerspiel nicht grundsätzlich von anderen Künsten, von denen es zehrt und die seit seiner Entstehung zugleich von ihm zehren. Denn ein solches Reflexionsgeschehen leistet jedes gelungene Spiel als Kunstwerk in je eigener Weise.

Nach den hier vorgestellten Überlegungen spricht nichts dagegen, dass das Computerspiel ein kunstfähiges Medium ist. Welche Computerspiele Kunstwerke sind und welche in dieser Hinsicht gelingen oder scheitern, ist eine offene Frage, die immer nur im kollektiven Streit der Spielenden und unter Einbezug ihrer Erfahrungen mit diesen Spielen beantwortet werden kann. Dass aber etwas an dem Gedanken problematisch ist, dass alle Computerspiele der Kunst zuzuschlagen sind und sie grundsätzlich vom Verdacht jeglicher Ideologie zu befreien wären – das hoffe ich zugleich mit der Verteidigung der Kunstfähigkeit des Computerspiels gezeigt zu haben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe hierzu auch den Beitrag von Felix Zimmermann in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  2. Vgl. in diesem Sinne Daniel M. Feige, Computerspiele. Eine Ästhetik, Berlin 2015, S. 90ff.

  3. Vgl. Stephan Günzel, Egoshooter. Das Raumbild des Computerspiels, Frankfurt/M. 2012, S. 48ff.

  4. Vgl. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1988, S. 128ff.

  5. Vgl. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 2000; Johan Huizinga, Homo Ludens, Reinbek 2015.

  6. Siehe hierzu den Beitrag von Yasmina Banaszczuk in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  7. Vgl. am Beispiel von "Call of Duty" (2010) auch Ian Bogost, How to Talk about Videogames, Minneapolis 2015, Kapitel 10.

  8. Vgl. auch Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt/M. 1991, insb. Kapitel 7.

  9. Vgl. weitergehend dazu Daniel M. Feige, Design. Eine philosophische Analyse, Berlin 2018, Kapitel 4.

  10. Vgl. Feige (Anm. 2), Kapitel 3.2.

  11. Zu weiteren Formen des potenziell subversiven Gebrauchs von Computerspielen siehe den Beitrag von Andreas Hedrich und Christiane Schwinge in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  12. Siehe das Video "Jodi SOD", Externer Link: http://www.youtube.com/watch?v=24KQiy0U_Uk.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Daniel Martin Feige für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professor für Philosophie und Ästhetik unter besonderer Berücksichtigung des Designs an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Er ist Autor der Bücher "Computerspiele. Eine Ästhetik" und "Design. Eine philosophische Analyse", die 2015 und 2018 bei Suhrkamp erschienen sind. E-Mail Link: daniel.feige@abk-stuttgart.de