Einleitung
Die historische Erinnerung ist neben Sprache, Konfession und Kultur das wichtigste Element, das nationale Identitätsgefühle in Polen schuf und verstärkte. Polen als moderne Nation bildete sich im 19. Jahrhundert, in der Zeit der Teilungen, des Fehlens eigener Staatlichkeit, der Unterordnung unter die meistens repressive Politik der deutschen, russischen und - weniger - der österreichischen Regierungen. Diese Tatsachen übten starken Einfluss auf das historische Bewusstsein aus.
Zu den wichtigsten Themen der historischen Erinnerung in Polen gehören daher Fragen des Unabhängigkeitskampfes und seine martyrologische Komponente. Eine solche Einstellung zur eigenen Vergangenheit lässt sich am Beispiel der Feiern anlässlich der nationalen Gedenktage belegen. Der wichtigste staatliche Feiertag, der Jahrestag der Unabhängigkeit, der am 11. November gefeiert wird, besitzt vor allem martyrologische Akzente. Diese Tatsache ist darauf zurückzuführen, dass der Weg zu einem unabhängigen Polen aus blutigen und verlorenen Kämpfen bestand, auf die Repressalien folgten. Selbst wenn einer der Helden den Kampf um Unabhängigkeit überlebte, musste er in der Volksüberlieferung sterben. Ein derartiges Schicksal traf etwa den Helden des Gedichtes "Redoute Ordona" des großen Romantikers Adam Mickiewicz, in dem der Dichter Ordon wider die historische Wahrheit, aber in Übereinstimmung mit dem verbreiteten Stereotyp, trotz der Übermacht der angreifenden Russen die Redoute in die Luft jagen ließ und dabei starb.
Die 1918 errungene Unabhängigkeit dauerte nur 20 Jahre und wurde durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen. Das hat zur Folge, dass der Erfolg des Novembers 1918 durch das Prisma des Septembers 1939 gesehen wird. Die Tradition des Kampfes um die Unabhängigkeit betrachtete man zusammen mit den Kämpfen in den Jahren 1914 bis 1920 während der Zwischenkriegszeit als eines der wichtigsten Elemente der patriotischen Erziehung. Wie erfolgreich sie war, zeigte die Haltung der polnischen Jugendlichen während des Zweiten Weltkriegs.
Nach 1945 verlor Polen, das zu den Siegermächten gehörte und viele Verluste zu verzeichnen hatte, gegen seinen Willen Teile seines Territoriums, veränderte sein politisches System und geriet in die Einflusssphäre der ihm bis dahin feindlich gesinnten UdSSR. Die Polen fanden sich nie mit dieser Situation ab; davon zeugen nicht zuletzt die Versuche, die Fremdherrschaft abzuschütteln: 1956, 1970 und 1981. Diese Daten reihten sich in die der Aufstände gegen die Teilungsmächte (1794, 1830, 1864) sowie des Sieges über die Bolschewiki 1920 ein. Auf diese Weise entstand eine Kontinuität zwischen den letztgenannten und den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges (Verteidigungskrieg 1939, Warschauer Aufstand 1944) sowie den Protesten gegen die kommunistische Regierung. Ein solches Bild der Vergangenheit zeigt Polen in der Rolle des unschuldigen Opfers, das von anderen Nationen überfallen wird. In der polnischen Romantik entstand gar die Bezeichnung von Polen als "Christus der Völker", die im Bewusstsein der Gesellschaft mit der älteren Parole der antemurale christianitas (Mauer des Christentums) verschmolz.
Im heutigen Polen wird Patriotismus immer noch fast ausschließlich mit dem Kampf um die Freiheit des Vaterlandes in Verbindung gebracht, nicht mit der Arbeit für dessen Entwicklung. Ein weiteres Merkmal der historischen Erinnerung ist ihre Entstehung in Opposition zur Macht und zum Staat. Der offiziellen Geschichte, die während der Teilungszeit bzw. in der Volksrepublik gelehrt wurde, wurde eine inoffizielle entgegengehalten, die durch die Familie, in im "zweiten Umlauf" gedruckten Büchern bzw. Zeitschriften und in geheim gehaltenem Unterricht (den "fliegenden Universitäten") vermittelt wurde. "Keine Staatsmacht kann der Herrschaft über die Zeit entsagen - der Herrschaft über das kollektive Gedächtnis und das kollektive Vergessen", so die Soziologin Barbara Szacka. "Deshalb besteht eine Form des Widerstandes gegen die herrschende Macht darin, sich an das zu erinnern, was diese zum Vergessen verurteilt, und das zu vergessen, was diese im Gedächtnis erhalten will."
Der Begriff der "weißen Flecken in der Geschichte", der sich in Polen in der zweiten Hälfte der achtziger und Anfang der neunziger Jahre großer Popularität erfreute, betraf vor allem die Lücken und Fehler in den offiziellen Geschichtsdarstellungen zur Zeit des Kommunismus. Private und staatliche Geschichte deckten sich nur kurz, nämlich von 1918 bis 1939 und in der Zeit nach 1989. Das Schicksal der Polen in den letzten zwei Jahrhunderten hatte zur Folge, dass Geschichte vor allem eine integrierende und die nationale Identität verstärkende Funktion besaß. Diskussionen über die Vergangenheit, eine vertiefte Reflexion, die gar in Kritik an der Nation mündeten, waren unpopulär. "Die Wunden nicht schwären lassen" und "die Herzen stärken" gehörten zu den wichtigsten Parolen der Zeit der Unabhängigkeit, die in die Überzeugungen breiter Bevölkerungskreise Eingang fanden. Allerdings bedeutet das nicht, dass keine Debatten über die Vergangenheit geführt wurden, aber sie drangen kaum in das gesellschaftliche Bewusstsein, das zum großen Teil nicht durch Arbeiten der Fachhistoriker, sondern durch schöngeistige Literatur, historische Romane und romantische Dichtungen geprägt wurde.
Anfang der neunziger Jahre wurde befürchtet, dass die Polen eine Nation seien, die nur in die Geschichte schaut, ständig an altes Unrecht erinnert und sich eine Öffnung auf die Zukunft erschwert. Andererseits gab es die Gefahr, dass vor allem die jüngste Vergangenheit allzu schnell vergessen bzw. gar idealisiert wird. Ein Großteil der älteren Generation ist in der Volksrepublik aufgewachsen und war von den Erfahrungen des Transformationsprozesses häufig schmerzlich betroffen. Außerdem stellte sich heraus, dass die freiheitsliebenden Polen gerade mit dieser Freiheit Probleme haben: Sie lernen, eine bürgerliche Gesellschaft zu sein, und es ist nicht so einfach, wie man es sich an der Weichsel anfangs vorgestellt hat.
Die Erinnerung an die Volksrepublik
Es kann nicht verwundern, dass in der Frage einer Bilanz der Volksrepublik Polen keine Übereinstimmung herrscht und ihre Beantwortung häufig von der politischen Präferenz der Personen abhängt, die gerade an ihr arbeiten. Diesen Einfluss der Politik spüren auch die Historiker. Die Diskussion über das Institut des Nationalen Gedenkens (Instytut Pamieci Narodowej), das polnische Pendant der Bundesbehörde für die Unterlagen der Staatssicherheit der DDR, sind dafür das beste Beispiel. Die Auseinandersetzungen um die Person des ersten Direktors dieses Instituts bewirkten den Rückzug der sich um diesenPosten bewerbenden bekannten Historiker.
Vor allem die politischen Eliten erwarten von Historikern Bewertungen bzw. Urteile über Personen und Ereignisse aus der Vergangenheit. Man kann den Eindruck gewinnen, dass Historiker entweder totale Vergebung erteilen oder totale Anklage erheben sollen. Sie sollten nach dem Ideenhistoriker Jerzy Jedlicki die Rolle des "Oberbuchhalters", des "Richters beim Geschichtstribunal" sowie des "Agenten der historischen Gerechtigkeit" spielen.
In den Diskussionen, die 2004 über die Tätigkeit des Instituts des Nationalen Gedenkens geführt wurden, wurden diese Argumente besonders hervorgehoben. Die Mehrzahl der Forscher ist jedoch der Meinung, dass Abstand und vor allem gründliche und umfangreiche Archivstudien notwendig sind, wobei sie sich dem Vorwurf der Verwirrung und Relativierung der "historischen Wahrheit" ausgesetzt sehen. "Man muss der Meinung zustimmen", so die Historikerin Krystyna Kersten, "dass die Rolle des Historikers die Suche und Vorstellung der documents in the case ist - der Nachweise in der Sache; ich habe immer wieder betont, dass ich als Geschichtsforscherin zu wertenden Urteilen nicht befugt bin."
Welches Ausmaß nahmen die Repressionen nach dem 19.4. 1945 an? Welches Verhältnis hatte die Gesellschaft zur kommunistischen Regierung und zu den sozioökonomischen Veränderungen? Die Frage der gesellschaftlichen Zustimmung und/oder ihres Fehlens ist für die gesamte Nachkriegszeit aktuell. Damit hängt die immer noch nicht abgeschlossene Frage nach einer freiwilligen oder erzwungenen Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsapparat zusammen. Zweitens geht es um die Wirtschaft und die Bewertung der Modernisierungsprozesse. Drittens geht es um den Charakter des totalitären Staates und sein Wirken.
Man kann feststellen, dass es eine "schwarze" und eine "goldene" Legende von der Volksrepublik Polen gibt. Auf folgende Weise hat der Soziologe Jerzy Szacki die beiden Einstellungen charakterisiert: Er ortete "eine Neigung in der Behandlung der Zeit der Volksrepublik Polen als eines Loches in der polnischen Geschichte oder höchstens eines Kapitels in der martyrologischen Geschichte der polnischen Nation - also der Zeitperiode, nach der nur die Gräber und Denkmäler bleiben (...). Ich vertrete diese Meinung nicht. Allerdings vertrete ich auch nicht die andere Meinung, nach der die Zeit der Volksrepublik eine normale Epoche unserer Geschichte und aufgrund des damals erreichten Fortschrittes vielleicht etwas besser als die anderen ist, also des Fortschrittes, dessen Früchte seit fünf Jahren verschwendet werden"
Der nostalgische Blick auf die Volksrepublik wird nicht nur von ehemaligen Funktionären der Kommunistischen Partei vertreten, von denen sich nur ein Teil in der neuen Wirklichkeit wiederfinden konnte. Nach den letzten Ergebnissen der Meinungsforschung halten 37 Prozent der Polen die nach 1989 zustande gekommenen Veränderungen für negativ, weitere 29 Prozent meinen, dass die Vor- und Nachteile sich das Gleichgewicht hielten.
Angesichts der Tatsache, dass die Deutschen noch immer mit ihrer NS-Vergangenheit ringen, wäre es vermessen zu glauben, dass es in Polen gelinge, in nur wenigen Jahren die Hinterlassenschaften des Kommunismus zu bewältigen. In letzter Zeit mehren sich Vorwürfe gegen ehemalige Oppositionelle über eine Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst (z.B. gegen Malgorzata Niezabitowska, Pressesprecherin der ersten nichtkommunistischen Regierung Mazowiecki). Ähnliche Vorwürfe werden an die Adresse von Mitgliedern der postkommunistischen Linken gerichtet, etwa an den bis vor kurzem das Amt des Sejm-Präsidenten bekleidenden ehemaligen Premierminister Josef Oleksy.
Die Grundlage für diese Vorwürfe bilden Archivmaterialien, die im Institut des Nationalen Gedenkens aufbewahrt werden. Zwar waren die Akten des Staatssicherheitsdienstes durch die Kommunisten 1988/89 vernichtet worden, es stellte sich aber heraus, dass viele Dokumente in Kopie in anderen Beständen erhalten geblieben sind. Die Enttarnung ehemaliger Agenten hat zur Folge, dass immer mehr Zweifel laut werden, ob die stillschweigend im Namen des gesellschaftlichen Friedens angenommene Art der Amnestie richtig gewesen war. Es werden sogar Befürchtungen laut, dass bei der Bevölkerung Gefühle eines "Eintunkens" (umoczenia) der gesamten ehemaligen Opposition in den Agentensumpf entstehen könnten. Eine solche Einstellung wäre ein guter Nährboden für Verschwörungstheorien. Diese Gefühle, verbunden mit der totalen Kritik an der heutigen Situation in Polen, können die Distanz oder Abneigung gegenüber der 3. Republik, die als Schöpfung der ehemaligen Oppositionellen gilt, nur verstärken. Hinzu tritt die Ohnmacht angesichts einer Situation, in der die Gerichte nicht imstande sind, die Schuldigen für den Tod von Dutzenden von Danziger Werftarbeitern im Dezember 1970 oder von Bergleuten während des Kriegsrechtes zu benennen. Die jahrelangen Prozesse stellen die Achtung des Staates, den Glauben an die Gerechtigkeit bei Menschen, die diese Vorkommnisse noch lebhaft in Erinnerung haben, in Frage.
Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg
Das Bild von der Vergangenheit der eigenen Nation bestimmt nicht nur die inneren Verhältnisse, sondern auch die Beziehungen zu anderen Nationen. Entscheidende Bedeutung hat die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Für über 20 Prozent der Polen ist er noch immer eine persönliche Erfahrung. "Die gespürten Folgen des Zweiten Weltkrieges zwingen uns immer zum Denken und Sprechen über diese Jahre", so der Historiker Tomasz Szarota. "Im Bildungs- und Erziehungssystem wird besonderer Wert auf die Zeit des 2. Weltkrieges und der Okkupation gelegt. Die Ereignisse und die mit ihnen zusammenhängenden Personen sind immer im Fernsehen, Radio und der Presse präsent. (...) Vielleicht werden in keinem Land die mit dem 2. Weltkrieg verbundenen Jahrestage so oft und feierlich abgehalten. (...) Während der Jahrestage beleben sich die Stätten des nationalen Gedenkens, sie werden wieder zum Element der lebendigen Geschichte - die Blumen, brennenden Kerzen, weiß-roten Fähnchen weisen unsere Gedanken auf die Vergangenheit hin. Wer nicht an Allerheiligen auf dem Warschauer Militärfriedhof in Powazki [hier sind u.a. die gefallenen Aufständischen von 1944 begraben, K.R.] war, ist nicht imstande zu begreifen, was es bedeutet, mit der Geschichte zu leben."
In den Jahren 1965, 1977 und 1988 wurden Personen mit höherer Ausbildung nach den glorreichsten Ereignissen der 1000-jährigen Geschichte Polens befragt. Immer wurde an erster Stelle der Zweite Weltkrieg genannt. Heute würde eine ähnliche Befragung kaum anders ausfallen. Der Großteil der Polen, wie wir aus den Ergebnissen der Meinungsforschung folgern können, hat nach wie vor ein emotionales Verhältnis zu diesen Ereignissen, und das gilt für die Jungen wie die Alten: 73 Prozent sind der Meinung, dass diese Vergangenheit lebendig und erinnerungswürdig ist.
Interessant ist, dass die militärischen Ereignisse auf polnischem Boden insgesamt nur eine zweitrangige Rolle spielen. Aber die Polen stellten laut einer 1994 durchgeführten Erhebung die Verteidigung Warschaus 1939 und den Kampf um Monte Cassino der Schlacht bei Stalingrad und der Landung der Alliierten in der Normandie voran. Szarota ist zuzustimmen, wenn er behauptet, dass diese Bevorzugung der mit Polen verbundenen Ereignisse nicht die Bedeutung der Kriegserfahrungen für die heutigen Polen, sondern ihre Suche nach einem Allheilmittel für ihre Komplexe widerspiegelt: "Die Maßlosigkeit der eigenen Martyrologie überdeckt uns das Leiden der anderen Nationen."
Während der Zeit der Volksrepublik Polen stand die Erinnerung an den Krieg unter keinem guten Stern. Es herrschte eine festgelegte Sichtweise der polnisch-deutschen und polnisch-sowjetischen Beziehungen. Jede von ihnen war mit einem Tabu belastet. In den Beziehungen mit der Bundesrepublik dominierte die Unterstreichung der Feindschaft des westlichen Nachbarn, wobei die Erfahrungen des Krieges viele Beispiele zur Untermauerung dieser Meinung lieferten. Man kann die Feststellung wagen, dass sich die Polen auch nach 1989 nicht zur Umbewertung gezwungen fühlten, weil sie von der Veränderung dieses einheitlich negativen Bildes nicht überzeugt waren.
Heute wird oft der Brief der polnischen Bischöfe an ihre Amtsbrüder von 1965 in Erinnerung gerufen, in dem der wichtige Satz "Wir vergeben und bitten um Vergebung" zum ersten Mal öffentlich ausgesprochen wurde. Die Reaktionen der polnischen Gesellschaft damals zeigten jedoch, dass er verfrüht war. Im katholischen Polen war diese Bitte unverständlich. Wie kann man die Nation Hitlers, Mengeles und Generalgouverneur Franks um Vergebung bitten? Haben die Polen gegenüber den Deutschen überhaupt eine Schuld, für die sie um Vergebung bitten müssten? Die Reflexion über die mutigen Worte der Bischöfe erfolgte ziemlich spät, eigentlich erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre. Als Beginn dieser Reflexion kann ein Essay des Angehörigen der Untergrundarmee und polnischen Oppositionellen Jan Jozef Lipski gelten: "Wir haben uns daran beteiligt, Millionen Menschen ihrer Heimat zu berauben, von denen sich die einen sicherlich schuldig gemacht haben, indem sie Hitler unterstützten, die anderen, indem sie seine Verbrechen tatenlos geschehen ließen, andere nur dadurch, dass sie sich nicht zu dem Heroismus eines Kampfes gegen die furchtbare Maschinerie aufraffen konnten, und das in einer Lage, als ihr Staat Krieg führte. Das uns angetane Böse, auch das größte, ist aber keine Rechtfertigung und darf auch keine sein für das Böse, das wir selbst anderen zugefügt haben; die Aussiedlung der Menschen aus ihrer Heimat kann bestenfalls ein kleineres Übel sein, niemals eine gute Tat. (...) Das Böse ist Böses und nicht Gutes, selbst wenn es ein geringeres und nicht zu vermeidendes Böses ist."
Es gilt einzuräumen, dass die polnischen Historiker dieser Frage sine ira et studio nachgegangen sind. Mit der Frage der Vertreibung beschäftigte sich auch die Presse, was zur Popularisierung der Forschung beigetragen und Möglichkeiten zur Diskussion für Nichthistoriker geboten hat.
Die polnisch-deutschen Beziehungen
Die Polen sind sich bewusst, dass sie viel für die polnisch-deutschen Beziehungen getan haben. So wurde 1998 der Berliner Appell der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, mit Befremden registriert.
Einen guten Nährboden für die alten Ängste bildete die von einem Teil der Vertriebenen neu aufgeworfene Frage der Wiedergutmachung für die materiellen Verluste, die durch ihre Vertreibung entstanden sind. Das berechtigte und verständliche Streben der deutschen Seite, die Erinnerung an Verlust und Leid der unschuldigen Zivilbevölkerung zu pflegen, geriet so in den Ruch, materielle Vorteile erlangen zu wollen. Nicht wenigen Polen schien es, als ob ihnen die Rechnung für einen Krieg ausgestellt wird, den sie nicht ausgelöst und den sie nicht gewollt haben. Diese negative Einstellung beeinflusste die zwischenmenschlichen Kontakte zwischen ehemaligen und heutigen Bewohnern der Nord- und Westgebiete Polens. Das Misstrauen, ob es den ihre ehemaligen Dörfer und Häuser besuchenden Deutschen nur um eine sentimentale Reise geht, wurde gerade bei jenen Leuten geweckt, denen eine von den Eliten vorangetriebene Versöhnung mit dem westlichen Nachbarn unglaubwürdig schien. Ein Teil der politischen Publizisten schlug Alarm, dass es in Deutschland zu einem gefährlichen Prozess der Umwandlung des Denkens über die Vergangenheit komme und dass die polnische Sicht auf den Zweiten Weltkrieg zusammen mit einer ganzen Fülle von Informationen über Opfer und Verluste in deutschen Köpfen überhaupt nicht mehr existiere. Dieses Nicht-Wissen, hieß es weiter, werde von einer Zunahme des Interesses der deutschen Gesellschaft an den deutschen Opfern während des Bombenkrieges oder während Flucht und Vertreibung überschattet. Es wurde der Gedanke geäußert, dass die polnische Seite die neunziger Jahre nicht genutzt habe, um die Polen besuchenden Politiker sowie die deutsche Gesellschaft an die polnischen Verluste infolge der NS-Okkupationspolitik zu erinnern. In Deutschland kam es zu Verwechslungen des Ghettoaufstandes von 1943 mit dem Warschauer Aufstand von 1944, in dessen Folge nach der Niederlage die gesamte Bevölkerung vertrieben und die Hauptstadt Polens dem Erdboden gleich gemacht werden sollte, und das empfand man in Polen als erniedrigend. Der Warschauer Aufstand ist ein Knotenpunkt auf der Karte des kollektiven polnischen Gedenkens an den Krieg. Diese Position wurde während der Feiern zum 60. Jahrestagbekräftigt. Die Reden der westlichen Politiker, auch des Bundeskanzlers Schröder, wurden genau verfolgt. Das Buch des britischen Historikers Norman Davies über dieTragödie Warschaus erfuhr große Wertschätzung.
Trotz mancher Irritationen muss jedoch eindeutig festgestellt werden, dass - anders als zur Zeit des Kommunismus - antideutsche Parolen und das Schüren von Ängsten keine politischen Instrumente mehr sind. Rechtsradikale Gruppen versuchten zwar, solche Parolen während der Kampagne zur Abstimmung über den EU-Beitritt zu nutzen, doch sie erlitten eine Niederlage. Die Gebiete, die sich durch den deutschen "Revisionismus" besonders bedroht fühlen sollten, haben für den EU-Beitritt Polens gestimmt. In der Öffentlichkeit wird der Zustand der polnisch-deutschen Beziehungen, der von Medien und Politikern als der schlechteste in der Geschichte der 3. Republik betrachtet wird, gelassener gesehen.
Im Spiegel der im Herbst 2004 durchgeführten Meinungsforschungen registrierten die Polen im Allgemeinen keine wesentlichen Veränderungen. Es nahm zwar die Zahl der skeptisch eingestellten Personen hinsichtlich der Frage der Versöhnung (fast ein Drittel) zu, aber die Mehrheit der Polen meint nach wie vor, dass diese Chance wichtig und möglich ist. Sehr zurückhaltend wurde darüber hinaus die vom Sejm erhobene Forderung nach Reparationen für die Kriegsverluste aufgenommen: 52 Prozent der Polen waren der Meinung, dass derartige Aktivitäten überflüssig seien, 32 Prozent meinten, dass man sie eventuell als Druckmittel im Falle des Aufkommens von Massenklagen über die Entschädigung von Seiten der Vertriebenen einsetzen sollte.
Es scheint, dass sich die Polen trotz ihrer Treue zur historischen Tradition und angesichts des nach wie vor dominanten Denkens über den Krieg bemühen, die Vergangenheit der polnisch-deutschen Beziehungen von der Gegenwart zu trennen. Die Bundesrepublik wird durch das Prisma der Zusammenarbeit, der Partnerschaft in der EU, der Vorteile aus einer guten Nachbarschaft und der in der Vergangenheit liegenden Feindschaft betrachtet. Das Interesse für deutsche Reaktionen auf die Vorschläge des Bundes der Vertriebenen oder für die Einstellung der Deutschen gegenüber den Feierlichkeiten zum Gedenken an den Warschauer Aufstand zeugen vom Wunsch der Polen, dass der Nachbar eine gewisse Empathie und das Wissen über historische Erfahrungen zeigen solle.
Die polnisch-russischen und polnisch-ukrainischen Beziehungen
Hinsichtlich der Beziehungen zu Russland bzw. zur Sowjetunion gab es in der Volksrepublik Polen immer eine deutliche Kluft zwischen offizieller Geschichte und gesellschaftlichem Denken. Selbst wenn auf der Basis antideutscher Einstellungen in einigen Momenten der polnischen Nachkriegsgeschichte die Machthaber mit der Gesellschaft einer Meinung waren, herrschte doch stets ein Konflikt zwischen der offiziellen und der privaten Version der Ereignisse. Die propagandistische Parole der "sowjetisch-polnischen Freundschaft" als Modell zur Darstellung der Beziehungen zwischen beiden Staaten nach 1944 wurde als Lüge empfunden. Im Bewusstsein der Polen existierte eine klare Kontinuitätslinie zwischen der Politik des zaristischen Russlands und der UdSSR gegenüber Polen. Die in den Schulbüchern forcierte These, dass Polen erst dank der Oktoberrevolution und der Verwirklichung der bolschewistischen Idee zur Selbstbestimmung der Nationen wiederhergestellt werden konnte, fand keinen Widerhall.
Antirussische Gefühle und Ängste sind in Polen keine Seltenheit. Sie werden durch den Widerwillen Russlands zusätzlich gestärkt, eine Geste der Wiedergutmachung für das Leiden der Polen infolge der stalinistischen Repressionen zu leisten. Die Frage der Ermordung der polnischen Kriegsgefangenen 1940 in Katyn wurde in der Meinung der polnischen Öffentlichkeit durch Moskau nicht angemessen behandelt. Es fällt sehr schwer, sich einen Präsidenten Putin vorzustellen, der die schmerzlichen Fragen der gemeinsamen Beziehungsgeschichte so mutig anspricht wie Gerhard Schröder. Dabei muss man unterstreichen, dass die polnischen Verluste im Osten, sowohl die menschlichen, als auch die materiellen, inzwischen ein abgeschlossenes Kapitel darstellen. Im gewissen Sinne trugen dazu die Kommunisten bei, indem sie jahrzehntelang die Erinnerung an die verlorenen Gebiete erstickten. Noch während der tiefen politisch-wirtschaftlichen Krise 1956 notierte der Sicherheitsdienst Stimmen zur Revision der östlichen Grenze Polens. In den späteren Jahren gab es solche Forderungen nicht mehr. Die neuen Grenzen Polens, seine nationale Homogenität wurden durch einen großen Teil der Gesellschaft akzeptiert.
Die idealisierte Erinnerung an die Ostgebiete (Kresy Wschodnie), die im Allgemeinen die dortige zivilisatorische Rückständigkeit und den Konflikt zwischen Polen und nationalen Minderheiten ausklammerte, wurde in aus dem Osten Polens stammenden Familien als Teil ihrer privaten Tradition gepflegt. Die polnische Erinnerung an den Osten und die Art und Weise, wie die Polen die dortigen Nachbarn sehen, charakterisieren das von einem Großteil der polnischen Gesellschaft gehegte Gefühl der Überlegenheit. Das Stereotyp des "polnischen Herren" ist bei vielen Slawen präsent. Aus diesen Wurzeln speist sich auch das polnisch-ukrainische Verhältnis. Das Stereotyp des Ukrainers stellt ihn als revoltierenden, grausamen Bauern dar, der ein Messer zwischen den Zähnen hält, um Polen zu schlachten. Wie stark diese Vorstellungen nach wie vor sind, zeigen die immer wieder zu Tage tretenden Konflikte im südöstlichen Teil Polens, die nicht nur historische Fragen betrafen, sondern auch konfessionelle (z.B. der Streit um die Kathedrale in Przemysl). Die Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag der Massenmorde an der polnischen Bevölkerung in Wolhynien, die im Mai 2003 begangen wurden, zeigten, dass die Erinnerung an diese Ereignisse nach wie vor beide Nationen auf tiefe Weise teilt. Zum Unruheherd ist auch die Frage der Renovierung des Friedhofs in Lemberg geworden, wo die Aufständischen, die für ein polnisches Lemberg gekämpft haben, begraben sind, bei der die polnische Seite nur sehr selten ukrainische Gegenargumente berücksichtigt.
Auf der anderen Seite ist für Polen das Streben eines Teils der ukrainischen Öffentlichkeit, die zivilisatorische Rolle der polnischen Kultur auf dem Gebiet der heutigen Westukraine zu verschweigen, irritierend. Polen, die den Wert der Erinnerung an das deutsche Erbe eines Teils ihres Staatsgebietes anerkannt haben, hoffen auf eine ähnlich reife Haltung der Ukrainer gegenüber dem polnischen Kulturerbe. Der Dialog zwischen den Historikern ist nicht so lebhaft wie im Fall der polnisch-deutschen Kontakte auf wissenschaftlicher Ebene und geht langsam voran. Das Wissen in Polen über die Gründe und den Verlauf der "Aktion Weichsel" (1947), der Aussiedlung der ukrainischen Bevölkerung aus den südöstlichen Teilen Polens nach Masuren, Pommern und Schlesien, wächst. Als ein wichtiges Ereignis kann sich auch die in Polen geäußerte öffentliche Unterstützung für die ukrainische "Orange-Revolution" Ende 2004 erweisen, die in Demonstrationen, Aufrufen und in Fahrten in die Ukraine zur Unterstützung von Viktor Juscenko zum Ausdruck kam. Eine Verbesserung des polnisch-ukrainischen Verhältnisses hängt von einer Lösung der bisherigen Streitfragen ab. Dabei kann das Abtreten der Erlebnisgeneration und der Teilnehmer der Wolhynien-Tragödie eine große Rolle spielen.
Das polnisch-jüdische Verhältnis
Die historischen Beziehungen zwischen Polen und Juden reichen bis ins Mittelalter zurück, als sich viele in anderen Staaten Europas verfolgte Juden in Polen niederließen. Hier ist nicht der Platz, um auf die komplexe Frage eines spezifisch polnischen Antisemitismus einzugehen. Antisemitische Stimmungen, die manchmal in Ausschreitungen gipfelten, waren Teil der Wirklichkeit der 2. Polnischen Republik und der Volksrepublik Polen. Personen, die diese Haltungen geteilt haben, übernahmen nach 1945 sehr schnell die Parolen von der Herrschaft der "Judeo-Kommunisten" (Zydokomuna). Die Gründe dafür wurden in der verhältnismäßig großen Repräsentanz von Personen jüdischer Abstammung im Parteiapparat und im Sicherheitsdienst im ersten Nachkriegsjahrzehnt gesucht.
Viele Juden schauen auf Polen vor allem als das Land des Holocausts. Die Polen empörten sich über Vorwürfe, Hilfe für die Juden während des Krieges sei ausgeblieben. Wenn in den Medien vom Schicksal der polnischen Bürger jüdischer Abstammung während des Krieges die Rede ist, wird betont, dass Helfern der Tod drohte. Trotzdem sind von den Bäumen, die im Gedenkpark von Yad Vashem bei Jerusalem die "Gerechten der Völker" symbolisieren, die meisten Polen gewidmet. Doch ein großer Teil der Bevölkerung sieht Auschwitz hauptsächlich als Konzentrationslager für Polen; man weiß zwar, dass während des Krieges bis zu sechs Millionen polnischer Bürger ums Leben gekommen sind, das bedeutet jedoch nicht, dass bekannt ist, dass davon mindestens die Hälfte Juden waren.
Dass sich Polen auf Beispiele der Hilfe für die Juden berufen, kann gleichzeitig als Beruhigung für das schlechte Gewissen gedeutet werden, vor allem angesichts der hitzigen Debatten über die Ermordung von Juden in der Kleinstadt Jedwabne durch ihre polnischen Nachbarn im Juni 1941. Sie wurde durch das Buch "Nachbarn" des polnischen Historikers Jan Tomasz Gross angestoßen.
Es ist bezeichnend, dass die historischen Ereignisse einem Teil der Historiker schon seit vielen Jahren bekannt waren. Nach 1989 wurden auch das Pogrom in Kielce 1946 und die von den polnischen Kommunisten verursachte antisemitische Kampagne 1968 ausführlich analysiert. Über Jedwabne wurde in der Öffentlichkeit jedoch geschwiegen. Erst nachdem "Gazeta Wyborcza" und "Rzeczpospolita" beschlossen hatten, dass man in dieser Angelegenheit nicht mehr länger warten sollte, setzte die Diskussion ein.
Nationale Identität
Die Jedwabne-Frage (und andere Fälle der Verfolgung von Juden durch Polen) stellt nach wie vor eine offene Wunde im Bewusstsein der Polen dar. Einige Forscher vermuten, dass "Jedwabne" einen weiteren Anlass zur fortschreitenden Krise der nationalen Identität darstelle. Ergebnisse der Meinungsforschung aus den letzten Jahren scheinen zu belegen, dass die Zahl der Polen, die auf ihre Nation stolz sind, abnimmt.
Die katholische Presse plant, trotz der über 70-prozentigen Zustimmung für den EU-Beitritt ähnliche Argumente während der Kampagne zum EU-Verfassungsreferendum 2005 zu benutzen. Die Mehrheit der Polen hält Patriotismus, Vaterland, Nationalstolz für unverzichtbare Elemente. Die Polen unterstützen zwar die Mitgliedschaft in der EU, aber nur drei bis vier Prozent sehen in der Selbstidentifizierung als Europäer den übergeordneten Wert. Hier kann man die Reste einer historischen Erfahrung der Polen verorten, die stets bei den Nachbarländern die Realisierung eigener Interessen auf Kosten Polens vermutet. So wird das Machtzentrum Brüssel mit Misstrauen beobachtet.
Auf der anderen Seite ist die Überzeugung von der historischen, politischen, religiösen und kulturellen Gemeinschaft Polens mit dem Westen sehr verbreitet. Die Teilnahme am europäischen Integrationswerk unter partnerschaftlichen Bedingungen gilt als Ende der vielen Niederlagen von Polen seit dem 17. Jahrhundert und als eine neue Chance. Die "Arbeit an der Erinnerung" wird nicht aufhören.