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Deutschland in Afrika. Der Kolonialismus und seine Nachwirkungen | Afrika | bpb.de

Afrika Editorial Deutschland in Afrika. Der Kolonialismus und seine Nachwirkungen Deutschland, Afrika und die Entstehung gemeinsamer Interessen Wirtschaftsreformen und Armutsbekämpfung in Afrika Prinzipien, Ziele und Institutionen der Afrikanischen Union Südafrikas gelungener Wandel Der Konflikt in Darfur

Deutschland in Afrika. Der Kolonialismus und seine Nachwirkungen

Dirk van Laak

/ 22 Minuten zu lesen

Dass Deutschland einmal Kolonien in Afrika besessen hat, ist aus dem nationalen Gedächtnis weitgehend verdrängt worden. Dabei war die imperialistische Expansion für Generationen von Deutschen eine nationale Schicksalsfrage.

Einleitung

Wenige Weltgegenden erscheinen heute von Deutschland aus so weit entfernt wie Afrika. Der Berichterstattung über afrikanisches Leben zufolge herrscht dort für Tiere das Paradies, für Menschen jedoch dieHölle. Keine der menschlichen Apokalypsen - Armut, Hunger, Seuchen, Staatszerfall und Kriege -, die nicht auf Afrika inExtremform zutrifft. Seit den achtziger Jahren gilt Afrika geradezu als "vergessener" Kontinent. Nahezu jeder Optimismus, von Europa aus für ein gutes Jahrhundert genährt, ist inzwischen verschwunden. "Im Herzen des Kontinents sind ganze Landstriche in die Unentdecktheit zurückgesunken." Nur in weltpolitisch ruhigen Zeiten besinnen sich die Medien auf die Potenziale des Kontinents. Ansonsten zeichnet Afrika in Europa und Amerika eine Abwesenheit aus, die schon deshalb auf ein schlechtes Gewissen schließen lässt, weil sie mit der ständigen Aufforderung zur humanitären Hilfe verbunden ist. Dass Deutschland in Afrika einmal Kolonien besaß und sogar ein geschlossenes mittelafrikanisches Kolonialreich angestrebt hat, ist im öffentlichen Bewusstsein wenig präsent.

Dabei war das nach 1945 teilweise aktiv verdrängte Erbe des Kolonialismus bis dahin überaus lebendig. Anfang der vierziger Jahre besaß der Reichskolonialbund fast zwei Millionen Mitglieder, beträchtliche Geldbeträge flossen in die Kolonialforschung. In den Schubladen zahlreicher Instanzen lagen ausgearbeitete Pläne für eine erneute Inbesitznahme der im Ersten Weltkrieg verlorenen Gebiete bereit. Unzählige Freiwillige meldeten sich für einen baldigen Einsatz auf dem südlichen Kontinent. Die fachlichen Kenntnisse der deutschen Kolonial- und Tropentechnik waren auf dem neuesten Stand. Und einer der letzten Spielfilme des "Dritten Reiches", der nicht mehr uraufgeführte "Quax in Afrika", ließ Heinz Rühmann 1945 noch einmal zum schwarzen Kontinent fliegen - wo er freilich eine Bruchlandung erlebte.

Diese Bilanz war für den deutschen Kolonialrevisionismus nach 1918, vielleicht sogar für den deutschen Kolonialismus seit 1884 insgesamt zu ziehen. Doch zeigen die Filme und die Erwartungen der Koloniallobby zugleich, wie stark die afrikanischen Phantasien in Deutschland lange Zeit waren. Als die Sieger des Ersten Weltkriegs Deutschland 1919 aus dem Kreis der aktiven Kolonialmächte ausschlossen, rief dies einen Aufschrei der Empörung hervor. Die politische Zustimmung zu den Kolonien war in Deutschland am einmütigsten, als die kolonisatorische Mission der Deutschen von außen her für beendet erklärt wurde und Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika, Kamerun und Togo als Mandatsgebiete in die Verwaltung der ehemaligen Kriegsgegner übergingen. Wirtschaftlich und finanziell traf der Verlust das Deutsche Reich freilich kaum. Der Anteil der Kolonien am deutschen Außenhandel betrug 1913 gerade einmal 0,6 Prozent. Nicht zuletzt brandmarkten die Kolonialgegner die dreißig Jahre, in denen Deutschland einige wenig ertragreiche Gegenden in Afrika, einen Brückenkopf in China sowie einige südpazifische Besitzungen besessen hatte, oft genug als "nationales Verlustgeschäft".

Imperialistischer Denkstil

Wie ist dieser Widerspruch zwischen der geringen Bedeutung der deutschen Kolonien und der heftigen Empörung über ihren Verlust zu erklären? Verständlich wird die Emphase, mit der die Kolonialrevisionisten nach 1918 auf Kolonien als Siedlungs- und Lebensräume, als Rohstoff- und Absatzmärkte pochten, nur vor dem Hintergrund einer Weltsicht, die eine ganze Epoche des europäischen Kolonialismus zwischen dem ausgehenden 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts prägte. In Europa und Amerika ging man im Zeitalter des Imperialismus von der unbedingten Notwendigkeit einer weltweiten Erschließung von Raum und Ressourcen aus. Die dynamische Entwicklung der Industrialisierung und Urbanisierung, vor allem die rasante Entwicklung von Verkehrs- und Kommunikationseinrichtungen, schoss über die nationalen Grenzen hinaus und ließ eine aktive Raumordnung angeraten sein. Dabei bildete sich ein nationaler Leistungswettbewerb sowie eine weltweite Rivalität um Ressourcen heraus, die für ein stetiges Wachstum der "jungen" und "kräftigen" Nationen notwendig schienen. Der modernen Technik und der Medizin kamen dabei zentrale Funktionen zu, denn sie bestätigten dem Augenschein nach die Überlegenheit der "entwickelten" Völker und Nationen. Die Europäer verstanden es als ihre Mission, die "Segnungen der Technik", die sie zu Hause als so umwälzend erlebten, in die Welt zu tragen. Der wissenschaftlich-technische "Fortschritt" wurde zu einer Erfolgsideologie, die durch fortgesetzte Triumphe - etwa den Bau des Suezkanals, die Vollendung der transkontinentalen Eisenbahnlinien in den USA oder die Verlegung der Unterseekabel - immer wieder bestätigt wurde.

"Die Weltmachtpolitik ist eng gebunden an die Beherrschung der weltwirtschaftlichen Hochstraßen. (...) Eisenbahn und Telegraf, Dampfschiff und Kabel sind die Werkzeuge, durch die der moderne 'homo sapiens' sich alle Teile der Erde erschlossen und unterworfen hat - sie sind zugleich hervorragende Werkzeuge politischer Macht und die besten Waffen eines neuzeitlichen Staates im Kampfe um die Teilung der Welt." Zur "Torschlusspanik" um die letzten unerschlossenen Räume, um Einflussgebiete, Märkte und Absatzgebiete gesellte sich die Bevölkerungsfrage: Unter den Vorzeichen einer weltweiten Konkurrenz machte es sehr wohl einen Unterschied, wem die Auswanderung letztlich zugute kam, die sich in Deutschland schubweise vollzog. Es schien angeraten, den deutschen Emigranten Alternativen zu bieten, damit sie sich nicht als "Völkerdünger" in die Welt zerstreuten. Vielmehr sollten sie nach Möglichkeit ein "Deutschland in Übersee" gründen oder wenigsten als "Brückenköpfe" des deutschen Einflusses wirken.

Eng verknüpft mit der Gründung eines Nationalstaats erschien es vielen Deutschen schon 1848 selbstverständlich, dass sich aus einem geeinten Reich gleichsam naturwüchsig so etwas wie deutsche "Weltpolitik" entwickeln werde. Zahlreiche "Lehnstuhl-Eroberer" glaubten schon lange vor der aktiven deutschen Kolonialpolitik aus der Beobachterposition heraus, die besseren Kolonisatoren zu sein. Die in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzende, rund dreißigjährige Realgeschichte des deutschen Kolonialismus besaß eine längere Vorgeschichte, in der bereits mit Siedlungs- und Erschließungskolonien experimentiert sowie ein ganzes Tableau kolonialer Erwartungen formuliert wurde. Die verschiedenen Kolonisationsvereine in Nord-, Mittel- und Südamerika scheiterten jedoch. Besonders nach 1871 wiesen Reisende die Regierung des Deutschen Reiches immer wieder auf Gebiete hin, die sich angeblich zu einem "deutschen Indien" eigneten. Afrika als letzter "unerschlossener" Kontinent schien vergleichsweise billig und risikoarm erobert und friedlich aufgeteilt werden zu können. Bismarck, bis dahin den Kolonien gegenüber zögerlich, versuchte auf der von November 1884 bis Februar 1885 tagenden Kongo-Konferenz in Berlin die Rechtstitel zu klären, mit denen bislang scheinbar "herrenloses" Land okkupiert worden war. Denn eine "Balgerei um Afrika", von der die "Times" im selben Jahr schrieb, hätte schädlich auf die europäische Gleichgewichtspolitik rückwirken können.

Das 1884 durch die Verleihung von "Schutzbriefen" an Abenteuer suchende Händler wie Adolf Lüderitz oder Conquistadoren wie Carl Peters entstandene deutsche Kolonialreich war in seiner Ausdehnung willkürlich und zufällig. Peters räumte später ein,bei der Auswahl der deutschen Kolonien hätten weder "geographische noch ethnographische, landwirtschaftliche, noch handelspolitische, sprachliche, noch klimatische oder militärische Gesichtspunkte" eine Rolle gespielt. Das war keineswegs ungewöhnlich.Die Gründe, Kolonien zu erwerben, waren nicht nur strategischer, "weltpolitischer" oder wirtschaftlicher Natur. Exotik und Erotik, von Reiseberichten und Abenteuerromanen geschürt, gehörten ebenso zum Kolonialismus wie Fernweh und "Tropenfieber", die eine realistische Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen dem Eigenen und dem "Fremden" trübten.

Nicht zuletzt aus Prestigegründen fiel es vielen Kolonialenthusiasten schwer, sich mit dem Erreichten zufrieden zu geben. Am lautstärksten agitierte der "Alldeutsche Verband" für territoriale Erweiterungen. Deutsche "Weltpolitiker" verwiesen zudem darauf, dass man zwar eine Fläche von 2 953 000 qkm verwaltete, also fünfmal mehr als das Deutsche Reich. Die Niederländer, Portugiesen, Spanier, Belgier, Franzosen und vor allem Briten jedoch besäßen im Verhältnis zum "Mutterland" noch weitaus größere Kolonialreiche. Doch trotz des imperialistischen Konkurrenzdenkens gab es bis 1914 nur selten die Gefahr militärischer Konflikte. Ein Räderwerk an territorialen und politischen Kompensationsgeschäften nahm dem europäischen Wettlauf um Raum und Ressourcen viel an Zündstoff. Durch ihre fortgesetzten Forderungen und das diplomatische Ungeschick gerade ihres Kaisers Wilhelm II. brachten sich die Deutschen dennoch immer wieder in Bedrängnis. Letztlich überwog aber die Einigkeit der europäischen Kolonisatoren bis zum Ersten Weltkrieg, besonders dann, wenn ihr Anspruch von den Kolonisierten, wie im Falle des chinesischen Boxeraufstandes, einmal kollektiv in Frage gestellt wurde.

Das koloniale Dilemma

Unter Bismarck wollte das Deutsche Reich zunächst lediglich als Sicherungsmacht in den Kolonien präsent sein, der offizielle Ausdruck "Schutzgebiete" dokumentierte dies sinnfällig. Dieser Ansatz beruhte auf der Erwartung, dass die lautstarke Koloniallobby - seit 1887 zur "Deutschen Kolonialgesellschaft" zusammengeschlossen - sich in privater Initiative für die Erschließung der neu erworbenen Gebiete einsetzen würde. Die wirtschaftliche Entwicklung und Teile der Verwaltung wurden daher Terrain-, Charter- und Handelsgesellschaften übertragen, denen auch der Aufbau einer Infrastruktur überlassen wurde. Es erwies sich jedoch, dass deutsche Unternehmer in Afrika zwar an Gewinnen, nicht aber an einer koordinierten Entwicklung der Gebiete interessiert waren. Ohne dauerhafte staatliche Investitionen waren die Kolonien weder in lohnende Wirtschafts- noch in Siedlungsgebiete zu verwandeln. Auch vom anhaltenden Widerstand der indigenen Bevölkerung war man überrascht. Die ersten Maßnahmen bestanden daher in einer "Befriedung" der Gebiete - die meist gewaltsam erfolgte und selten dauerhaft gelang - sowie in der medizinischen Vorsorge und Ungezieferbekämpfung, um den Aufenthalt weißer Soldaten, Verwaltungsbeamter und Siedler überhaupt zu ermöglichen. Weil die Anlage von Wasserstellen, Häfen, Straßen oder Eisenbahnen echte Pionierarbeiten waren, wurden sie von Unternehmern und Siedlern als staatliche Aufgaben verstanden. Damit bewegte sich die deutsche Kolonialpolitik von Beginn an in einem Missverständnis zwischen privater und öffentlicher Initiative. Zum Austragungsort dieser Spannungen wurden die Debatten des Reichstags, der über die kolonialen Etats entschied. Manche Parlamentarier lehnten den Imperialismus kategorisch ab, andere hielten das Projekt Kolonien für ein zu riskantes und teures Unternehmen, und sie sahen sich durch die ersten zehn bis fünfzehn Jahre deutscher Kolonialpolitik fast durchgängig bestätigt.

Hinzu kam, dass bald eine Reihe von Unregelmäßigkeiten und höchst anfechtbare Verhaltensweisen der deutschen Kolonisatoren bekannt wurden, vor allem Vergehen gegen die einheimische Bevölkerung. Manche der Soldaten und Verwaltungsbeamten, aber auch Siedler oder Unternehmer glaubten, den Afrikanern mit einem ausgeprägt "herrischen" Auftreten begegnen zu müssen. Zum bekanntesten Kolonialskandal wurde der "Fall Peters": Die Symbolfigur der deutschen Koloniallobby hatte seine schwarze Geliebte mitsamt ihrem Liebhaber aufhängen lassen, was Kolonialgegner nicht nur für seine Absetzung nutzten, sondern auch zu einer Generalabrechnung über die deutschen Kolonialmethoden. Diese Kolonialdebatten bezogen sich aber stets auf innenpolitische Konfliktlinien, so dass sie die afrikanischen Zustände selten lebensnah erfassten.

Der um die Jahrhundertwende so eklatante Widerspruch zwischen der fortgesetzten deutschen Behauptung nach einem "Platz an der Sonne" und der tatsächlichen Entwicklung in den Kolonien hatte mehrere Ursachen: - Die Deutschen waren vergleichsweise unerfahren in der praktischen Kolonisation der Tropen. Sie mussten daher viele der Erfahrungen, die Briten oder Franzosen bereits seit längerem besaßen, beschleunigt nachholen. Bismarcks Versuch eines "Kolonialreichs mit beschränkter Haftung" scheiterte. - Die Erschließung der gewaltigen Gebiete war problematischer als zunächst geglaubt. Nach anderthalb Jahrzehnten waren lediglicheinige Stützpunkte, Stichbahnen sowie Dampferlinien auf einigen ostafrikanischen Seen eingerichtet. Zudem gab es uneinheitliche Vorstellungen darüber, welchen Zweck man überhaupt mit den Kolonien verband, ob man dort siedeln, sie ausbeuten oder sie um ihrer selbst willen "aufwerten" wollte. - Da sie weithin unbekannte Territorien erworben hatten, stellten die Deutschen erst mit Verzögerung fest, wie wenig ertragreich sie waren. Hinzu kam eine Reihe unglücklicher Zufälle wie die Rinderpest von 1897, die in Südwestafrika ca. 80 Prozent des Viehbestandes der "Eingeborenen" und mehr als 50 Prozent des Viehs deutscher Siedler vernichtete. Deutsche Unternehmer investierten eher in die lukrativer erscheinende Bagdadbahn als in afrikanische Projekte. - Die Erwartung, dass deutsche Auswanderer in den deutschen Kolonien siedeln würden, um ihre fortwährende "Entdeutschung" zu verhindern, erfüllte sich schon deshalb nicht, weil Deutschland ab den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts von einem Auswanderer- zu einem Einwandererland wurde. Somit hielten sich in Deutsch-Südwestafrika vor dem Ersten Weltkrieg nicht mehr als 15 000 "Weiße" auf (nicht alle davon waren Deutsche), in Deutsch-Ostafrika rund 5 000, in Kamerun 2 000 und in Togo 500. In den Siedlergesellschaften und im Verwaltungspersonal hielten sich oft Rückstände von ansonsten überlebten, spätfeudalen Verhaltensweisen. Und gerade die Siedlerfrauen, die nur mit großen Schwierigkeiten angeworben werden konnten, sahen sich oft als strikte Wahrerinnen von Tradition und "Deutschtum". - Die "Eingeborenen", über die man anfangs ebenso wenig wusste wie über das Territorium, wurden als "Eigentümer" ihres Landes bestenfalls gering geschätzt. Die Behauptung, dass sie aus den ihnen anvertrauten Räumen und Ressourcen nichts machten, was auch nur entfernt an die produktive Arbeit undWertschöpfung der Europäer erinnerte, schien Grund genug, sie zu enteignen. Gegen die meist unfairen und oft gewaltsamen Methoden der Kolonisatoren, sie zurückzudrängen und ihrer Lebensgrundlagen zu berauben, hatten die Afrikaner allen Grund, Widerstand zu leisten. Er war jedoch gegenüber den sehr "ehrpussligen" Deutschen meist zwecklos, denn er wurde mit ungleichen Waffen geführt. Neben einer Vertreibung blieb als Alternative die langsame Anpassung an europäische Arbeit, Geldwirtschaft und stationäre Lebensweise. Entgegen der Erwartung der Kolonisatoren führte dies jedoch zu einer umfassenden "Entwurzelung" der traditionellen afrikanischen Gesellschaften.

- Die deutsche Öffentlichkeit begeisterte sich nur zögerlich für die Kolonien. Denn jenseits der exotischen Faszination für das "Fremde" wurden die zukünftigen Entwicklungen selbst an deutschen Stammtischen zum Teil ungemein realistisch eingeschätzt: "Wenn die deutschen Pioniere ihre Kulturaufgabe in Asien, Afrika usw. erfüllt haben werden und man hier glauben wird, der Moment sei gekommen, um die erhofften Glücksgüter zu sammeln, da werden die fremden Völkerstämme sich aufraffen und das Sklavenjoch von sich werfen, und der deutsche Michel hat dann das Nachsehen."

"Kolonisation der Erhaltungsmittel"

Auf dem ersten deutschen Kolonialkongress 1902 wertete der Bonner Professor Ferdinand Wohltmann die ersten 18 Jahre der deutschen Kolonialzeit "gleichsam als die phantasiereichen sorglosen Flitterwochen, die ein jedes lebensfrisches Paar und ein lebensfrohes Volk, das glücklich Kolonien heimführt, durchmachen muß". Nach seiner Auffassung lag die Zukunft der Kolonien "mehr in der Dichte und Kaufkraft der eingeborenen Bevölkerung als in Pflanzungsanlagen". Hier deutete sich ein Umschwung an, der sich um die Jahrhundertwende bei fast allen Kolonialmächten vollzog: Eine "Inwertsetzung" der Kolonien schien der einzige Weg, um zu verhindern, dass sie auf Dauer ein Zuschussgeschäft bleiben würden. Die "Eingeborenen" wurden als künftige Subjekte von Markt und Staat entdeckt. Sie zur Arbeit anzuhalten, schien ihre "Proletarisierung" zu verhindern und sie aus dem Zustand der "Unproduktivität" zu erlösen. Umstritten blieb, ob man diese Arbeitsleistung am besten über eine Besteuerung, die Weckung von Bedürfnissen oder durch Zwang bewirkte. Die deutschen Kolonien experimentierten mit unterschiedlichen Formen der Arbeitserziehung, zumal sich die Afrikaner selten freiwillig auf regelmäßige Lohnarbeit einließen.

Am 15. Juli 1902 beleuchtete die "Deutsche Zeitung" am Beispiel Deutsch-Ostafrikas den vermuteten Zusammenhang zwischen Steuereinnahmen, Arbeitsleistung, Konsum, Sicherheit und Infrastruktur: "Sobald Eisenbahn-Verbindungen aus dem Innern zur Küste hergestellt sind, kann die Steuererhebung nicht nur räumlich weiter und weiter ausgedehnt werden, sondern die Steuerschraube kann auch fester angezogen werden. Statt drei Rupien Hüttensteuer können ohne jede Schwierigkeit sechs Rupien von der Familie erhoben werden, da mit der Möglichkeit des Absatzes der Wert der Arbeit ins Vielfache steigt, und der Neger die Bedeutung wirtschaftlicher Vorteile außerordentlich schnell erfaßt. Derart werden sich die Einnahmen der Kolonie von Jahr zu Jahr heben und die geringe Garantiesumme für den Bahnbau mit Leichtigkeit decken." Doch die Bahnbauten kamen nur schleppend voran, erst 1894 wurde ein Teilstück der sogenannten Usambarabahn eröffnet. Die Eisenbahnfrage sollte die gesamte zweite Hälfte der deutschen Kolonialzeit vor 1914 bestimmen.

Tatsächlich tat das Deutsche Reich seit Mitte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts mehr für die Entwicklung der deutschen Kolonien. Die Berliner Kolonialverwaltung wurde aufgewertet, ein Kolonialdirektor eingesetzt, ein Kolonialrat gebildet, Gouverneure und Verwaltungspersonal an eine kürzere Leine genommen. Um die Jahrhundertwende entstand eine Reihe von Einrichtungen, die sich der Erforschung und Entwicklung der deutschen Kolonien annahmen, darunter das 1896 gegründete Kolonialwirtschaftliche Komitee, das vor allem agrarische Grundlagenforschung betrieb. Im Mai 1891 wurde in Dahlem eine Botanische Zentralstelle für die Kolonien eingerichtet, ab 1899 wurden in der Deutschen Kolonialschule bei Witzenhausen "Kulturpioniere" ausgebildet. 1900 entstand in Hamburg das Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten, 1902 folgte das Biologisch-Landwirtschaftliche Institut Amani in Deutsch-Ostafrika, um nur einige zu nennen. Denn alle Kolonialmächte waren nun davon überzeugt, dass Imperien nicht mehr primär durch Kraft und Willen, sondern vielmehr durch wissenschaftliche Information zu festigen seien. Die Deutschen waren auf ihre "wissenschaftlichen" Kolonisationsmethoden besonders stolz, die von den kolonialen Konkurrenten vor 1914 durchaus anerkannt wurden.

Kritisiert wurde jedoch, dass noch immer "zu viel in Theorie und zu wenig in Praxis gemacht" und die Erkenntnisse mit deutscher "Gründlichkeit" auf die Schutzgebiete übertragen wurden. Akademische Gedanken über eine "Hebung" ihres Kulturniveaus erreichten die Afrikaner im Wesentlichen als Arbeitszwang. Ihre eigene Kultur, ihr Wirtschafts- und Ökosystem waren durch die Eingriffe der Kolonisatoren bereits gründlich aus der Balance geraten. Viele gut gemeinte Ansätze versandeten nach wie vor im Gewirr unklarer Zuständigkeiten und einer unflexiblen Bürokratie. Der "Assessorismus" mancher Kolonialbeamter wurde in Deutschland geradezu sprichwörtlich.

Ein wirklicher Durchbruch zu einer neuen Kolonialpolitik vollzog sich erst nach einer Reihe blutiger Erhebungen. Wegen der schärferen Gangart bei der Erschließung brachen 1904 sowohl in Deutsch-Südwestafrika als auch in Deutsch-Ostafrika lang anhaltende Aufstände der "Eingeborenen" aus. Eine Rolle spielten dabei offenbar nichteingelöste Zusagen an nomadisierende Völker, ihre Lebensgrundlagen nicht über Gebühr einzuschränken. Die Herero und Nama in Südwestafrika wehrten sich mit strategischem Geschick gegen die deutsche Kolonialmacht, die hierauf - und auf den nahezu zeitgleichen Maji-Maji-Aufstand in Deutsch-Ostafrika - mit beispielloser Härte reagierte. Das Deutsche Reich sah sich durch die Aufstände fundamental herausgefordert. Die moderaten Stimmen um Gouverneur Theodor Leutwein, die auf dem Erhalt der "schwarzen" Arbeitskraft wie auch der Sachwerte bestanden, konnten sich nicht durchsetzen. General Lothar von Trotha, der die Schutztruppen in Deutsch-Südwestafrika befehligte, spekulierte offenbar auf eine "rein weiße" Kolonie. Sein Feldzug enthielt manche Aspekte der späteren Praxis einer Eroberung von "Lebensraum" im europäischen Osten, so die Bezeichnung als "Rasse"- und "Vernichtungskrieg", das Abschieben in lebensfeindliche Gegenden, die Vernichtung der Nahrungsgrundlagen, die unterschiedslosen Exekutionen oder die Tötung durch Vernachlässigung.

Die Kriege bescherten den Kolonien im Deutschen Reich zum ersten Mal wirkliche Aufmerksamkeit. Der entrichtete "Blutzoll" - gemeint waren die getöteten deutschen Siedler und Soldaten - ließ kein Zurück zu einer halbherzigen Kolonialpolitik zu. 1907 wurde zu einem Wendejahr. Nach der so genannten "Hottentottenwahl", die im Reichstag eine kolonialfreundliche Mehrheit schuf, führte der Kolonialstaatssekretär Bernhard Dernburg ein modernisiertes koloniales Management ein. Nicht mehr nur Kritiker wie Matthias Erzberger, der noch 1906 eine vernichtende "Kolonial-Bilanz" vorgelegt hatte, befassten sich mit den Kolonien. Auch die Ökonomen Karl Helfferich, Moriz Julius Bonn und Walther Rathenau unterbreiteten Vorschläge für eine "Sanierung" des deutschen Kolonialprojekts. Für kurze Zeit unterstützte das Reich den Infrastrukturausbau, der sich auf Eisenbahnen konzentrierte. Dernburg sprach von einer "Kolonisation der Erhaltungsmittel". Seine Politik einer "Hebung der Eingeborenenkultur" wertete die Afrikaner nun als wirtschaftliches "Aktivum". Von diesem Zugeständnis ihrer Entwicklungsfähigkeit setzten sich freilich rassisch-biologische Auffassungen ab, die in den "Farbigen" das unveränderlich "Andere" erblickten. "Herrenmenschen" wie Carl Peters waren von der schleichenden Aufwertung des "Negers" befremdet, da dieser doch eine "Sklavennatur" sei, der nur ein "männlicher selbstbewußter Wille" imponiere. Die allmähliche Angleichung der zivilisatorischen Niveaus zwischen Schwarzen und Weißen brachte also auch eine immer ausgeprägtere Unterscheidung nach rassistischen Kriterien mit sich. Die Rassenfrage - besonders das Problem der so genannten "Mischehen" - beherrschte die Debatten. Paul Rohrbach, zeitweise "Ansiedlungskommissar" in Deutsch-Südwest, meinte, unter dem Einfluss farbiger Konkubinen ginge den Ansiedlern "jedes Gefühl für Sitte, Kultur, gesellschaftliche Ordnung und nationale Würde" verloren, sie seien letztlich "verkaffert". Und der Tropenarzt Ludwig Külz wies sogar auf den "kontraselektorischen Einfluß" hin, den die Weißenherrschaft mit ihren Kultursegnungen in Afrika bewirke.

Immerhin wurden die afrikanischen Arbeitskräfte in der Folge besser behandelt. Gegen 1913 waren in den deutschen Kolonien ca. 150 000 Afrikaner getauft, und 120 000 lernten an deutschen Schulen. Auch wurden bis 1914 in den deutschen Kolonien etwa 3 754 Kilometer Eisenbahnen gebaut. Trotzdem blieb die Kolonialpolitik ein unrentables Zuschussgeschäft, lediglich Togo trug sich finanziell selbst. Schätzungen zufolge wurden von der Gründung bis zum Ausbruch des Krieges 646 Millionen Reichsmark für die afrikanischen Kolonien aufgewandt. Die Einfuhr an Sisal, Baumwolle, Kaffee, Erdnüssen, Kopra oder Bananen war auf dem Weltmarkt leicht zu kompensieren. Wolfgang Reinhard sieht in dieser Bilanz ein "Grundmuster" des europäischen Kolonialismus: "Die 'öffentlichen Hände' übernehmen mehr oder weniger notgedrungen die Infrastrukturkosten, ohne unmittelbar entsprechenden Gewinn aus den Kolonien zu ziehen, das heißt, für die meisten Staatskassen war Kolonialherrschaft defizitär, was die deutschen Sozialdemokraten der Regierung im Reichstag oft genug vorgehalten haben. Hingegen haben 'private Hände' immer wieder satte Gewinne aus Kolonialgeschäften eingestrichen, so daß bis zuletzt von Regierungsseite immer wieder Anläufe unternommen wurden, um diese eigentlichen Gewinner auch für die Unkosten der Kolonialherrschaft aufkommen zu lassen."

Koloniale Folgen

Als Deutschland im Juli 1911 nach der zweiten Marokko-Krise in Gestalt von Neu-Kamerun ein Kompensationsobjekt von immerhin 280 000 Quadratkilometern hinzugewann, setzte dies Erwartungen an ein zusammenhängendes mittelafrikanisches Kolonialgebiet frei. Die Vorstellung wurde nach 1914 zu einem deutschen Kriegsziel. Doch nach Ausbruch des Krieges drangen Franzosen, Briten und ihre Dominions in die deutschen Kolonien ein und versuchten, durch die Verdrängung eines lästigen Konkurrenten ihre Sicherheitsinteressen zu befriedigen. Togo fiel den "Feindtruppen" nahezu unmittelbar in die Hände, Südwestafrika wurde von der südafrikanischen Armee im Frühjahr 1915 eingenommen, während Kamerun sich in Teilen sogar bis 1916 halten konnte. Geradezu legendär für jede weitere deutsche Bezugnahme auf die afrikanischen Kolonien wurde jedoch die geschickte Guerilla-Taktik Paul von Lettow-Vorbecks in Deutsch-Ostafrika. Mit einer etwa 5 000 Mann starken Schutztruppe vorwiegend schwarzer Askari bewegte er sich jahrelang im Zickzack-Kurs durch Ostafrika. Dabei band er letztlich nicht weniger als 130 000 feindliche Soldaten. Nach 1919 galt die Truppe in Deutschland als "im Felde unbesiegt".

Aus den deutschen Kolonien wurden laut Versailler Vertrag Mandatsgebiete des Völkerbundes. Nicht unbedingt zu ihrem Vorteil, denn der Erste Weltkrieg hatte die finanziellen Spielräume für eine Gestaltung der kolonialen Ökonomie stark eingeschränkt. Während Briten und Franzosen sich nach und nach auf ein investitionsintensives "colonial development" einließen - dadurch aber Befreiungsbewegungen eher beförderten als unterdrückten -, war Deutschland zumindest von diesen Lasten befreit. So konnte Carl von Ossietzky 1928 in der "Weltbühne" schreiben: "Deutschland ist unter allen Ländern des Krieges das einzige, das mit Fug und Recht behaupten kann, der Friedensvertrag habe ihm Nutzen gebracht. Es hat zwar Gebiete verloren, es muß schwere Reparationen leisten, und noch ist ein Stück Rheinufer besetzt. Dafür aber ist es aus der Sphäre des Imperialismus heraus, und es hat kein Deutschland in Übersee zu verteidigen."

Die Spitze dieser Behauptung richtete sich deutlich gegen den Kolonialrevisionismus. Denn nichts traf die Deutschen nach 1919 so empfindlich ins Herz wie die Behauptung der Alliierten, dass sie sich kolonisatorisch als unfähig erwiesen hätten. Die Weimarer Nationalversammlung legte im März 1919 mit 414 gegen sieben Stimmen Protest ein und forderte die "Wiedereinsetzung Deutschlands in seine kolonialen Rechte". Doch weder vier Millionen Unterschriften noch der Verweis auf die "Treue" der ostafrikanischen Askari vermochten den Artikel 119 des Versailler Vertrages zu verhindern, in dem es hieß: "Deutschland verzichtet zugunsten der alliierten und assoziierten Hauptmächte auf alle seine Rechte und Ansprüche in bezug auf seine überseeischen Besitzungen."

Die deutsche Kolonialzeit endete damit zwar als Realgeschichte, als Phantasie- und Projektionsgeschichte jedoch noch lange nicht. In Gestalt der "Farbigen" unter den belgischen und französischen Besatzungssoldaten im Rheinland schien Afrika ab 1920 sogar bedrohlich nahe zu rücken. Deutsche Nationalisten sahen ihr Land nun selbst zu einer Kolonie herabgewürdigt und werteten die militärische Verwendung farbiger Truppen als eine schwere Gefahr für die ganze "weiße Rasse", die aller kolonialen Erfahrung ins Gesicht schlage. Am heftigsten reagierten die völkischen Rassisten: In Adolf Hitlers Raumwahrnehmung standen französische "Negerhorden" am Rhein, drohte von Frankreich her sogar "ein gewaltiges, geschlossenes Siedlungsgebiet vom Rhein bis zum Kongo (...), erfüllt von einer aus dauernder Bastardisierung langsam sich bildenden niederen Rasse".

Die Debatte, die später um die so genannten "Rheinlandbastarde" fortgeführt wurde, war symptomatisch für die zunehmende Vermischung des geopolitischen Denkens mit rassischen Elementen. Die deutsche Koloniallobby vollzog diese Wandlung jedoch nur teilweise mit. Sie bildete eine kleine, aber gut organisierte Minderheit im politischen Spektrum Weimars, die es verstand, die Kolonialfrage immer wieder zu einem Prüfstein für die internationale Wiederanerkennung der Deutschen zu machen. Dabei stützten sie sich auf die Erwartung, dass die verbliebenen Kolonialmächte mit der Erschließung der Tropen langfristig überfordert sein würden. Die Aufarbeitung des europäischen "Ergänzungskontinents" sollte nun vielmehr zu einem gesamteuropäischen Projekt der Völkerverständigung werden. Noch im Schuman-Plan vom Mai 1950 klang diese eurafrikanische Perspektive an.

Bei vielen Deutschen hinterließen die Kolonien in Afrika eine Art von "Phantomschmerz". Bis in die frühen vierziger Jahre hinein wurde die Hoffnung genährt, dass sie wieder in Besitz genommen werden könnten. Doch langfristig überwogen diejenigen Kräfte, die Afrika mitsamt seiner unvollständig angestoßenen "Entwicklung" wieder sich selbst überlassen wollten. Die deutsche Wirtschaft verschmerzte den Verlust der Kolonien rasch, stellte sich auf die neuen Begebenheiten ein und begann, es als einen Vorteil zu sehen, dass Deutschland nicht mehr kolonial belastet war. Die industrielle Forschung forcierte die Entwicklung synthetischer Rohstoffe, die Deutschland von kolonialen Ressourcen unabhängig machen sollten. Geopolitiker orientierten sich neben Afrika auf andere Expansionsgebiete und empfahlen erneut die "friedliche Durchdringung" des Balkans bis zum Nahen Osten. Hitler und seine NS-Bewegung verfolgten dagegen den Plan, deutschen Lebensraum im Osten Europas zu erobern. Nach der "Machtergreifung" schaltete er die Kolonialbewegung gleich, nutzte sie zu außenpolitischen Strategiespielen und "wickelte" sie nach Beginn des Russlandfeldzuges rasch "ab". "Als das deutsche Kolonialreich auf dem Reißbrett fast fertiggestellt und perfekt organisiert war," bilanzierte Klaus Hildebrand, "da beendete Anfang 1943 ein im Auftrag Hitlers von Martin Bormann erlassener Befehl jede Tätigkeit auf kolonialem Gebiet." Im Vergleich mit den Planungen für eine zukünftige "germanische" Raumordnung in Osteuropa erscheinen die Kolonialplanungen sogar als relativ "moderat". Denn bei allem Rassismus, der sich darin ausdrückte, war doch die Vorstellung einer umfassenden völkischen "Flurbereinigung", wie sie die Ostraumplanungen voraussetzten, hier keine wirkliche Alternative mehr.

Gerade dadurch konnte die deutsche Afrika-Sehnsucht auch in der zweiten Nachkriegszeit noch einmal aufflackern. Manche Autoren sahen in Afrika auch nach 1945 noch "Europas Gemeinschaftsaufgabe Nr. 1". Andere blickten dagegen mit gemischten Gefühlen auf die von den Europäern angestoßenen Wandlungsprozesse. Ihre wachsende Eigenständigkeit weckte Befürchtungen, die dekolonisierten Afrikaner könnten dem Islam oder dem Kommunismus anheimfallen. Die zaghaften Ansätze einer Entwicklungshilfe in beiden deutschen Staaten wurden im Westen als Vordringen des Ostblocks gewertet, im Osten als Neokolonialismus gebrandmarkt. Beiden Systemen fiel es noch immer schwer, den Afrikanern auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Mit der Unabhängigkeit weiter Teile Afrikas im Jahr 1960 verloren die Industrieländer jedoch merklich ihr politisches Interesse an den Entwicklungsländern. Stattdessen kapitulierten sie zunehmend vor der Problematik der losgetretenen Entwicklungen - besonders die fortgesetzte Aufzehrung der bescheidenen ökonomischen Steigerungsraten durch ein explodierendes Bevölkerungswachstum - und fühlten sich immer stärker wie ratlose "Zauberlehrlinge".

Spielt Afrika deshalb keine Rolle mehr für die Deutschen? Gelegentlich sieht man an alten Hauswänden noch einen verblichenen Hinweis auf einen "Kolonialwarenladen". Auch können zahlreiche Museen, botanische Gärten oder Forschungseinrichtungen auf eine koloniale Vorgeschichte zurückgeführt werden. In Hamburg oder Berlin lässt sich an vielerlei Spuren nachverfolgen, dass Afrika einmal ein reichhaltiger und dauerhafter Phantasieraum der Deutschen war. Als die südwestafrikanischen Herero von Deutschland wenigstens eine Entschuldigung für den versuchten Genozid einforderten, wurde dies in der deutschen Öffentlichkeit gern als Skurrilität abgetan. Solche Gesten stellen sich aber immer mehr als eine unentrinnbare Begleiterscheinung der Globalisierung heraus. Und Afrika hat der Welt durchaus etwas zu bieten: Unmengen an Ressourcen, gewaltige Energiepotenziale und eine Einwohnerzahl von über 700 Millionen. Schon allein die Eigendynamik der technischen Vernetzung legt nahe, dass Afrika - von den Europäern nur unvollständig erschlossen und mit den Folgeerscheinungen weitgehend allein gelassen - nicht auf Dauer an der Peripherie von Weltmarkt und Weltgesellschaft bleiben wird. Die Zeit des scheinbar so vergessenen Kontinents wird wiederkommen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bartholomäus Grill, Ein Kontinent in Flammen, in: Die Zeit vom 18. 5. 2000, S. 3.

  2. Vgl. Dirk van Laak, Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880 bis 1960, Paderborn u.a. 2004.

  3. Arthur Dix, Deutschland auf den Hochstraßen des Weltwirtschaftsverkehrs, Jena 1901, S. 4, 7.

  4. Vgl. Susanne Zantop, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770 - 1870), Berlin 1999.

  5. Vgl. Hans Fenske, Ungeduldige Zuschauer. Die Deutschen und die europäische Expansion 1815 - 1880, in: Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Imperialistische Kontinuität und nationale Ungeduld im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1991, S. 87 - 123.

  6. Carl Peters, Ein deutsches Kolonialreich in Afrika, in: Adolf Grabowsky/Paul Leutwein (Hrsg.), Die Zukunft der deutschen Kolonien, Gotha 1918, S. 48.

  7. Vgl. Susanne Kuß/Bernd Martin (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Boxeraufstand, München 2002.

  8. Vgl. Franz Giesebrecht, Ein deutscher Kolonialheld. Der Fall "Peters" in psychologischer Beleuchtung, Zürich 1897; ders., Die Behandlung der Eingeborenen in den deutschen Kolonien. Stellungnahmen deutscher Kolonialpioniere, Berlin 1897.

  9. Vgl. Hans Spellmeyer, Deutsche Kolonialpolitik im Reichstag, Stuttgart 1931; Maria-Theresia Schwarz, "Je weniger Afrika, desto besser". Die deutsche Kolonialkritik am Ende des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. u.a. 1999.

  10. Vgl. Rudolf von Albertini (unter Mitarbeit von Albert Wirz), Europäische Kolonialherrschaft. Die Expansion in Übersee von 1880 - 1940, München 1982, S. 448f.

  11. Vgl. Lora Wildenthal, German Women for Empire, 1884 - 1945, Durham 2001.

  12. Richard J. Evans (Hrsg.), Kneipengespräche im Kaiserreich. Stimmungsberichte der Hamburger Politischen Polizei 1892 - 1914, Reinbek 1989, S. 351.

  13. Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses 1902 zu Berlin am 10. und 11. Oktober 1902, Berlin 1903, S. 505, 507.

  14. Vgl. Anton Markmiller, Die Erziehung des Negers zur Arbeit. Wie die koloniale Pädagogik afrikanische Gesellschaften in die Abhängigkeit führte, Berlin 1995.

  15. Vgl. Thomas Richards, The Imperial Archive. Knowledge and the Fantasy of Empire, London 1993, S. 5.

  16. So der Kolonialtechniker Franz Allmaras, Ich baue 2 000 km Eisenbahnen, in: Heinrich Pfeiffer (Hrsg.), Heiß war der Tag. Das Kolonialbuch für das junge Deutschland, Berlin 1933, S. 41.

  17. Zum Herero-Krieg vgl. die literarischen Verarbeitungen von Gustav Frenssen, Peter Moors Fahrt nach Südwest. Ein Feldzugsbericht, Berlin 1906; Uwe Timm, Morenga. Roman, München 1978; Gerhard Seyfried, Herero. Roman, Frankfurt/M. 2003.

  18. Vgl. Jürgen Zimmerer, Krieg, KZ und Völkermord in Südwestafrika. Der erste deutsche Genozid, in: ders./Joachim Zeller (Hrsg.), Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904 - 1908) in Namibia und seine Folgen, Berlin 2003, S. 60.

  19. Vgl. Matthias Erzberger, Die Kolonial-Bilanz. Bilder aus der deutschen Kolonialpolitik auf Grund der Verhandlungen des Reichstags im Sessionsabschnitt 1905/06, Berlin 1906.

  20. Bernhard Dernburg, Zielpunkte des deutschen Kolonialwesens. Zwei Vorträge, Berlin 1907, S. 9.

  21. Carl Peters, Kolonialpolitik und Kolonialskandal (1907), in: ders., Gesammelte Schriften, 1. Bd., München-Berlin 1943, S. 441f.

  22. Vgl. Pascal Grosse, Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland 1850 - 1918, Frankfurt/M.-New York 2000.

  23. Peter Scheulen, Die "Eingeborenen" Deutsch-Südwestafrikas. Ihr Bild in deutschen Kolonialzeitschriften von 1884 bis 1918, Köln 1998, S. 138f.

  24. Wolfgang Uwe Eckart, Medizin und Kolonialimperialismus. Deutschland 1884 - 1945, Paderborn 1997, S. 65; vgl. auch Birthe Kundrus, Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien, Köln 2003, S. 219 - 279.

  25. Vgl. Horst Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien, Paderborn u.a. 19912, S. 239.

  26. Wolfgang Reinhard, Öffentliche und andere Hände. Privatisierung und Deregulierung im Lichte historischer Erfahrung, in: Helga Breuninger/Rolf Peter Sieferle (Hrsg.), Markt und Macht in der Geschichte, Stuttgart 1995, S. 281.

  27. Vgl. Wolfgang Petter, Der Kampf um die deutschen Kolonien, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg, Weyarn 1997, S. 393.

  28. Carl von Ossietzky, Deutschland ist ..., in: Die Weltbühne, 24. Jg., Nr. 45 vom 6. 11. 1928, S. 689.

  29. Vgl. Christian Koller, "Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt". Die Diskussion um die Verwendung von Kolonialtruppen in Europa zwischen Rassismus, Kolonial- und Militärpolitik (1914 - 1930), Stuttgart 2001.

  30. Wolf W. Schmokel, Der Traum vom Reich. Der deutsche Kolonialismus zwischen 1919 und 1945, Gütersloh 1967, S. 30 mit Bezug auf "Mein Kampf".

  31. Vgl. Thomas Oppermann, "Eurafrika" - Idee und Wirklichkeit, in: Europa-Archiv, 23 (1960), S. 695 - 706.

  32. Klaus Hildebrand, Vom Reich zum Weltreich. Hitler, NSDAP und koloniale Frage 1919 - 1945, München 1969, S. 774.

  33. Anton Zischka, Afrika. Europas Gemeinschaftsaufgabe Nr. 1, Oldenburg 1951; auch Gustav-Adolf Gedat, Was wird aus diesem Afrika? Wiedersehen mit einem Kontinent nach fünfzehn Jahren, Stuttgart 1952.

  34. Vgl. Ulf Engel/Hans-Georg Schleicher, Die beiden deutschen Staaten in Afrika. Zwischen Konkurrenz und Koexistenz 1949 - 1990, Hamburg 1998.

  35. Vgl. Ulrich van der Heyden/Joachim Zeller (Hrsg.), Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002.

Dr. phil., geb. 1961; Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Historisches Institut, Fürstengraben 13, 07743 Jena.
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