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Ein Vierteljahrhundert Islamische Republik Iran | Iran | bpb.de

Iran Editorial Irans Ausblick auf das Jahr 2004 Ein Vierteljahrhundert Islamische Republik Iran Gibt es in Iran noch einen Reformprozess? Demokratisierung und ihre Feinde in Iran Die Beziehungen zwischen den USA und Iran seit 1953 Iran und die arabische Welt Europas Beziehungen zu Iran

Ein Vierteljahrhundert Islamische Republik Iran

Wilfried Buchta

/ 32 Minuten zu lesen

Der Überblicksbeitrag kommt zu einem differenzierten Ergebnis in der Darstellung der drei Entwicklungsdekaden. Das politische System ist zwar stabil, aber die Versprechungen der Revolution warten auch nach 25 Jahren immer noch auf ihre Erfüllung.

Einleitung

Im Februar 2004 beging die Islamische Republik Iran im Rahmen ihrer alljährlichen Zehntagefeiern zum Sieg der Revolution den 25.Jahrestag der triumphalen Rückkehr des Revolutionsführers Ayatollah Ruhollah Khomeini, dem 2. Mio. Iraner bei seiner Ankunft in Teheran am 1. Februar 1979 einen begeisterten Empfang bereiteten. Der Schah hatte bereits am 16. Januar das Land verlassen. Die bislang schahtreuen Streitkräfte erklärten sich am 11. Februar für neutral, woraufhin Shahpur Bakhtiyar, der letzte vom Schah eingesetzte Ministerpräsident den Machtkampf verloren gab und in den Untergrund abtauchte. Vierundzwanzig Stunden später beauftragte Khomeini den frommen liberal-islamischen Technokraten Mehdi Bazargan mit der Bildung einer provisorischen Revolutionsregierung, die einen Tag später von den USA und der UdSSR anerkannt wurde. In dem am 30. März 1979 abgehaltenen Referendum erklärten 97 Prozent der Teilnehmer ihre Zustimmung für eine Islamische Republik. Khomeini proklamierte daraufhin den 1. April "zum ersten Tag der Herrschaft Gottes" auf Erden.

Die Jahresfeiern der Revolution geben Anlass, eine vorläufige Bilanz der Politik der Islamischen Republik Iran zu ziehen, eines theokratisch-republikanisches Hybridsystems, das eine - gemessen an vielen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens - beachtliche Stabilität gewahrt hat. Dies ist beileibe nicht selbstverständlich, schließlich leidet Irans System seit geraumer Zeit unter ideologischen Widersprüchen, einer bröckelnden Legitimationsbasis seines Revolutionsführers, heftigen Richtungskämpfen innerhalb seiner Machtelite und einer chronischen Wirtschaftskrise, die noch durch einseitige Handelsembargos der USA verstärkt wird. Dennoch hat Irans System bis zur Stunde die Kassandrarufe der Exilopposition, die seit 1979 seinen baldigen Untergang vorhersagen, widerlegt.

Um eine Bilanz von 25 Jahren Islamischer Republik zu ziehen, kommt man nicht umhin festzustellen, dass es neben einigen festen ideologisch-politischen Konstanten und Kontinuitäten auch bedeutsame, an bestimmte Persönlichkeiten und Ereignisse geknüpfte Umbrüche, Richtungswechsel und Akzentverschiebungen gegeben hat, die es erlauben, die gesamte Periode in drei Phasen einzuteilen. Angelehnt an Ebrahim Yazdi, Irans ersten Außenminister nach 1979, kann man durchaus von drei Republiken sprechen, nämlich der Dekade des Revolutionsführers und Republikgründers Khomeini (1979 - 1989), der durch das Duumvirat aus Revolutionsführer Khamenei und Präsident Rafsanjani geprägten Phase der "Zweiten Republik" (1989 - 1997) und zuletzt der mit der Wahl Khatamis 1997 eingeleiteten und von einer islamischen Reformbewegung bestimmten "Dritten Republik".

Die "Erste Islamische Republik"

Die ersten zehn Jahre des Systems standen ganz im Zeichen der charismatischen Herrschaft Khomeinis, der ab Herbst 1978 unbestrittener Führer und Integrationsfigur eines breiten, unterschiedliche politische Kräfte umfassenden Oppositionsbündnisses war. Diesem Bündnis gelang es schließlich, durch zumeist friedlichen Widerstand in Form von gewaltigen Massendemonstrationen und landesweiten Streiks das nationalistische und proamerikanische Regime der Pahlavi-Monarchie zu stürzen. Von 1979 bis 1982 durchlief das neu etablierte Revolutionsregime nicht nur eine Phase von heftigen inneren Turbulenzen und Machtkämpfen, sondern führte auch seit September 1980 einen acht Jahre währenden Krieg gegen den Nachbarn Irak. Unter dem Eindruck der innenpolitischen Machtkämpfe der ersten Jahre entstand ein weltweit einzigartiges Hybridsystem, dessen Verfassung republikanisch-demokratische und theokratisch-auto-ritäre Elemente in sich vereinigt, wobei jedoch das Letztere eindeutig dominiert.

Dass überhaupt demokratische Elemente wie etwa eine Exekutive und eine Legislative, die aus direkten Volkswahlen hervorgehen, bis heute weiter existieren, ist das Werk der anfänglich mit den Khomeinisten verbündeten national-religiösen und liberal-islamischen Kräfte. Sie waren an der Ausarbeitung der Verfassung vom Dezember 1979 beteiligt und hatten teilweise noch bis 1981 in Staat und Regierung beträchtlichen Einfluss. Zu ihren Symbolfiguren zählten unter anderem Mehdi Bazargan (gest. 1995) und Abolhasan Bani-Sadr. Bazargan, Führer der islamisch-liberalen "Iranischen Freiheitsbewegung" (NAI), leitete ab Februar 1979 auf Geheiss Khomeinis eine provisorische Revolutionsregierung aus moderaten Nationalisten und national-religiösen Technokraten. Bazargan konnte sich aber im Machtkampf mit den radikalen Islamisten, die bei Khomeini größeren Rückhalt hatten, nicht durchsetzen. Denn mit Billigung Khomeinis hatten die Islamisten ein breit gefächertes Netzwerk aus parastaatlichen Revolutionskomitees, Revolutionsgerichten und Milizen geschaffen, das als "Schattenregierung" fungierte und beständig die Autorität der Bazargan-Regierung untergrub. Als Bazargans vergebliche Proteste gegen die Besetzung der US-amerikanischen Botschaft in Teheran am 4. November 1979 seine Machtlosigkeit offenbarten, demissionierte er wenige Tage später mit seinem Kabinett, wodurch die Revolutionsbewegung erneut radikalisiert wurde. Von da ab drängten die Khomeinisten schrittweise alle Rivalen an den politischen Rand oder ins Exil, ein Prozess, der mit der Absetzung des liberal-islamischen Präsidenten Abolhasan Bani-Sadr im Juni 1981 seinen Abschluss fand. Seither haben politisierte schiitische Kleriker alle zentralen Schlüsselpositionen des Systems inne und verfügen damit über ein Machtmonopol.

Die theoretische Grundlage dieses Machtmonopols ist das von Khomeini im irakischen Exil in Najaf (1965 - 1978) entwickelte religiös-politische Konzept der "Herrschaft des islamischen Rechtsgelehrten" (velayat-e faqih). Khomeini gelang es, dieses Konzept gegen zahlreiche Widerstände als übergeordnete Staatsidee in der im November 1979 verabschiedeten Verfassung der Islamischen Republik Iran zu verankern. Dadurch wurde eine Theokratie in Iran etabliert, deren manifester Ausdruck das aus der velayat-e faqih abgeleitete Amt des "Herrschenden Rechtsgelehrten" (vali-ye faqih) ist - ein Terminus, der auch synonym mit dem Titel Revolutionsführer (rahbar) verwendet wird. Der Revolutionsführer hat die Vollmacht, die Entscheidungen von Exekutive und Legislative zu konterkarieren, er kann den Präsidenten absetzen und ernennt den Chef der Judikative und der regulären und revolutionären Streit-, Sicherheits- und Ordnungskräfte. Die velayat-e faqih bildet innerhalb des Doktrinengebäudes der Schia eine präzedenzlose Neuerung, da es die theologisch und politisch erfahrensten Kleriker allein ermächtigt, die politische Herrschaft auszuüben. Damit revolutionierte Khomeini die Schia-Theologie, da er mit der bis dato vom hochrangigen Schia-Klerus geübten Praxis der Abstinenz in politischen Fragen brach, welche auf dem Glauben gründet, dass während der Abwesenheit des verborgenen 12.Imams der Schia, des Mahdi, jede politische Herrschaft prinzipiell illegitim ist.

Gestützt auf ihr Machtmonopol gingen die Khomeinisten daran, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, inklusive der Schulen, Universitäten und des Rechtssystems, getreu islamisch-revolutionären Dogmen umzubauen. Das Resultat war die zwischen 1979 und 1982 vollzogene Islamisierung des Justizwesens, der Schulen und Hochschulen, die Verstaatlichung des größten Teils der Wirtschaft, die auf Gegnerschaft zu den USA und den Export der Revolution zielende Ausrichtung der Außenpolitik, die Durchsetzung der islamischen Kleiderordnung für Frauen, die Aufhebung von Presse- und Parteienfreiheit und vieles mehr. Bereits ab 1979, doch besonders gehäuft in den Jahren 1981 bis 1982, kam es zu gewaltsamen Exzessen beim Vorgehen gegen wahre und vermeintliche Abweichler und Feinde. Dass 1981 die Radikalisierung einen Höhepunkt erreichte, hatte mit dem Überlebenskampf des Regimes gegen die iranischen Volksmojahedin (MKO) zu tun. Die ursprünglich mit Khomeini verbündeten islamo-marxistischen MKO wandelten sich nach dem Sieg über das Schah-Regime zum gefährlichsten Rivalen der khomeinistischen Führungsriege. Nachdem Khomeini im Juni 1981 den moderaten Präsidenten Abolhasan Bani-Sadr entmachtet hatte, griffen dessen stärkste Verbündete, die MKO, zu den Waffen und versuchten, das Regime durch massive Terroranschläge auf seine wichtigsten Vertreter und Funktionäre ins Wanken zu bringen. Doch das Kalkül der MKO ging nicht auf. Das Regime stürzte nicht. Stattdessen radikalisierte und brutalisierte der Terror der MKO das politische Klima Irans in einer nie gekannten Weise. Angestachelt zu brachialem Gegenterror und blinden Vergeltungsmaßnahmen, tötete das Regime bis Ende 1982 mehrere Tausend gefangen genommene Sympathisanten und Untergrundkämpfer der MKO und anderer militanter linker Oppositionsgruppen. Bis Frühjahr 1982 hatten die Sicherheitskräfte Irans die MKO militärisch besiegt, ihre Untergrundzellen zerschlagen und ihre Militärkader getötet. Die politische Führung der MKO unter Mascud Rajavi hatte bereits im Juli 1981 Zuflucht im Exil genommen, erst in Frankreich und ab 1986 schließlich im Irak. Fortan gewährte Iraks Diktator Saddam Hussein den MKO massive politische, militärische und finanzielle Hilfe und instrumentalisierte sie für seine Ziele.

Nach Jahren revolutionären Furors, heftigster innenpolitischer Machtkämpfe und ethnischer und sozialer Unruhen hatte sich aber ab Ende 1982 das um seine Existenz kämpfende Revolutionsregime behaupten können. Der Krieg gegen den Irak, der auch viele regimekritische, aber patrotisch gesinnte Iraner veranlasste, um der Bewahrung des Vaterlands und der nationalen Einheit willen Khomeinis Führung anzuerkennen, tat ein Übriges, das System dauerhaft zu festigen. So konnten die Teheraner Machthaber ab 1982 ihr Augenmerk darauf richten, die innenpolitische Lage durch Konsolidierung der neu geschaffenen Institutionen zu stabilisieren. Ausdruck dieses Strebens nach Mäßigung war das an Revolutionsgerichte, Justizapparate, Revolutionskomitees und revolutionäre Streit- und Sicherheitskräfte gerichtete Acht-Punkte-Sonderdekret Khomeinis vom Dezember 1982. Das Dekret beendete sukzessive die schlimmsten revolutionären Exzesse in Form von willkürlichen Beschlagnahmungen von Privateigentum, Verhaftungen und extralegalen Hinrichtungen von vermeintlichen Konterrevolutionären.

Seit Etablierung der Islamischen Republik hat sich eine zahlenmäßig kleine, doch für die Führung des Staates ausreichende Minderheit des Schia-Klerus der Regierung angedient. Den Versuchungen der Macht erlegen, bildet sie heute eine mit politischen Privilegien ausgestattete Staatselite. Während sich ein Teil der Geistlichen zu einer Art Nomenklatura wandelte, steht der Großteil der Schia-Kleriker, der an der Tradition der politischen Enthaltsamkeit festhält und daher öffentliche Opposition vermeidet, dem Regime weiterhin in schweigenderAblehnung gegenüber. Andererseits ist das Regime alles andere als ideologisch homogen, konnte es doch bis heute nicht alle teils heftig miteinander rivalisierenden khomeinistischen Klerikerfraktionen in einer Einheitspartei zusammenfassen. Zwar wurde 1979 mit diesem Ziel die Islamic Republic Party ins Leben gerufen, doch 1987 war die Staatsführung gezwungen, die Partei aufgrund der erbitterten Richtungskämpfe zwischen ihrem rechten und linken Flügel aufzulösen.

Wirtschaftspolitische Streitfragen bildeten zumeist die Ursache dieser Flügelkämpfe. Während sich die islamisch-konservativen Khomeinisten, zu denen unter anderem auch der heutige Revolutionsführer Ali Khamenei zählt, auf das im Islam legitimierte Eigentumsrecht beriefen, unterstrichen ihre links-islamischen Antagonisten den Anspruch des Islam, soziale Gerechtigkeit schaffen zu wollen. Die Links-Islamisten, zu denen auch der heutige Staatspräsident Mohammad Khatami zählt, hatten aufgrund ihrer Siege in den seit 1980 regelmäßig im Vierjahresturnus abgehaltenen Parlamentswahlen die Oberhand in der Legislative. Doch müssen laut Verfassung alle vom Parlament verabschiedeten Gesetze vom "Wächterrat", einem Gremium, das als Oberhaus fungiert und von konservativen Klerikaljuristen dominiert wird, auf ihre Vereinbarkeit mit dem Islam überprüft werden. In vielen Fällen lehnte der mit Vetorecht ausgestattete Wächterrat die Gesetze ab, was dazu führte, dass in zahlreichen wichtigen Fragen wie zum Beispiel der Agrarreform keine in sich schlüssige Politik ausgearbeitet werden konnte.

Um diese für den Systemerhalt gefährliche Blockade der politischen Institutionen zu überwinden und der Regierung Handlungsfreiheit zu verschaffen, deklarierte Khomeini im Januar 1987 das Konzept der "Absoluten Herrschaft des Rechtsgelehrten". Diesem Konzept zufolge stünden die im Interesse des islamischen Staates getroffenen Entscheidungen des Revolutionsführers über den Geboten der Religion, sogar über solch fundamentalen Geboten wie dem Gebet, dem Fasten und der Pilgerfahrt nach Mekka. Sachzwänge veranlassten Khomeini schließlich, der Staatsräson Vorrang vor der Religion einzuräumen, eine Politik, die er gerade beim Schah kritisiert und durch die Einführung einer Theokratie, in der politische und religiöse höchste Autorität in einer Person verschmelzen, hatte beseitigen wollen.

Hatten bereits viele Iraner Khomeinis Direktive vom Januar 1987 als eklatante Abweichung vom revolutionären Dogma der Suprematie der Religion über den Staat erachtet, so musste sie Teherans überraschende Annahme der UN-Waffenstillstandsresolution 598 als ein weiterer ideologischer Sündenfall anmuten. Schließlich bedeutete sie das faktische Eingeständnis, dass eines der wichtigsten ideologischen Ziele Teherans, der unter panislamischen Vorzeichen betriebene Export der Revolution (sodur-e enqelab) in andere islamische Staaten, gescheitert war und die Islamische Revolution ein auf Iran beschränktes Experiment bleiben würde. Mitte 1988 war dieser Schritt unausweichlich geworden. Weit verbreitete Kriegsmüdigkeit in der Bevölkerung, bedrohliche militärische Rückschlage an verschiedenen Frontabschnitten, Engpässe bei der Versorgung mit Munition und Kriegsgerät, fast leere Staatskassen und eine insgesamt dramatische Wirtschaftskrise bewirkten auch unter vielen hartnäckigen Kriegsbefürwortern in der iranischen Führung ein Umdenken. Unaufhaltsam setzte sich die Überzeugung durch, dass der international weitgehend isolierte Iran den Krieg gegen den militärtechnisch überlegenen Irak nicht mehr gewinnen konnte und bei Kriegsfortsetzung womöglich ein Systemkollaps drohte. Daher sah sich Khomeini am 16. Juli 1988 gezwungen, in einem internen, an führende Regimefunktionäre gerichteten Schreiben einzugestehen, dass die Annahme der UN Resolution 598 unvermeidbar sei. "Diese Entscheidung kam mir so bitter vor wie der Trunk eines Becher Gifts" (in tasmim baraye man tschon zahr keschandeh ast). Mit diesem Satz begründete er den Vorrang, den "die Erhaltung der Islamischen Republik" (hefazat az jomhuri-ye eslami) gegenüber allen anderen Zielen habe. Khomeinis Verweis auf die absolute Priorität des Systemerhalts verriet, dass Irans Führung einem weiteren, bislang hartnäckig verteidigten revolutionären Ideal untreu geworden war und der Staatsraison und nicht der islamischen Ideologie Priorität einräumte.

Die Annnahme des Waffenstillstands barg aber auch unkalkulierbare innenpolitische Risiken. Schließlich hatte dieser im Namen der Revolutionsideologie geführte Krieg den Iranern harte wirtschaftliche Entbehrungen, gewaltige materielle Schäden und große Verluste an Menschenleben abgefordert, die ihnen nun vergeblich erscheinen mussten. Zu Recht befürchteten die Machthaber einen massiven und nachhaltigen Vertrauensverlust der Bevölkerung in das Regime. Allein der charismatischen Autorität Khomeinis, der dem Volk am 20. Juli in einer Fernsehansprache die bittere Wahrheit beibrachte, war es zu verdanken, dass Wut und Enttäuschung vieler Iraner über ihre sinnlosen Opfer nicht in systemgefährdende gewaltsame Proteste umschlugen.

Die prekäre Phase des Übergangs vom Krieg zum Frieden nutzte das Regime aber auch, um seine gefährlichsten, in den Gefängnissen des Landes inhaftierten Gegner zu liquidieren. Den Vorwand dafür lieferte der Invasionsversuch der MKO, die von ihren Militärbasen im Irak aus am 21. Juli 1988 die Grenze überschritten und kleinere iranische Grenzstädte besetzt hatten, um sie zur Ausgangsbasis für den Umsturz des Systems in Teheran zu machen. Militärtaktisch und politisch dilettantisch vorbereitet, endete die MKO-Offensive in einem Fiasko. In kurzen, heftigen Gefechten rieben die ihren Gegnern zahlenmäßig weit überlegenen iranischen Streitkräfte die Einheiten der MKO vollständig auf.

Nur wenige Tage nach der MKO-Offensive gaben iranische Staatsorgane den geheimen Befehl, die wichtigsten politischen Haftanstalten des Landes von der Außenwelt zu isolieren, was vor allem Evin, Qezel Hesar und Gohar Dasht, die wegen ihrer Größe und der harten Haftbedingungen besonders berüchtigten Haftanstalten von Teheran, betraf. Gegen Ende Juli 1988 suchten Sonderkommissionen, zusammengesetzt aus Staatsanwälten, Vorsitzenden von Revolutionsgerichten und höheren Kadern des VEVAK (des Ministeriums für Information und Sicherheit), die Gefängnisse auf und legten allen linksoppositionellen politischen Häftlingen einen Katalog ausgeklügelter und verfänglicher Fragen vor, deren Beantwortung über Leben und Tod entschied. Ziel war es, herauszufinden, ob die Befragten als Muslime oder Nicht-Muslime zu betrachten sind, und falls Letzteres zutraf, ob sie sich noch zu ihrer früheren regimefeindlichen Ideologie bekannten. Gab ein Häftling unbefriedigende Antworten, so sonderten sie auch diese Personen aus. Alle Ausgesonderten wurden nach ihrer Befragung in den Gefängnissenhingerichtet, in den meisten Fällen durch denStrang, da dies für weniger Aufmerksamkeit sorgte.

Auf diese Weise ließ die Staatsführung Irans von Ende Juli bis Dezember 1988 mehrere Tausend linksgerichtete Gefangene nebst einer unbekannten Zahl der 1988 gemachten MKO-Kriegsgefangenen unter großer Geheimhaltung und ohne ordentliches Gerichtsverfahren hinrichten. Den größten Blutzoll entrichteten Anhänger und Kader der MKO. Über die exakte Zahl der Opfer herrscht bis heute Ungewissheit. Amnesty International hat die Namen von über 2 000 Opfern dokumentiert. Nach Angaben von Ayatollah Hosein Ali Montazeri (geb. 1921), dem damaligen designierten Nachfolger Khomeinis, der sich im Juli und August 1988 in drei an Khomeini selbst und die Exekutoren gerichteten Briefen scharf gegen die von ihm als unislamisch und schändlich verurteilten Hinrichtungen aussprach, wurden 1988 zwischen 2 900 und 3 900 Häftlinge hingerichtet. Teherans Regierung leugnet bis heute offiziell die Massenexekutionen von 1988, die ein Tabuthema sind. Ungeklärt bleibt, welche Debatten und Entscheidungsprozesse in Irans Nomenklatura letztlich zur fast totalen Liquidierung aller linksoppositionellen Häftlinge führten und das Regime zu einem kurzen, doch folgenschweren Rückfall in die schlimmsten Gewaltexzesse seiner Frühphase verleiteten. Interessanterweise führt Montazeri im Dokumentenanhang seiner 2001 erschienenen Memoiren einerseits einen undatierten schriftlichen Befehl von Revolutionsführer Khomeini auf, in dem dieser die Exekution der inhaftierten MKO-Mitglieder befiehlt. Andererseits betont Montazeri, dass er an der Authentizität dieses Schreibens zweifele, und deutet an, dass enge Vertraute des Revolutionsführers im Teheraner Büro des Imam die wahren Urheber dieser Aktion seien.

Die Suprematie des Staatsinteresses über die ursprünglichen religiösen und ideologischen Doktrinen der Revolution zeigte sich in aller Deutlichkeit bei der Nachfolgeregelung Khomeinis. Dabei trafen die engsten Vertrauten Khomeinis eine Regelung, die der Legitimität des velyat-e faqih-Konzepts einen schweren, bis heute nicht verwundenen Schlag versetzen sollte. Angesichts der Bedeutung des vali-ye faqih war es für das Regime überlebenswichtig, bei Khomeinis Tod einen problemlosen Machttransfer zu gewährleisten. Gemäß der in der Verfassung von 1979 verankerten schiitischen Tradition wurde von Khomeinis Nachfolger verlangt, der gelehrteste und rechtschaffenste schiitische Rechtsgelehrte und eine "Quelle der Nachahmung" (marjac-e taqlid), also ein Groß-Ayatollah, zu sein. Allerdings stellte sich bald heraus, dass diese Kriterien allein auf Khomeini zutrafen. Mit Ausnahme Montazeris akzeptierte 1989 keiner der anderen Groß-Ayatollahs Khomeinis Konzept der velayat-e faqih. Zudem genoss keiner der anderen klerikalen Vertrauten und Mitarbeiter Khomeinis ein diesem vergleichbares theologisches Ansehen, von seinem persönlichen Charisma und seiner politischen Autorität ganz zu schweigen. Anders ausgedrückt: Die prominentesten Theologen waren, weil Quietisten, politisch als Nachfolger Khomeinis ungeeignet, während es gleichzeitig den politisch aktiven Klerikern, die zumeist den unteren oder mittleren Rängen der Theologenhierarchie angehörten, an theologischen Qualifikationen mangelte. Der einzige von Khomeinis Getreuen, der sich durch fortgesetzte theologische Studien bis Mitte der achtziger Jahre den Rang eines Groß-Ayatollah hatte sichern können, war Montazeri, ein früherer enger Schüler und Weggefährte Khomeinis in Qom, der von 1965 bis 1978 wegen seiner Oppositionsarbeit acht Jahre in Schah-Gefängnissen einsaß. Er wurde von Khomeini und seinen engsten Mitarbeitern ab 1980 stillschweigend zum inoffiziellen Nachfolger aufgebaut.

Vordergründig schien die Nachfolge endgültig geregelt, als der mit der Wahl beauftragte Expertenrat im November 1985 die Designierung Montazeris zum Nachfolger Khomeinis als vali-ye faqih offiziell verkündete. Doch hatte Montazeri zu diesem Zeitpunkt den Zenit seiner Macht bereits überschritten. Die Wende kam im Herbst 1986 mit der Iran-Contra-Gate-Affäre, dem geheimem Waffen-für-Geisel-Tauschgeschäft zwischen Teheran und Washington, das Mehdi Hashemi, ein enger Gefolgsmann Montazeris, enthüllt hatte, wodurch die ideologische Glaubwürdigkeit des Systems in Misskredit geriet. Mit Billigung Khomeinis wurde Mehdi Hashemi, der bis dato eine von Montazeri protegierte Sondereinheit für den Revolutionsexport geleitet hatte, im Oktober 1986 durch das Geheimdienstministerium (VEVAK) verhaftet; dies versetzte Montazeris Machtstellung in Irans Nomenklatura einen schweren Schlag. Ein eigens eingerichteter Sondergerichtshof der Geistlichkeit, der ihn diverser konterrevolutionärer Vergehen angeklagt hatte, ließ Hashemi im September 1987 hinrichten. Die Affäre um Mehdi Hashemi, dessen Hinrichtung Montazeri im letzten Augenblick noch vergeblich zu verhindern versucht hatte, fügte seiner Reputation immensen Schaden zu und scheint einer der Gründe dafür gewesen zu sein, dass er bei Khomeini 1989 in Ungnade fiel.

Als Montazeri im Februar 1989 seine öffentliche harte Kritik an systeminternen Fehlentwicklungen noch einmal steigerte, kam es zum unwiderruflichen Bruch mit Khomeini. In einem mysteriösen, von offiziellen Stellen Khomeini zugeschriebenen Brief, datiert vom 26. März 1989, wurde Montazeri zum Rücktritt vom Amt des Nachfolgers aufgefordert. Daraufhin verzichtete Montazeri in einem Antwortschreiben auf seinen Posten und beschränkte sich, dem Rat Khomeinis folgend, fortan vorwiegend auf theologische Aktivitäten in Qom. Montazeris Entmachtung, deren geheimnisumwobenen Hintergründe bislang nicht aufgedeckt sind, beschwor eine akute Nachfolgekrise des Systems hervor, die den bereits todkranken Khomeini im April 1989 zwang, einen Verfassungsrevisionsrat einzuberufen. Die Gremiumsmitglieder beschlossen eine Reihe von Verfassungsänderungen, welche die Trennung von höchster religiöser Autorität (marjaciyyat) und höchster politischer Macht (velayat) offiziell sanktionierten. Die Bestimmung, dass ein vali-ye faqih von der Mehrheit des Volkes als marjac-e taqlid anerkannt und akzeptiert werden müsse, wurde gestrichen. Zugleich betonte die neue Verfassung, dass Kandidaten für das Amt des vali-ye faqih, die eine große Vertrautheit mit politischen und sozialen Fragen vorweisen können, der Vorrang zu geben sei. Während das Niveau des religiösen Expertentums verringert wurde, nahm die Bedeutung der politischen Erfahrung zu. Damit wurde ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Abkehr vom ursprünglichen religiösen Dogma der Revolution getan und jüngeren Klerikern niederen theologischen Ranges der Weg für die Nachfolge von Khomeini freigemacht.

Als dieser am 3. Juni 1989 starb, trat der Expertenrat rasch zusammen, um ein Machtvakuum zu verhindern. Seine Wahl fiel auf den bisherigen Staatspräsidenten Ali Khamenei, der allerdings nur den niederen Rang eines Hojjatoleslam hatte. Wenig später wurde Khamenei von der Regierungspresse quasi in einem politischen Akklamationsakt theologisch höher gestuft und fortan als Ayatollah betitelt. Indes konnte diese in den Augen der allermeisten orthodoxen Schia-Kleriker bis heute nicht anerkannte theologische Höherstufung Khamenei zu einem Ayatollah nicht darüber hinwegtäuschen, dass die mit seinem Amtsantritt de facto höchste religiöse und politische Autorität nicht mehr wie zuvor unter Khomeini in einer Hand vereint war. Zwar hatte der reibungslose Machttransfer zu Khamenei die politische Stabilität des Systems erneut unter Beweis gestellt, doch konfrontierte sein Amtsantritt das Regime mit einem neuen Dilemma: Wie kann sich ein auf Verschmelzung von Religion und Politik gegründeter Staat legitimieren, wenn sein höchster Vertreter - anders als noch Khomeini - sich auf keinen allgemeinen Konsens der Bevölkerung berufen kann und ihm zudem die führenden religiösen Schia-Autoritäten die Anerkennung als Groß-Ayatollah verweigern? Alle bisherigen Versuche Khameneis, sich der höchsten religiösen Autorität, des Titels eines Groß-Ayatollah, zu bemächtigen, sind gescheitert. Der letzte Versuch datiert vomNovember 1994, als der einzige der iranischenRegierung nahe stehende Groß-Ayatollah, Muhammad Ali Araki, im Alter von 103 Jahren inQom starb. Kurz nach dessen Tod meldete Khamenei Anspruch auf das nun frei gewordene Amt einer "Quelle der Nachahmung" an. Doch schlug ihm von zahlreichen führenden Schia-Klerikern innerhalb und außerhalb Irans so massiver Widerstand entgegen, dass er rasch auf diesen Anspruch verzichtete. Bis heute wird Irans Revolutionsführer von der großen Mehrheit der Schiiten innerhalb und außerhalb Irans nicht als Groß-Ayatollah anerkannt. Das untergräbt schleichend nicht nur die Legitimität seines Amtes, sondern auch die des ganzen Systems.

Insgesamt kann man festhalten, dass sich die Khomeini-Dekade der ersten Islamischen Republik durch zwei Charakteristika auszeichnet: erstens eine dauerhafte Konsolidierung der revolutionären Strukturen und Institutionen, die das System so stabil machten, dass ihm selbst der Tod Khomeinis und die ihm vorausgegangene Krise um die Nachfolgeregelung nichts anhaben konnten; zweitens eine seit 1982 erkennbare und ab 1988 immer deutlicher ausgeprägte Tendenz zur De-Radikalisierung der Innen- und Außenpolitik des Systems, die damit einherging, dass dem Systemerhalt und dem pragmatischen Nationalinteresse im Zweifelsfall stets Priorität vor ideologischem Dogmatismus eingeräumt wurde. Diese Tendenz sollte sich unbeschadet kurzer episodenhafter Rückfälle in radikale Aktionsmuster, wie etwa im Fall der Massenexekutionen von 1988 und Khomeinis Rushdie-Fatwa vom Februar 1989, bis zum Zeitpunkt von Khomeinis Tod und darüber hinaus in der "Zweiten Republik" dauerhaft verstetigen.

Die "Zweite Islamische Republik"

Nach Khomeinis Tod teilten sich der Revolutionsführer Khamenei und der als Pragmatiker bekannte Ex-Parlamentspräsident Rafsanjani die Macht. Rafsanjani war im Juli 1989 in das Präsidentenamt gewählt worden, das nach einer Verfassungsänderung, welche die Abschaffung des bis dato mächtigen Premierministeramtes einschloss, mit erweiterten Kompetenzen ausgestattet worden war. Der umtriebige und bis zur Unkenntlichkeit seiner wahren Positionen pragmatische Parlamentspräsident Rafsanjani war seit 1982 sukzessive zum starken Mann nach Khomeini selbst aufgestiegen. Rafsanjani, um den sich eine kleine, doch einflussreiche Gruppe von moderat-islamischen Technokraten in Irans Führungselite scharte, die so genannten Rechtsmodernisten, galt als Architekt der Verfassungsreform. Bei seinem Amtsantritt fand Rafsanjani eine durch Krieg und Revolutionswirren erschöpfte Bevölkerung und eine zusammengebrochene Kriegswirtschaft vor. Zudem war der Iran durch eine fast zehn Jahre lang von radikalen ideologischen Dogmen angetriebene Außenpolitik international weitgehend isoliert.

Während seiner zwei Amtsperioden als Präsident (1989 - 1997) unterstützte Rafsanjani einen Prozess der partiellen Entideologisierung der iranischen Innen-, Außen- und Wirtschaftspolitik. So steuerte er außenpolitisch einen moderaten, auf Integration des Iran in die internationale Gemeinschaft, auf vorsichtige Annäherung an den Westen und auf Normalisierung der Beziehungen zu den regionalen Nachbarn abgestellten Kurs mit dem Ziel, Irans kostspielige und seiner Entwicklung abträgliche Isolation zu beenden. Zugleich setzte er auf eine wirtschaftspolitische Liberalisierung, um die im Krieg stark zerstörte technisch-industrielle Infrastruktur des Landes wieder aufzubauen, und erlaubte eine, wenngleich nur behutsame und eingeschränkte Liberalisierung der Gesellschaft, wobei Letzterem nur nachrangige Bedeutung zukam. Doch weder in der Wirtschaftspolitik noch bei der Absicherung und Erweiterung von sozialen Freiheiten und Rechten wurden während Rafsanjanis Amtszeit nennenswerte Fortschritte erzielt. Die Ursache dafür liegt in einem Bündel von Faktoren begründet, die kurz angerissen werden sollen.

Um seine Ziele zu erreichen, bemühte sich Rafsanjani, wirtschaftliche und politische Macht in seiner Hand zu zentralisieren. Voraussetzung dafür war aber eine Entmachtung der - dank der zeitweilig massiven Unterstützung Khomeinis - bis 1989 in Exekutive und Legislative sowie großen Bereichen der Staatswirtschaft tonangebenden Machtelitefraktion der Linksislamisten. Sie waren Rafsanjani wegen ihres Festhaltens an einem radikal-revolutionären Kurs in der Außenpolitik und einer auf sozialistischen Staatsdirigismus ausgerichteten Wirtschaftspolitik ein Dorn im Auge. Zu Lebzeiten Khomeinis kam es zu permanenten schweren Konflikten zwischen den sozialpolitisch Konservativen und den Linksislamisten, die zu einer teilweisen Lähmung der Regierung führten und deren Politik oft inkonsistent und widersprüchlich machten. Zumeist als Schiedsrichter angerufen, nahm Khomeini für keine der beiden Elitenfraktionen dauerhaft Partei, sondern vermochte, teils durch geschicktes Taktieren, teils durch energische Machtworte, die widerstreitenden Tendenzen immer wieder vorübergehend auszubalancieren.

Das Bündnis zwischen Rafsanjani und Khamenei gründete in dem gemeinsamen Wunsch nach Entmachtung der Linksislamisten. In der Tat vermochte Rafsanjani die Linksislamisten zwischen 1989 und 1990 sowohl aus der Regierung als auch aus den meisten anderen wichtigen Staatsinstitutionen zu vertreiben und durch effiziente nichtideologische Technokraten zu ersetzen. Das Zusammenspiel zwischen Pragmatikern und Konservativen bei den Wahlen für den Expertenrat im Oktober 1990 führte dazu, dass die große Mehrheit der linksislamischen Kandidaten disqualifiziert wurde. Da der Expertenrat laut Verfassung die Vollmacht zur Absetzung eines von ihm als amtsuntauglich erachteten Revolutionsführers hat, wurde damit jede potentielle Gefahr für Khamenei dauerhaft gebannt.

Ein erneutes Zusammenspiel von Regierung und dem von Konservativen beherrschten Wächterrat, der die Regimeloyalität aller Kandidaten zu prüfen hat, führte vor den Parlamentswahlen vom Mai 1992 zu einer Disqualifizierung der meisten linksislamischen Mandatsbewerber. Infolgedessen fiel in den Wahlen von 1992 die große Mehrheit der 270 Sitze an die Konservativen, während die Linksislamisten zu einer kleinen Minderheit im Parlament zusammenschrumpften. In Randbereiche des Machtapparats abgedrängt, zogen sie sich trotz gelegentlicher, in ihren Zeitungen an der Regierungspolitik geübter harter Kritik aus der Tagespolitik zurück und hofften auf bessere Tage.

Mit der Schwächung der Linksislamisten wurde die Bühne für die problemlose Implementierung der Wiederaufbaustrategie bereitet, doch bedeuteten die Kosten durch die Kriegsschäden, die Rafsanjani im August 1994 auf 1 000 Mrd. US-Dollar schätzte, von Anfang an eine erhebliche Last. Zugleich war Rafsanjani mit enormen materiellen Erwartungen der Bevölkerung konfrontiert, der das Regime während des Kriegs mit dem Irak noch das Ausbleiben des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts durch Verweis auf den Krieg erklären konnte - eine Entschuldigung, die nach Kriegsende wegfiel. Beim Wiederaufbau räumte die Regierung der Wiederherstellung der devisenträchtigen Öl- und petrochemischen Industrie oberste Priorität ein, zumal Öl traditionell Irans Haupteinnahmequelle war.

Der Wirtschaftsliberalismus der Technokraten und Konservativen bedeutete einen klaren Bruch mit der von den Linksislamisten verfolgten Wirtschaftspolitik des rigiden Staatsdirigismus. Die Technokraten befürworteten die Privatisierung ineffizienter Staatsbetriebe, die Abschaffung des Subventionssystems, die Vereinheitlichung des anarchischen Systems der gespaltenen Wechselkurse, die Rückkehr von emigrierten iranischen Experten und die Aufnahme von Krediten aus dem Ausland. Im Allgemeinen unterstützte Khamenei in den ersten drei Jahren diesen Kurs, den Rafsanjani als Wiederaufbauprogramm im ersten Fünfjahresplan von 1990 bis 1995 festschreiben ließ. Rafsanjani setzte ferner 1990 die bis dahin aus Gründen der Ideologie und der Wahrung der Unabhängigkeit gegenüber dem westlichen Ausland verpönte Aufnahme von Auslandskrediten durch. Befreit von allen Beschränkungen, begann die Regierung, die noch während des Krieges strikte Konsumdisziplin gewahrt hatte, mit dem fast ungehemmten Import von Konsumgütern, der schließlich so gigantische Ausmaße annahm, dass Teheran bis 1993 fast zahlungsunfähig geworden war. Iran, der aus dem Iran-Irak-Krieg praktisch schuldenfrei hervorgegangen war, hatte bis Ende 1993 einen Schuldenstand von 28 Mrd. US-Dollar erreicht. Obwohl Teheran daraufhin gegensteuerte und bis Ende 1994 seine jährlichen Importe stark drosselte sowie Umschuldungen mit seinen westlichen Schuldnerstaaten aushandeln konnte, trug es doch schwer an der Bürde seines vorangegangenen Konsumrauschs. Denn seit Frühjahr 1992 stieg die Inflationsrate so stark an, dass immer häufiger die mittleren und unteren Einkommensschichten empfindlich betroffen wurden. Die sich ausbreitende Irritation und Unzufriedenheit schlug im Frühjahr 1992 in soziale Unruhen und gewaltsame Proteste um, die eine Reihe iranischer Großstädte wie Mashhad, Schiraz und Tabriz erfassten und mit Härte niedergeschlagen wurden. Ebenfalls aus Gründen wirtschaftlicher und sozialer Not kam es 1994 in Qazvin und 1995 in Islamshahr, einer Trabantenstadt von Teheran, zu zwar lokal begrenzten, aber ungemein heftigen gewaltsamen sozialen Unruhen. Aufgrund der Weigerung der Armee, gegen das Volk vorzugehen, konnte das Regime die Unruhen nur durch Einsatz von revolutionären militärischen Sondereinheiten ersticken. Rafsanjani konnte bei den sechsten Präsidentschaftswahlen im Mai 1993 nur einen glanzlosen Wahlsieg erringen; gegenüber den Wahlen von 1989 büßte er enorm an Stimmen ein. Das schlechte Abschneiden an der Wahlurne zeigte Rafsanjani, dass die Popularität seiner Politik, aber auch das Vertrauen in ihn, Irans Wirtschaftskrise beheben zu können, dramatisch geschwunden war.

Stand Khamenei, dem es an theologischer Qualifikation und politischem Charisma mangelte, noch bis Mitte 1992 überwiegend im Schatten des dominanten Rafsanjanis, verschoben sich mit dem Parlamentswahlsieg der Konservativen die Gewichte zugunsten des Revolutionsführers. Das von Anfang an durch verdeckte Rivalität gekennzeichneteBündnis zwischen den beiden hatte solange gut funktioniert, wie sich Rafsanjani als Bindeglied zwischen dem Macht habenden Klerus und dem auf Verbesserung seiner Wirtschaftslage erpichten Volk großer Beliebtheit erfreute. Als jedoch das Ausbleiben des wirtschaftlichen Erfolgs die anfänglich euphorische Stimmung in der Bevölkerung ins Gegenteil umschlagen und Rafsanjanis Popularität verfallen ließ, waren Khamenei und die Konservativen die Nutznießer. Khamenei war zusehends zum Magnet aller Regimegruppen geworden, die ihre Interessen durch die Reformen gefährdet sahen. Aus Sorge, dass fortgesetzte wirtschaftliche Liberalisierungsmaßnahmen soziale Unruhen schüren und damit die Legitimität des Regimes und dessen Bestand gefährden könnten, schwenkte Khamenei im Verbund mit den Konservativen ab Ende 1992 in der Wirtschafts- und Sozialpolitik auf Positionen der Linksislamisten ein. Dies ging oft soweit, dass Rafsanjanis politische Strategie offen untergraben wurde, wie etwa im Fall der von Rafsanjanis Regierung beschlossenen Eliminierung der gewaltigen staatlichen Subventionen für Benzin und Ölprodukte, der das vierte Parlament im Frühjahr 1994 seine Zustimmung verweigerte.

Zudem machte sich Khamenei nach den Präsidentschaftswahlen von 1993 anheischig, seine politischen Prärogativen ungehemmter als zuvor wahrzunehmen und seinen Vertrauten wichtige politische Posten zu sichern. So hinderte er Rafsanjani daran, den administrativen Staatsapparat zu rationalisieren und zu verkleinern und aus ihm ineffiziente Staatsbeamte, Manager und Bürgermeister zu entfernen. Ferner sicherte Khamenei seinen rechtstraditionalistischen Protegés den Verbleib in wichtigen Staatsämtern und setzte auch einige von ihnen als neue Minister in Rafsanjanis zweitem Kabinett durch. Zugleich streckten sie ihre Hand nach wichtigen Machtpositionen im Bereich der Innen- und Kulturpolitik aus, um die ihnen verhasste "Kulturinvasion des Westens" (tahajom-e farhangi-ye gharb) abzuwehren. Zu ihren ersten Opfern zählte der von ihnen als zu "liberal" erachtete und mit der Zensur von Buch, Presse und Film befasste Minister für Kultur und islamische Rechtleitung (ershad), Mohammad Khatami - ein als gemäßigt und aufgeschlossen geltender Linksislamist, der trotz der Niederlage der Linksislamisten von Rafsanjani wieder ins Amt berufen worden war. Nach heftigen Attacken aus den Reihen des neuen Parlaments musste er im August 1992 zurücktreten. Konfrontiert mit diesem "Linksschwenk" Khameneis, blieb Rafsanjani nur die Wahl, zu kapitulieren oder aber sich von seinen Gegnern Kompromisse abringen zu lassen, die seine Wirtschafts- und Außenpolitik bis zur Unkenntlichkeit verwässerten.

Die große Masse der Bevölkerung wartete vergeblich darauf, dass Rafsanjani sein 1989 gegebenes Versprechen, ihnen nach Jahren von Revolution, Krieg und Mangelwirtschaft eine Friedenrendite zuzuteilen, erfüllte. Eher war das Gegenteil der Fall. Bereits in der "Ersten Republik" unter Khomeini hatte sich das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen von 1979 bis 1989 um die Hälfte verringert. Obwohl sich unter dem neuen Regime beachtliche Fortschritte bei der medizinischen und sozialen Basisversorgung, der Infrastruktur und der Alphabetisierung einstellten, hat sich die Einkommensverteilung im Vergleich zur Revolutionszeit dramatisch verschlechtert. So lebten nach UNDP-Schätzungen 1996 ca. 53 Prozent aller Iraner unter der Armutsgrenze. Damit nicht genug: Unter Rafsanjani begann die Korruption in Staat und Regierung in einer zuvor nicht gekannten Dimension zu grassieren, wobei die ab 1995 der Öffentlichkeit bekannt gewordenen wenigen Fälle von staatlichen Bankenskandalen und Selbstbereicherungen vieler Staatsdiener bei der wirtschaftlichen Privatisierung nur die Spitze des Eisberg darstellten. Angesicht dieser negativen Phänomene erfasste viele Iraner Skepsis und Zynismus gegenüber den Erklärungen der Regierungspolitiker, die sich in ihren Augen vom Ideal des zu Anfang der Revolution ausgegebenen Slogans der "Sozialen Gerechtigkeit (`edalat-e ejtema`i) unendlich weit entfernt hatten.

Rafsanjani war in den letzten drei Jahren seiner Präsidentschaft so schwach geworden, dass er es nicht mehr vermochte, den Widerstand des konservativen Establishments gegen die von seinen politischen Vertrauten vorgeschlagene Verfassungsänderung, die ihm eine dritte Amtszeit hätte sichern sollen, zu brechen.

Die "Dritte Republik"

Aus den Präsidentschaftswahlen vom Mai 1997 ging der liberale Schia-Geistliche Mohammad Khatami als Sieger hervor. Er leitete nach seiner Vereidigung im August 1997 eine Politik der behutsamen Reform von Staat und Gesellschaft ein, die sich aber im Rahmen der Verfassung der Islamischen Republik Iran von 1979 bewegte. Der von Khatami in Gang gesetzte Reformprozess war von Anfang an jedoch wachsenden Behinderungen durch den dominanten konservativen Flügel der iranischen Machtelite ausgesetzt, was letztlich dazu führte, dass der Reformprozess seit Khatamis Wiederwahl im Juni 2001 stagniert.

Das Haupthindernis für einen demokratischen Wandlungsprozess bleibt der in der Verfassung angelegte Dualismus zwischen Theokratie und Republikanismus in Gestalt eines sich islamisch legitimierenden Revolutionsführers einerseits und einer Legislative sowie eines Exekutivleiters, die direkt vom Volk gewählt werden, andererseits. Erschwert werden die Reformen durch das verfassungsmäßig verankerte Ungleichgewicht der Machtkompetenzen zwischen Revolutionsführer und Präsidenten und die Komplexität und Vielzahl der unterschiedlichen Machtzentren, deren Mehrheit konservativ ist. Das mit Abstand wichtigste Machtzentrum ist der Revolutionsführer, der die allgemeine politische Richtlinienkompetenz besitzt. Er ernennt die Leiter von Judikative, Staatsrundfunk, regulärer Armee, Revolutionswächter-Armee, Revolutionspolizei und revolutionären Stiftungen. Zudem bestimmt Revolutionsführer Khamenei, der dem Lager der Konserativen angehört, die Mitglieder des Wächterrats und des Feststellungsrats, zweier im Gesetzgebungsverfahren wichtiger Gremien. Mangels Machtkompetenzen war der innenpolitische Spielraum der Regierung von Anfang an eng begrenzt und sie selbst relativ wehrlos gegen die Gegenschläge der Konservativen, was bei vielen Beobachtern den Eindruck erweckte, die Regierung sei eigentlich in der Opposition. Die Judikative ließ von 2000 bis Anfang 2003 mehr als 90 reformistische Zeitungen schließen und eine große Anzahl von kritischen Journalisten, Studentenführern, Klerikern, Schriftstellern, Intellektuellen, Rechtsanwälten und sogar höheren Funktionsträgern aus Exekutive und Staatsadministration, die Präsident Khatami nahe stehen, verhaften und unter fadenscheinigen politischen Anklagen verurteilen. Mehrere Prozesse gegen Führungskader von verfassungsloyalen liberal-islamischen und national-religiösen Oppositionsgruppen, die das Machtmonopol der politisierten Schia-Geistlichkeit ablehnen, laufen noch.

Der Wahlsieg Khatamis eröffnete eine neue Phase in der Geschichte des post-revolutionären Iran. In Iran wurde zum ersten Mal seit 1979 in der Öffentlichkeit die Frage aufgeworfen, welchem der zwei Ordnungsprinzipien des Systems, der Theokratie oder dem Republikanismus, Vorrang gebührt. Um seinen Gestaltungsspielraum zu vergrößern, war Khatami bestrebt, die Presse- und Meinungsfreiheit zu erweitern und die Garantie der verfassungsmäßigen Bürgerrechte zu verteidigen, um so der öffentlichen Meinung zu einer die Gewalten kontrollierenden politischen Macht zu verhelfen. Gefördert durch die Regierung, stieg bis Anfang 2000 die Zahl der lizenzierten, zumeist reformistischen Zeitungen und Zeitschriften auf über 600 an. Die auflagenstärksten Reformblätter bildeten machtvolle Foren einer Gegenöffentlichkeit, welche die politischen Bastionen der Konservativen, etwa in der Justiz, den Sicherheitsdiensten oder der Revolutionswächter-Armee, unerbittlich kritisierten.

Es entstand ein kritischer Diskurs, der vor allem um die Neubewertung des Verhältnisses von islamischer Tradition in ihrer seit 1979 in Iran dominanten theokratischen Ausprägung einerseits und westlicher Moderne mitsamt ihren Konzepten von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten anderseits kreiste. Doch brachten harte Gegenschläge der konservativen Reformgegner vor allem in der Justiz ab Mitte 2000 die Dynamik der Reformbewegung fast zum Erliegen. Präsident Khatami stand und steht diesem Treiben weitgehend ohnmächtig gegenüber.

Auch unter Khatami fand Irans Wirtschaft keinen Ausweg aus ihrer chronischen Krise, deren Ursache unter anderem in der seit 1979 verfolgten islamisch-sozialistischen und staatdirigistischen Wirtschaftspolitik des Regimes liegt. So wurde 1979/1980 ein Großteil der iranischen Wirtschaft verstaatlicht oder in den Besitz revolutionärer Stiftungen überführt, in denen Missmanagement und Korruption alltäglich sind. Behindert wird die Gesundung der Wirtschaft zusätzlich durch die bereits unter der Schah-Monarchie ausgeprägte einseitige Abhängigkeit Irans vom Erdöl. Aus dem Verkauf von Erdöl bezieht Teheran ca. 80 Prozent seiner ausländischen Deviseneinnahmen, was das Land extrem anfällig für Schwankungen des Weltrohölpreises macht. Wiederholte Anläufe zur Diversifizierung der Einnahmequellen für Exporterlöse sind weitgehend gescheitert. Die Ölexporteinnahmen stellen derzeit immer noch ca. 50 Prozent des Staatsbudgets. Irans Wirtschaft leidet auch unter anderen strukturellen Problemen, wie fehlende gesetzliche Rahmenbedingungen für Auslandsinvestitionen. Ausgelöst durch periodisch wiederkehrende Zuspitzungen der wirtschaftlichen Krise, kam es auch unter Khatami in verschiedenen Städten Irans wiederholt zu kleineren sozialen Unruhen und Demonstrationen, die aber zumeist lokal begrenzt blieben. Die desolate Wirtschaftslage und die politische Perspektivlosigkeit vieler Iraner bilden einen der Hauptgründe für das rasante Anwachsen negativer sozialer Phänomene, von denen vor allem die Prostitution und die Drogenabhängigkeit zu nennen sind. Nach UN-Angaben sind ca. zwei Mio. Iraner drogenabhängig.

Vor dem Hintergrund einer schnell wachsenden und extrem jungen Bevölkerung - mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten sind unter 30 Jahre alt - sieht sich Teherans Regierung großen Problemen gegenüber. Von 1979 (36 Mio. Einwohner) bis 2003 (ca. 72 Mio.) hat sich Irans Bevölkerung verdoppelt. Der Faktor Demographie bildet eine der wesentlichen Triebkräfte des Reformprozesses, da Khatami seine Wähler und Sympathisanten vor allem unter der Jugend und den Frauen Irans hat. Die Generation der in den siebziger und achtziger Jahren geborenen Iraner, die weder tiefe Ressentiments gegen das von ihnen kaum oder nicht bewusst erlebte Schah-Regime hegen noch aktiv an der Revolution teilnahmen, ist vom islamischen Regime enttäuscht. Der Hauptgrund ist, dass die Revolution die 1979 gegebenen Versprechen von sozialer Gerechtigkeit und materiellem Wohlstand nicht erfüllt hat.

Die Jugend drängt nach politischer und ökonomischer Liberalisierung. Sie fordert Reformen, durch die Arbeitsplätze geschaffen, die Inflation gebremst und der Lebensstandard verbessert werden sollen. Ferner verlangt sie eine Lockerung der rigiden sozialen und kulturellen Restriktionen, die das Leben der meisten Iraner bestimmen, insbesondere in den Bereichen der islamischen Kleiderordnung für Frauen, der Beziehungen zwischen den Geschlechtern sowie von Zugangsmöglichkeiten zu westlicher Kultur und Medien. Ferner wünscht eine Mehrheit der Iraner das Ende der außenpolitischen Isolation, die vor allem in der Feindschaft des Regimes zu den USA wurzelt. Die Überwindung dieser Feindschaft, die teils auf den negativen historischen Erfahrungen Irans mit der imperialistischen US-Politik unter dem Schah-Regime, teils auf den ideologischen Dogmen der Revolution von 1979 basiert, ist bis heute nicht gelungen.

Gleichwohl darf die Enttäuschung eines Großteils der Bevölkerung über das islamische Regime nicht zu dem Trugschluss verleiten, dass die Stabilität des Systems in Iran ernsthaft gefährdet sei. Trotz verbreiteter Unzufriedenheit hat sich bislang im Volk keine mehrheitsfähige, gut organisierte, zum gewaltsamen Umsturz des Systems als Ganzem fähige und willige Fundamentalopposition herausgebildet. Untereinander zerstritten und ohne Massenbasis im Inland, stellen die Kräfte der exiliranischen Opposition bereits seit Mitte der achtziger Jahre keine reale Bedrohung mehr dar. Nicht zuletzt aufgrund mangelnder Alternativen richtet sich der wachsende Veränderungsdruck der Bevölkerung auf eine Reform des Systems innerhalb seiner bestehenden verfassungsmäßigen Grenzen statt auf dessen Abschaffung durch eine erneute gewaltsame Revolution. Ablesbar wurde dies in den Wahlergebnissen für Khatami bei den Präsidentschaftswahlen von 1997 und 2001, die bei 69 und 77 Prozent lagen.

Zieht man eine Bilanz der Regierungszeit von Khatami seit 1997, so sticht die Diskrepanz zwischen den Erfolgen in der Außen- und denen in der Innenpolitik ins Auge. Während Khatami unbestritten beachtliche Fortschritte bei der Verbesserung der Beziehungen Irans zu seinen islamischen Nachbarn, insbesondere den arabischen Staaten, erzielen und auch das nach dem Abbruch des kritischen Dialogs gestörte Verhältnis zur EU weitgehend normalisieren konnte, waren seine Erfolge in der Innenpolitik gering. Aber insbesondere auf diesem Feld sind die Positionen Khatamis durchaus zwiespältig. Khatami hat seit 1997 öffentlich Auffassungen vertreten, die auf eine Förderung von Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Interessenausgleich durch innergesellschaftlichen Dialog sowie Beachtung verfassungsmäßiger und rechtlicher Normen zielen. Nichtsdestoweniger ist der Intellektuelle Khatami kein auf Umsturz des Systems sinnender Revolutionär, sondern - wählt man etwa die Sowjetunion als Vergleich - eher mit Gorbatschow als mit Lenin zu vergleichen. So hat er vor und nach seinem Amtsantritt als Präsident 1997 stets betont, dass er ein überzeugter Anhänger der velayat-e faqih sei, der sein reformerisches Wirken ausschließlich im Rahmen des bestehenden Verfassungs- und Rechtssystems verwirklichen wolle. Khatami glaubt offenbar, die islamische Theokratie humanisieren zu können, ohne sie aber im Kern anzutasten. Bezeichnenderweise hat Khatami bis heute weder selbst die Forderung nach einer Einschränkung der absoluten Autorität des Revolutionsführers durch eine Verfassungsänderung erhoben noch darauf zielende Initiativen einiger Radikalreformer unterstützt. Khatamis Bestreben, bei Konflikten mit den Konservativen stets Konsenslösungen den Vorzug zu geben, anstatt - gestützt auf das überwältigende Wählervotum - durch Konfrontation seinen Gegnern Zugeständnisse abzuringen, was ihm durch das Druckmittel der Mobilisierung seiner Sympathisanten für Straßenkundgebungen leicht möglich wäre, verwässerte die Reformprinzipien, schwächte die Reformbewegung als Ganzes und verbitterte viele treue Anhänger. Ein großer Teil von ihnen, insbesondere unter den Jugendlichen und Studenten, hat sich enttäuscht und mutlos geworden mittlerweile vom Reformprozess abgewandt.

Derzeit ist es noch zu früh, die Reformbewegung gänzlich für tot zu erklären. Dennoch weisen viele Anzeichen, wie die massive Niederlage der Reformer in den Kommunalwahlen vom Frühjahr 2003, als viele Wähler aus Enttäuschung über die nicht erfüllten Reformversprechen der Regierung Khatami nicht an die Wahlurne gingen, darauf hin, dass ihre Zukunft ungewiss ist.

Ausblick

Wenn man versucht, die Erfolge und Misserfolge eines Vierteljahrhunderts Islamische Republik zu bilanzieren, muss man sich die Frage nach den Kriterien stellen, die anzulegen sind. Misst man nach dem Kriterium der Systemstabilität, so ist unbestritten, dass das neue Regime seine Kontrolle durch den Aufbau von zahlreichen Institutionen abzusichern und zu perpetuieren verstand, die seinen Fortbestand noch für längere Zeit sichern dürften. Misst man die Republik jedoch an dem, was die Ideologie der Revolution und deren Führer der großen Mehrheit der Iraner, die den Sturz des Schahs wollten und ihnen folgten, versprachen, wie etwa soziale Gerechtigkeit, fällt die Bilanz anders aus. Eines muss man sich vor Augen halten: Es waren die enormen Schwierigkeiten mit der rapiden Modernisierung und den tief greifenden sozialen und wirtschaftlichen Wandlungsprozessen, die viele Iraner dazu bewegten, im Islam ihr Heil zu suchen, zumal die "importierten" westlichen Philosophien und Konzepte wie Nationalismus, Sozialismus und Konstitutionalismus gescheitert waren. So schlug Ayatollah Khomeini die Lösung vor, die vielen als die authentischste, vertrauteste und einfachste erschien - nämlich eine Rückkehr zu den Grundprinzipien des Islam als Heilmittel für die gegenwärtige Malaise in einer muslimischen Gesellschaft. Die Revolution endete jedoch keineswegs mit dem Sturz des Schahs und der Errichtung der Islamischen Republik. In vielerlei Hinsicht war die Übernahme der Regierungsgewalt nur die erste Phase, denn danach musste die Revolution beweisen, dass ihre religiös-ideologischen Dogmen zur Überwindung der sozialen Krise genügten. Dass das islamische Regime relativ erfolgreich ein Vierteljahrhundert lang die politische Stabilität der Revolutionsherrschaft zu sichern verstand, ist unbestritten. Ebenso unbestritten ist aber sein Scheitern bei dem Versuch, revolutionär-islamische Dogmen zu effektiven Instrumenten für die Lösung stetig wachsender politischer, sozialer und wirtschaftlicher Probleme zu machen, die bereits zu einem Großteil selbst die Ursachen der Revolution von 1979 waren. Die Frage, welche Konsequenzen sich aus diesem Scheitern ableiten, dürfte in den kommenden Jahren zunehmend relevanter werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Ervand Abrahamian, Iran Between Two Revolutions, Princeton 1982, S. 529.

  2. Yazdi nennt die mit der Präsidentschaft Mohammad Khatamis beginnende Phase die "Dritte Republik". Vgl. ausführlich zu den Definitionen Ebrahim Yazdi, Se Jomhuriye ("Drei Republiken), Teheran 2001, S. 341 - 352.

  3. Vgl. die Kurzbiographie von Wilfried Buchta, Mehdi Bazargan, in: Orient, 36 (1995) 4, S. 585 - 590.

  4. Vgl. Mohsen M. Milani, The Making of Iran's Islamic Revolution. From Monarchy to Islamic Republic, Boulder, Col. 1994, S. 84 - 89 und S. 154 - 160.

  5. Hier in Anlehnung an den Religionshistoriker Mensching definiert als verfassungsmäßig festgelegte weltliche Herrschaft eines organisierten Klerikertums zur Vertretung der Gottheit. Vgl. Gustav Mensching, Toleranz und Wahrheit in der Religion, Heidelberg 1955, S. 111.

  6. Vgl. Shaul Bakhash, The Reign of the Ayatollahs, New York 1984, S. 217 - 230.

  7. Vgl. Saskia Gieling, Religion and War in Revolutionary Iran, London 1999, S. 32.

  8. Vgl. die Memoiren von Hosein Ali Montazeri, Khaterat-e Ayatollah Montazeri, o. O 2001, S. 490.

  9. Vgl. ausführlich Reza Afshari, Human Rights in Iran. The Abuse of Cultural Relativism, Philadelphia 2001, Kapitel 8, S. 104 - 118.

  10. Vgl. Amnesty International, Iran, Human Rights Violations, 1987 - 1990, S. 6.

  11. Vgl. H. A. Montazeri (Anm. 8), S. 299.

  12. Vgl. ebd., S. 302.

  13. Vgl. Wilfried Buchta, Die Inquisition der Islamischen Republik Iran: Einige Anmerkungen zum Sondergerichtshof der Geistlichkeit, in: Rainer Brunner (Hrsg.), Islamstudien ohne Ende. Festschrift für Werner Ende zum 65. Geburtstag, Würzburg 2002, S. 69 - 78.

  14. Montazeri bezweifelt in seinen Memoiren die Authentizität des Briefes und glaubt, dass er von Ahmad Khomeini verfasst sei, der ihn zusammen mit anderen jedoch ungenannten Regimespitzen durch eine Intrige habe entmachten wollen. Vgl. H. A. Montazeri (Anm. 8), S. 318.

  15. Genauer dazu Wilfried Buchta, Die Islamische Republik Iran und die religiös-politische Kontroverse um die marja'iyyat, in: Orient, 36 (1995) 3, S. 449 - 474.

  16. Vgl. Ahmed Hashim, The Crisis of the Iranian State, London 1995, S. 2.

  17. Vgl. Patrick Clawson, Iran's Challenge to the West: How, When, and Why?, Washington, D. C. 1993, S. 26.

  18. Vgl. Wilfried Buchta, Rafsandschanis Ohnmacht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. 10. 1996, S. 10.

  19. Vgl. ders., Liberale Epochenwende im Teheraner Gottesstaat? Die iranischen Präsidentschaftswahlen vom 23. Mai 1997 und die neue Regierung, in: KAS-Auslandsinformationen, (1997) 9, S. 28 - 74.

  20. Zu den Aufgaben und Kompetenzen von Präsident, Revolutionsführer und Wächter- sowie Feststellungsrat vgl. ders., Who Rules Iran? The Structure of Power in the Islamic Republic, Washington, D. C. 2000, S. 22 - 64.

  21. Vgl. Abbas Wiliam Samii, Sisyphus' Newsstand: The Iranian Press under Khatami, in: MERIA, 5 (September 2001) 3, S. 1 - 14.

  22. Vgl. Jahangir Amuzegar, Iran's Economy under the Islamic Republic System, London 1992, S. 13 - 40.

  23. Vgl. dazu ausführlich International Crisis Group, Middle East Report No. 5: Iran. The Struggle for the Revolution's Soul, 5. 8. 2002, S. 24ff.

  24. Vgl. Mark Gasiorowski, The Power Struggle in Iran, in: Middle East Policy, VII (October 2000) 4, S. 23.

  25. Vgl. Wilfried Buchta, Iran, in: Siegried Faath (Hrsg.), Antiamerikanismus in Nordafrika, Nah- und Mittelost, Hamburg 2003, S. 241 - 260.

Dr. phil., geb. 1961; Studium der Islamwissenschaft, Politologie und Religionswissenschaft an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; wiss. Mitarbeiter am Deutschen Orient-Institut (DOI) in Hamburg und Lehrbeauftragter am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humbold-Universität, Berlin.
Anschrift: Sodener Str. 16, 14197 Berlin.
e-Mail: E-Mail Link: wilfried.buchta@gmx.de

Veröffentlichungen u.a.: Who Rules Iran? The Structure of Power in the Islamic Republic, Washington, D.C. 2000 (2003 in Arabisch); Schiiten, München 2004; zahlreiche Aufsätze zur Sozialgeschichte und zu den politischen Bewegungen in Iran.