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Der große Verstärker | Bildung und Digitalisierung | bpb.de

Bildung und Digitalisierung Editorial Der große Verstärker. Spaltet die Digitalisierung die Bildungswelt? "Digitalpakt Schule". Föderale Kulturhoheit zulasten der Zukunftsfähigkeit des Bildungswesens? Digitale Bildungsmedien im Diskurs. Wertesysteme, Wirkkraft und alternative Konzepte Mehr als Digitalkompetenz. Bildung und Big Data Bildung der Jugend für den digitalen Wandel Kita 2.0. Potenziale und Risiken von Digitalisierung in Kindertageseinrichtungen Hochschule(n) im digitalen Wandel. Bedarfe und Strategien

Der große Verstärker Spaltet die Digitalisierung die Bildungswelt? - Essay

Jöran Muuß-Merholz

/ 16 Minuten zu lesen

Digitale Medien können ein Katalysator für progressive Pädagogik sein oder ein traditionelles Bildungsverständnis verstärken. Für die Bildung des 21. Jahrhunderts braucht es aber neben einem mächtigen Verstärker vor allem eine Verständigung über die richtige Ausrichtung.

Was sind "digitale Medien"? Zeichnet man ein grundsätzliches, geradezu naives Medienbild, so hilft ein Verständnis, das uns aus der Rede von Tieren vertraut ist. Wir nutzen es, wenn wir über Tiere und ihren Lebensraum sprechen. Wir sagen beispielsweise: "Das Medium des Fisches ist das Wasser." Oder auch: "Das Medium des Regenwurms ist die Erde." Bei einem Menschen, der in einer bestimmten Umgebung gut zurechtkommt, ist eine ähnliche Formulierung gebräuchlich: "Er ist ganz in seinem Element."

Auch in der Biochemie kennen wir ein solches Medienbild, wenn wir von einem "Nährmedium" sprechen, in dem sich beispielsweise Mikroorganismen entwickeln sollen. Alternativ wird für den Begriff "Nährmedium" auch "Nährboden" oder "Substrat" verwendet. Naturwissenschaftler*innen sprechen in diesem Zusammenhang auch von "Milieu" oder "Kulturmedium", was die Nähe zwischen naturwissenschaftlichen und sozialen Verständnissen von Medien deutlich werden lässt. Den Begriffen ist gemeinsam, dass damit der Boden oder eine Umgebung gemeint ist, auf dem und in der etwas geschieht.

Der Pinguin kennt zwei Medien

Beim Pinguin können wir nun ein interessantes Phänomen beobachten. Er führt sein Leben in zwei Medienwelten. Das Medium des Pinguins ist das Wasser, und das Medium des Pinguins ist das Land. Seine Vorfahren hatten vor über 50 Millionen Jahren wohl sogar ein drittes Medium: die Luft. Um den Medienbegriff von diesem Beispiel ausgehend zu abstrahieren, bezeichnen wir das Land als grünes und das Wasser als blaues Medium.

Wir können uns jetzt anschauen, wie der Pinguin in seinen Medien unterwegs ist: Wie bewegt er sich? Wie steht er mit anderen Pinguinen in Kontakt? Wie weit erstreckt sich sein Aktionsradius? Was fällt ihm leicht, was fällt ihm schwer? Viele Unterschiede sind offensichtlich, wenn wir das grüne und das blaue Medium miteinander vergleichen. Wir Menschen lernen gerade digitale Medien kennen, die in vielfacher Hinsicht neu und andersartig sind. Es ist, als hätten wir bisher in einer grünen Medienwelt gelebt und sähen uns nun mit der neuen, der blauen Medienwelt konfrontiert.

Zum Kennenlernen einer Medienwelt gehört, dass wir das Neue und Unbekannte mit dem Alten und Bekannten vergleichen. Wir machen gewissermaßen einen Medienvergleich. Das passiert, wenn wir Eigenschaften der blauen Medienwelt in Abgrenzung zur grünen Medienwelt beschreiben und beispielsweise feststellen, dass man sich in dem einen Medium schneller bewegen kann als im anderen oder dass Raum und Zeit je nach Medium eine unterschiedliche Bedeutung haben.

Solche Vergleiche sind notwendig und unvermeidlich, da unsere Maßstäbe durch die uns bereits bekannte Medienwelt geprägt sind und wir kaum andere haben. Schwierig wird es immer dann, wenn wir etwas nicht nur vergleichen, sondern als besser oder schlechter einstufen wollen. Denn die Medienwelten können nicht immer mit demselben Maßstab gemessen werden. Sie folgen unterschiedlichen Naturgesetzen. Das macht besonders die Rede vom "Mehrwert digitaler Medien" problematisch, die gerade in pädagogischen Kreisen beliebt ist.

Eine zentrale Voraussetzung, um Medienwelten nicht nur vergleichend beschreiben, sondern einen Mehrwert bewerten zu können, ist die Vergleichbarkeit der Bedingungen. Bei Laborexperimenten wird das ermöglicht, indem man die Untersuchung auf eine bestimmte Eigenschaft konzentriert und alle anderen Parameter stabil hält. Es leuchtet unmittelbar ein, dass die zwei Medien des Pinguins so unterschiedlich sind, dass vergleichbare Bedingungen nicht beziehungsweise nur mit unsinnigen Grundannahmen hergestellt werden können. Wollte man beispielsweise die Geschwindigkeit des Pinguins untersuchen, so würde man zwecks gleicher Parameter vorgeben, dass der Pinguin in beiden Medien – also sowohl im Wasser als auch auf dem Land – auf dem Boden laufen muss.

Die grüne Medienwelt und die blaue Medienwelt sind aber ganz unterschiedlich. Man könnte sogar sagen, sie sorgen für unterschiedliche Naturgesetze als Basis und Umgebung unserer Leben. Hier steckt die fehlerhafte Grundannahme, auf der manche vereinfachende Thesen bauen. Sie gehen irrtümlich von einer statischen Welt aus, in der nur ein einzelner Baustein verändert wird, ohne dass diese Veränderung Wechselwirkungen zu anderen Bausteinen hätte.

Vor diesem Hintergrund kann man auch nicht behaupten, dass digitale Medien nur ein Werkzeug für den Unterricht seien. Sie können die Funktion eines Werkzeugs übernehmen, allein ihre Existenz erweitert und verändert aber schon unseren gedanklichen Spielraum. Digitale Medien sind für unser Leben und Lernen also nicht neutral, kein Übertragungskanal zum Ausdruck fertiger Gedanken. Bereits Friedrich Nietzsche merkte in einem Brief an seinen Freund und Mitarbeiter Heinrich Köselitz im Februar 1882, wie die Umstellung von Handschrift auf das Medium der Schreibmaschine seine Texte veränderte: "Sie haben Recht: unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken. Wann werde ich es über meine Finger bringen, einen langen Satz zu drücken!"

Kopfüber ins Blaue Medium?

Wir sprechen in der Debatte über digitale Medien auch von den "neuen Medien". Bundeskanzlerin Angela Merkel prägte bei einer Pressekonferenz mit dem damaligen US-Präsidenten Barack Obama im Juni 2013 den Satz: "Das Internet ist für uns alle Neuland." Manche, die sich bereits länger mit digitalen Medien beschäftigen, belächeln diese Wortwahl und weisen darauf hin, dass zahlreiche Formen digitaler Medien seit Jahrzehnten existieren und für viele, insbesondere junge Menschen, selbstverständlich seien.

Ich halte Begriffe wie "neue Medien" oder "Neuland" dagegen für hilfreich. Sie machen nämlich deutlich, dass wir es nicht nur mit einer Verstärkung oder mit einer Optimierung dessen zu tun haben, was schon da war, sondern tatsächlich mit etwas Neuem, mit etwas grundlegend Anderem als der alten Medienwelt. Das gilt umso mehr, wenn man in Betracht zieht, dass Digitalisierung kein statischer Zustand ist. Die digitalen Medien verändern sich mit hohem Tempo und in unvorhersehbare Richtungen. Unser Thema entwickelt sich weiter, noch während wir darüber nachdenken und sprechen. Die Rede von neuen Medien ist also durchaus sinnvoll.

Gehen wir einen Schritt zurück zu den Pinguinen, die sowohl mit dem blauen als auch mit dem grünen Medium vertraut sind. Im historischen Maßstab haben wir Menschen, die bisher im grünen Medium heimisch waren, das blaue Medium gerade erst kennengelernt. Genauer gesagt: Wir haben mit dem Kennenlernen eben erst begonnen. Einige stürzen sich gleich kopfüber hinein in das neue Medium, während andere zögernd am Ufer stehen und es zaghaft mit dem großen Zeh austesten.

Wie können wir uns angesichts der großen Ungewissheiten verhalten, mit denen wir im digitalen Wandel den neuen Medien gegenüberstehen? Eigentlich ist schon diese Frage falsch formuliert. Denn wir stehen den digitalen Medien nicht gegenüber, sondern wir stehen mittendrin. Wir versuchen herauszufinden, wie dieses neue Medium funktioniert und wie es sich anfühlt.

Neue Einigkeit?

Fragen zur Digitalisierung in der Bildung wurden in Deutschland lange nur am Rande oder gar nicht behandelt. Mittlerweile hat sich das geändert. Wir sehen aktuell nicht einen Hype, sondern geradezu eine Hysterie. Die Forderung, Bildung müsse digitaler werden, ist allgegenwärtig. In begrenzter Hinsicht mag die Digitalisierungseuphorie begründet sein. Mit bunten Apps mag das Lernen von Vokabeln, das Üben von Matheaufgaben oder das Aneignen von Regeln der neuen Datenschutzgrundverordnung leichter, schneller und günstiger sein, ja möglicherweise sogar Spaß machen. Mit Erklärvideos lassen sich frontale Belehrungen mehrmals wiederholen, wahlweise im halben oder doppelten Tempo. Die Tafel kann durch Powerpoint-Präsentationen mit Animationen und Videos ersetzt werden. Und mit Lernplattformen lassen sich Materialien und Kommunikationsprozesse cloudbasiert vervielfältigen und beschleunigen. Bei Politik und Wirtschaft, Lehrer*innen und Schüler*innen, Journalist*innen und Stiftungen scheint eine Konsensstimmung zu herrschen, dass es einem unheimlich werden kann. Das Unbehagen ist begründet, denn hinter der oberflächlichen Digitalisierungseuphorie steckt die Vorstellung, unser traditionelles Verständnis von Lehren und Lernen mit digitalen Mitteln zu optimieren, ohne die Grundannahmen der Bildung anzutasten. Anders formuliert: Wir gießen den alten Wein in Hightech-Schläuche.

Der Umbruch ist aber von grundsätzlicher Natur. Das lässt sich daran erkennen, dass die großen Fragen sich über Altersstufen und Bildungsbereiche hinweg gleichen. Im Bankenhochhaus in Frankfurt am Main, in der nächstgelegenen Schule sowie in Hoch- und Volkshochschulen stehen die Verantwortlichen vor ähnlichen Fragen in Bezug auf ihre Mitarbeiter*innen, Studierenden, Kursteilnehmer*innen oder Schüler*innen. Was machen wir, wenn diese Lernenden privat eine bessere technische Ausstattung haben, als wir ihnen in den Bildungsinstitutionen bieten können? Wie gehen wir damit um, dass sie lieber über Whatsapp kommunizieren als mit den von uns bereitgestellten Mitteln? Wissen wir überhaupt, welche Infrastruktur im Moment bei ihnen beliebt ist – und was sagt der oder die Datenschutzbeauftragte dazu? Was tun wir, wenn im Internet tausend andere Quellen neben das von uns angebotene Material treten?

Digitale Medien erscheinen als eine Form von Kontrollverlust für alle diejenigen, die im traditionellen System an den Hebeln saßen. Plötzlich verfügen die Lernenden über technische Möglichkeiten, die die Autorität von Institution und Lehrpersonen zu untergraben drohen. In den vergangenen Jahren eigneten sich zunächst diejenigen die digitalen Medien an, die in den etablierten Settings die Schwächeren sind: die Lernenden. Mit dem Smartphone auf beziehungsweise unter dem Tisch konnten sie viele Strukturen, Routinen und Kontrollen umgehen oder sich zunutze machen.

Wer heute über eine Bildungsmesse läuft, sieht die Gegenreaktion überall auf den Werbebannern. Das Versprechen lautet: Die Bildungsinstitution kann die Kontrolle zurückgewinnen. Im ersten Schritt sollten die alten Verhältnisse wiederhergestellt werden, indem die digitalen Geräte verboten und weggesperrt werden. Mittlerweile steht bereits eine zweite Stufe der Reaktion auf den digitalen Kontrollverlust an. Bei dieser geht es um den gegenteiligen Ansatz: Bildungsinstitutionen gewinnen die Kontrolle nicht trotz, sondern durch digitale Medien zurück. Wenn Hardware und Software in der Hand der Institution oder der Lehrperson liegen, dann lasse sich darüber das Verhalten der Lernenden beobachten und steuern – und zwar potenziell um Größenordnungen besser als ohne digitale Medien. Diese "Kontrolle 2.0" ist das neue große Versprechen der Digitalisierungsindustrie. Die Frage allerdings bleibt, ob dies im Dienste des Lernens geschieht und nicht um der Kontrolle selbst willen.

Die Progressiveren unter den Verantwortlichen fragen sich: Wie können wir erreichen, dass die Lernenden angesichts der neuen digitalen Möglichkeiten in der Lern- und Arbeitswelt mit mehr Selbststeuerung agieren, dass sie stärker auf Zusammenarbeit und Kreativität setzen, in einer unübersichtlichen Welt kritischer und souveräner denken und handeln? Und was tun wir, wenn wir den Lernenden mehr Freiheit und Selbstständigkeit zugestehen, diese aber gar nicht so frei und selbstständig sein wollen, wie wir es vorgesehen hatten? Ist das alles nur eine Frage der richtigen Haltung? Oder haben wir mit unseren Bildungsorganisationen den Lernenden jahrzehntelang Freiheit und Selbstständigkeit ausgetrieben? Vielleicht fehlt den Lernenden das richtige Rüstzeug für das digitale Zeitalter? Aber fehlt dieses den Verantwortlichen selbst nicht auch? Und ist das Ganze nur eine Frage der richtigen Medien und der entsprechenden Methoden? Oder braucht es angesichts des großen Umbruchs nicht eine grundsätzliche Debatte über die Inhalte und Ziele von Bildung im 21. Jahrhundert?

Bei einem genauen Blick in die Praxis ist der Konsens über die Versprechungen der Digitalisierung also doch nicht flächendeckend. An vielen Bildungsorten gibt es eine Spaltung. Vielleicht war sie schon vorher da. Je lauter die Digitalisierungsdebatte aber wird, desto sichtbarer und tiefer wird sie. Gegenüber den Befürworter*innen der digitalen Erneuerung haben sich die Skeptiker*innen formiert. Sie warnen vor einem Verlust von jahrhundertealten Kulturtechniken und Werten, vor Technisierung und Kommerzialisierung, einem Verlust an Menschlichkeit und einer Abhängigkeit gegenüber den Maschinen.

Nun könnte aus der Auseinandersetzung zwischen Freund*innen und Skeptiker*innen der Digitalisierung eine denkbar fruchtbare Debatte entstehen. Aber sie ist stattdessen denkbar furchtbar. Die Positionen polarisieren sich, die Gräben weiten sich, die Vereinfacher*innen und Zuspitzer*innen treten auf den Plan. Am deutlichsten wird das dort, wo diejenigen betroffen sind, über die man am einfachsten entscheiden kann: Kinder und Jugendliche. Vielen Schulen ist ein hoher Stellenwert digitaler Medien zunehmend wichtig. Die Industrie sucht sogar "die digitalste Schule" – von Düsseldorf, von Hamburg oder gleich von ganz Deutschland. Andere Schulen definieren sich stolz darüber, eine Art digitalen Schonraum zu bieten. Zahlreiche Expert*innen bringen sich mit vorzugsweise extremen Positionen in Stellung, wollen beispielsweise das Smartphone für Kinder und Jugendliche verbieten, wahlweise bis zum Alter von 14, 16 oder 18 Jahren.

Die Polarisierung verläuft nicht nur zwischen den Schulen und anderen Bildungsorten, sondern häufig mitten durch Kollegien und Teams. Es ist unklar, wohin diese Spaltung uns in den nächsten Jahren führen wird. Steht uns eine stärkere Polarisierung bevor, mit starken Kontrasten zwischen einzelnen Schulen oder sogar einzelnen Lehrenden? Einiges spricht dafür. Schon jetzt sehen wir große Unterschiede in den Leitbildern der Bildungseinrichtungen, im pädagogischen Selbstverständnis, in den Grundformen von Lehren und Lernen. Es ist denkbar und wahrscheinlich, dass Digitalisierung diese Richtungsunterschiede noch verstärken wird.

Digitalisierung als Verstärker

Der Bildungsbereich ist in Sachen Digitalisierung spät dran. Andere gesellschaftliche Bereiche waren da schneller – was für die Bildungsinstitutionen ein Vorteil sein kann. Sie können von dem profitieren, was wir in den vergangenen Jahren in anderen Bereichen über digitale Medien gelernt haben. Vor zu konkreten Übertragungen muss man sich hüten, aber wir können grundsätzlich festhalten: Digitale Medien fungieren als extrem mächtige Verstärker für Vorhandenes: Wer in der prädigitalen Zeit gerne auf dem Sofa herumhing, kann mit digitalen Medien noch besser auf dem Sofa herumhängen. Wer gerne raus in die Welt geht, sich mit anderen Menschen vernetzt und Neues erkundet, kann dies mit digitalen Medien noch besser tun. Wer anfällig für Manipulation und Bevormundung ist, kann mit digitalen Medien noch besser manipuliert und bevormundet werden. Wer die Welt kritisch hinterfragen und gestalten möchte, kann die Welt mit digitalen Medien noch besser kritisch hinterfragen und gestalten. Wer gerne mit starker Struktur und enger Kontrolle unterrichtet, kann mit digitalen Medien noch besser mit starker Struktur und enger Kontrolle unterrichten. Wer gerne Unterricht gemeinsam mit Kolleg*innen neu entwickelt und sich ständig fortbildet, findet in digitalen Medien hilfreiche Verstärkung.

Was auf individueller Ebene gilt, lässt sich auch auf Ebene der Bildungsinstitutionen anwenden: Eine traditionelle Bildungsinstitution, die auf Lehrerzentrierung und Belehrung, isoliertes Lernen und feststehende Ergebnisse hin orientiert ist, kann diese Ausrichtung mit digitalen Medien verstärken und optimieren. Eine progressive Bildungsinstitution, die die Lernenden stärken, forschendes und problemorientiertes Lernen unterstützen, Perspektive und Kontext berücksichtigen und Informationen sinnhaft verknüpfen will, kann ihre Ziele ebenfalls mit digitalen Medien besser erreichen.

Digitale Medien verstärken also nicht per se eine Richtung, sondern auch diejenigen Voraussetzungen, Interessen und Tendenzen, die uns gar nicht bewusst sind. Was wir jetzt säen, kann durch sie einen Turbodünger erhalten – selbst wenn wir uns der Art unserer Saat nicht ganz im Klaren sind. Umso wichtiger ist es, dass wir Grundsatzdebatten führen. Optimieren wir nur das Lernen des 19. und 20. Jahrhunderts? Verhindert die Rede von digitaler Bildung sogar einen notwendigen Paradigmenwandel? Welche Bildung wollen wir für das 21. Jahrhundert? Verstärken und optimieren wir das, was wir schon kennen? Oder entwickeln wir mit digitaler Verstärkung neue Formen, die wir teils noch nicht gut kennen?

Bildungsziele und Lernformen

Ein beliebtes Konzept ist ein Kurs im Umgang mit digitalen Medien, an dessen Ende ein "Freischwimmer"-Zertifikat steht. Für den Anfang mag das hilfreich sein. Aber die großen Fragen des digitalen Wandels werden wir nicht über Anleitungen und Nachmachen beantworten können. Es geht vielmehr um Experimentieren und Herausfinden, um Erkundungen und Erprobungen in der neuen Medienwelt. Das braucht es auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene, wenn wir Verständnis und Gestaltung der neuen Medien nicht Geheimdiensten und Großunternehmen überlassen wollen. Und das gilt auf der persönlichen Ebene, auf der wir am besten nicht nur auf uns allein gestellt, sondern in kleinen Lerngemeinschaften arbeiten. Unsere Bildungseinrichtungen können gute Orte dafür sein.

Ein Gegenbild zur bloßen Optimierung der traditionellen Bildung setzt dabei ein neues Verständnis von Bildungszielen und Lernformen voraus. Erstere müssen auf ein umfassenderes Bildungsverständnis zielen. Bei Letzteren muss dem Empowerment der Lernenden eine besondere Bedeutung zukommen. Bildungsziele und Lernformen stehen in direkter Wechselwirkung zueinander, sind miteinander verflochten und nur analytisch trennbar.

Schauen wir zuerst auf die Bildungsziele. Im Kontext des digitalen Wandels wird häufig die These vertreten, dass Fachwissen zugunsten von anderen Fähigkeiten in den Hintergrund trete. Den Gegenbeweis treten die Lern- und Bildungsforscher*innen Charles Fadel, Maya Bialik und Bernie Trilling an und zeigen, dass die Dimension des Wissens bedeutend bleibt, zugleich aber noch drei weitere Dimensionen wichtig sind, nämlich skills (kritisches Denken, Kreativität, Kommunikation, Kollaboration), Charakter (Fragen der Persönlichkeit wie etwa Achtsamkeit und Neugier) und Meta-Lernen (Lernen über das Lernen).

Es ist offensichtlich, dass in den traditionellen Lernkontexten bisher vorwiegend auf die Dimension des Wissens und hier, einem traditionellen Verständnis folgend, vor allem auf Bereiche wie Mathematik, Sprachen oder Kunst gesetzt wird und die anderen Dimensionen eher randständig sind. Wenn man 2019 die Diskussion um digitale Medien in der Bildung auf die Bildungsziele hin abklopft, findet man das Thema nur an den Stellen dieses Gesamtbildes verortet, die dem traditionellen Status entsprechen. Der Fachunterricht soll verbessert, die Medienkompetenz unterstützt und der Fachkräftenachwuchs gefördert werden – das alles möglichst digital und effizienter als vorher. Von den erweiterten Bildungszielen ist auch oder vielleicht gerade im Kontext der Digitalisierung selten die Rede.

Mit Blick auf die Lernformen zeigt die Lehrerin und Fortbildnerin Lisa Rosa auf Basis der sich ändernden gesellschaftlichen Anforderungen, dass sich unsere Anforderungen an Schule und Lernen im digitalen Zeitalter grundlegend von dem unterscheiden, was wir im vom Buchdruck geprägten Zeitalter praktiziert haben. Was hier für das Themenfeld "Schule" beschrieben wird, lässt sich auf andere Bildungsbereiche übertragen, von der Ausbildung über das Studium bis zum berufsbegleitenden Lernen (Tabelle).

Die in der Mitte der Gegenüberstellung von mir hinzugefügten wechselseitigen Pfeile weisen darauf hin, dass es nicht darum geht, die Elemente der linken Seite abzuschaffen oder zu ersetzen. Die neuen Perspektiven auf der rechten Seite gewinnen an Gewicht, ergänzen und verändern unser Verständnis von Lehren und Lernen.

Modelle für ein solches Lernen gibt es bereits. Die rechte Seite der Gegenüberstellung spiegelt sich heute im Selbstverständnis einiger progressiver Bildungseinrichtungen, auch wenn ihre Wurzeln teilweise auf hundert Jahre alte Konzepte zurückgehen. Das gilt, obwohl sie häufig nicht besonders "digital" im technologischen Sinne sind.

Lehr- und Lernverständnis in unterschiedlichen Epochen (© Lisa Rosa, Lernen im digitalen Zeitalter, 28. 11. 2017, shiftingschool.wordpress.com/2017/11/28/lernen-im-digitalen-zeitalter, geänderte Darstellung.)

Gleichzeitig sehen wir zahlreiche Digitalisierungsbemühungen, die auf eine Stärkung der rechten Seite der Gegenüberstellung zielen. Es ist nicht so, dass mit zunehmender Digitalisierung automatisch mehr progressive Pädagogik Einzug in die Bildung hält. Im Moment sieht es eher nach dem Gegenteil aus: Mit neuen Medien werden alte Pädagogiken optimiert. Mehr Input, mehr Übung im traditionellen Sinne. Mehr Dekontextualisierung, mehr Lernen allein, mit festliegendem Ergebnis, mit vorgegebener Bedeutung. Wir optimieren und stärken das, was Lehren und Lernen im Buchdruckzeitalter ausgemacht hat.

Polarisierung oder Versöhnung?

Digitale Medien können ein Katalysator für progressive Pädagogik und Empowerment, erweiterte Bildungsziele und neue Lernformen sein. Sie können als omnipotente Kontrollmaschine(n) aber ebenso ein traditionelles Verständnis von Lernen und Bildung verstärken. Schaut man auf die aktuelle Praxis, so finden sich Belege für beide Richtungen: Es gibt Praxisgeschichten von Lernorten, an denen digitale Medien als Katalysator dienten. Wo Schulleiter*innen berichten, dass Digitalisierung zum Ausgangspunkt eines pädagogischen Wandels wurde, der so nicht vorgesehen war. Wo Pädagog*innen zeigen, dass Lernen in Projekten und an Produkten anders und besser als in prädigitalen Zeiten funktioniert. Wo Unterricht durch digitale Medien stärker auf Selbstbestimmung und Zusammenarbeit aufbaut. Gleichzeitig erleben wir die Entstehung digital optimierter Kontrollsettings, in denen jeder Schritt überwacht und überprüft werden kann.

Die Gräben zwischen den Befürworter*innen und den Skeptiker*innen der Digitalisierung in der Bildung ist nicht identisch mit dem Verständnis von Bildung für das 21. Jahrhundert, die die Akteure haben. Die Fronten laufen quer dazu. Es gibt also zwei Spaltungen, entsprechend lassen sich vier Positionen kategorisieren: Erstens die Befürworter*innen der Digitalisierung, die das Lernen einem traditionellen Bildungsverständnis entsprechend optimieren wollen. Zweitens die Befürworter*innen der Digitalisierung, die ein neues Bildungsverständnis unterstützen und teils erst entwickeln wollen. Drittens die Gegner*innen der Digitalisierung, die darin eine Bedrohung der traditionellen Bildung sehen und viertens die Gegner*innen der Digitalisierung, die ein neues Bildungsverständnis unterstützen und teils erst entwickeln wollen.

Selbstverständlich ist das zu dichotomisch, zu sehr in "Entweder oder"-Mustern gedacht, um der komplexen Wirklichkeit gerecht zu werden. Sicher gibt es auch "Sowohl als auch"-Antworten, in denen die Möglichkeiten der digitalen Medien zur Optimierung des Lehrens eingesetzt und zugleich neue Formen erprobt und ausgedehnt werden. Vielleicht lassen sich beide Perspektiven miteinander versöhnen. Möglicherweise ist dieses "Sowohl als auch" stärker als eine Versöhnung, und es braucht beides zusammen, um die Bildungsziele des 21. Jahrhunderts angehen zu können. Denn diese sind so umfassend und anspruchsvoll, dass weder der eine noch der andere Ansatz allein ausreichen wird. Mit optimierten Lehrangeboten lassen sich vielleicht die traditionellen Bereiche schneller und effizienter bearbeiten, aber sicher keine skills wie Kreativität oder kritisches Denken und keine Charaktereigenschaft wie Neugier fördern. Dafür braucht es die neuen pädagogischen Formen.

Wenn wir die Bildungsziele des 21. Jahrhunderts ernst nehmen, brauchen wir eine digitale Effizienzdividende aus dem optimierten Lehren. Lernende und Lehrende haben begrenzte Ressourcen. Es ist hilfreich, wenn sie weniger davon darauf verwenden müssen, etwas zu üben oder Geübtes zu kontrollieren. Die größere Herausforderung besteht darin, dass wir progressive Formen für die erweiterten Lehr- und Lernziele entwickeln müssen, während wir gleichzeitig eine neue Medienwelt zu erkunden haben. Dafür braucht es nicht nur einen großen Verstärker, sondern auch die richtige Ausrichtung. Ein Zusammenspiel aus verschiedenen Richtungen bei gleichzeitiger Verstärkung ist nicht einfach, aber wichtig.

ist Diplom-Pädagoge und Gründer der Agentur J&K – Jöran und Konsorten. Er arbeitet an den Schnittstellen zwischen Bildung und Lernen und publiziert schwerpunktmäßig zum Lernen in der digitalen Welt. E-Mail Link: buero@joeran.de