Seitdem die Europäische Union den Tiefpunkt ihrer vielschichtigen und viel diskutierten Polykrise – der Begriff stammt von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker – überwunden hat, mehren sich die Versuche, durch Zukunftsdebatten neue Horizonte für das europäische Integrationsprojekt aufzuzeigen. Dies ist bitter nötig. Denn in den vergangenen Jahren hat es die EU nicht vermocht, tatkräftig und mutig die heutigen und künftigen Herausforderungen anzupacken und sich Zukunftsperspektiven zu eröffnen, die auch Europas Bürgerinnen und Bürger von ihrer Unverzichtbarkeit überzeugen könnten. Dies hat in großem Maße zu den bedrohlichen Entwicklungen beigetragen, die es derzeit all den dezidiert EU-feindlichen Parteien quer durch die Mitgliedstaaten ermöglichen, das europäische Einigungsprojekt zu unterminieren. Der Brexit und breitgefächerte Angriffe auf die uns bekannte multilaterale Weltordnung erzwingen nun, dass die EU verstärkt Selbstbehauptungs- und Überlebenswillen entfaltet.
Die aktuellen Zukunftsdebatten in der EU weisen eine große intentionale Bandbreite auf, sie reichen von geradezu visionären Entwürfen bis hin zu kleinteiligen, aber notwendigen Reformvorschlägen, sie stehen sowohl für ambitionierte Aufbruchsszenarien als auch für pragmatische Weiterentwicklungen. Aus diesem weiten Feld der Zukunftswerkstatt EU sollen im Folgenden einige Debatten herausgegriffen werden, die diese Bandbreite abdecken. Ob die aktuellen Zukunftsentwürfe einen glaubhaften Aufbruch eröffnen, entscheiden letztendlich die Wählerinnen und Wähler bei der Europawahl im Mai 2019.
Angesichts der lang anhaltenden Visions- und Mutlosigkeit in der EU werden neue Narrative zur EU eingefordert.
"Weißbuch zur Zukunft Europas"
Inmitten der Polykrise rief Kommissionspräsident Juncker in seiner Rede zur Lage der Union 2016 die gesamte EU zu einer Zukunftsdebatte auf. Mit den Worten "Ja, wir brauchen eine langfristige Vision", kündigte er an, im März 2017 – "rechtzeitig zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge" – solch eine Zukunftsvision vorzulegen.
Das originelle Vorgehen des Weißbuches besteht darin, dass nach einer knappen Benennung der wirkungsmächtigsten künftigen Einflussfaktoren auf die EU "fünf Szenarien für Europa im Jahr 2025" vorgelegt werden, ohne dass die Kommission ihre eigenen Präferenzen äußert. Damit möchte das Weißbuch "einen Prozess anstoßen, in dem Europa selbst darüber entscheidet, welchen Weg es künftig einschlagen wird".
Szenario 1 heißt "Weiter wie bisher", was bedeutet, dass die EU sich auf die Umsetzung ihrer derzeitigen Reformagenda konzentriert. Nun war im Frühjahr 2017 diese Reformagenda mit dem Bratislava-Fahrplan und der Rom-Erklärung bereits recht anspruchsvoll.
Szenario 2, "Schwerpunkt Binnenmarkt", fällt hinter den Anspruch, Zukunft anleiten zu wollen, klar zurück und deckt den heutigen Integrationsstand der EU nicht ab.
Szenario 3, "Wer mehr will, tut mehr", umfasst das Modell eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten. Als mögliche Betätigungsfelder einer Avantgarde werden "Bereiche wie Verteidigung, innere Sicherheit, Steuern oder Soziales" genannt. Szenario 3 greift also die in den zurückliegenden Jahren breit diskutierten Modelle der flexiblen Integration auf.
Szenario 4, "Weniger, aber effizienter", geht von einer klaren Fokussierung des EU-Handelns aus. Für eine Schwerpunktsetzung werden Innovation, Handel, Sicherheit, Migration, Grenzmanagement und Verteidigung genannt.
Szenario 5, "Viel mehr gemeinsames Handeln", bedeutet, dass die Mitgliedstaaten bereit sind, "in allen Bereichen mehr Machtbefugnisse und Ressourcen zu teilen und Entscheidungen gemeinsam zu treffen." Dies ist das ehrgeizigste der fünf Szenarien; es deckt den "gemeinsamen Sprung nach vorne" ab, von dem im Weißbuch die Rede ist.
Dass die fünf Szenarien nicht trennscharf voneinander abgrenzbar sind, wurde – trotz der Vorwarnung der Kommission – oft kritisiert. Dieser Punkt soll hier an nur einer Frage verdeutlicht werden: Welches Szenario entspricht der Programmatik des Artikel 1 des EU-Vertrags, der vom Ziel "einer immer engeren Union der Völker Europas" spricht? Ist es nur Szenario 5, wie es auf den ersten Blick scheint, oder erfüllt auch Szenario 1 dieses Ziel? Oder gilt das gar auch für die Szenarien 3 und 4? Eine Antwort fällt schwer. Wenig hilfreich für ein klareres Verständnis der Szenarien war Junckers später Versuch, seine eigene Präferenz zu äußern. In seiner Rede zur Lage der Union 2017 legte er sein "persönliches ‚sechstes Szenario‘" dar,
Bürgerdialoge
Wie im Weißbuch angekündigt, legte die Kommission 2017 fünf Reflexionspapiere vor, die vertiefte Beiträge zur Zukunftsdebatte leisteten. Behandelt wurden die Themen Ausbau der sozialen Dimension Europas, Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion, Globalisierung als Chance, Zukunft der Verteidigung Europas sowie Zukunft der EU-Finanzen. Diese Papiere nehmen "in sehr unterschiedlicher Weise auf die Szenarien des Weißbuchs Bezug" und verdeutlichen, dass die Szenarien "nur sehr bedingt [in konkreten Handlungsfeldern] anwendbar sind".
Im Vorwort des Weißbuchs hatte Juncker eine breite Debatte über die fünf Szenarien angekündigt, die "den ganzen Kontinent miteinbezieht, darunter das Europäische Parlament, die nationalen Parlamente, die Regionen und Kommunen und die gesamte Zivilgesellschaft". Letzteres interessiert besonders: Allein in den vier Monaten von März bis Juni 2017 veranstaltete die Kommission über 1750 Debatten- und Dialogevents, mit denen insgesamt über 270.000 Menschen erreicht wurden.
Parallel richteten auch die Mitgliedstaaten Bürgerdialoge aus; damit griffen sie eine Initiative des französischen Präsidenten Emmanuel Macron auf. Aus einem Bericht der Bundesregierung geht hervor, dass zwischen Mai und Oktober 2018 in ganz Deutschland insgesamt 119 Dialogveranstaltungen stattfanden, an denen in der Regel 50 bis 75 Interessierte teilnahmen.
Auf dem Dezembergipfel 2018 begrüßte der Europäische Rat die Bürgerdialoge und -konsultationen als "beispiellose Gelegenheit (…), mit den europäischen Bürgerinnen und Bürgern in Kontakt zu treten".
"Europäische Souveränität" à la française
Tatsächlich werden die Zukunftsdebatten in der EU inzwischen nicht länger maßgeblich vom Weißbuch, sondern von Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron inspiriert. Seit seinem klar proeuropäisch geführten Wahlkampf und nach fulminanten Europareden stehen seine Ideen, Vorschläge und Forderungen sowie die dadurch ausgelösten Reaktionen in deren Zentrum. So entwarf Macron in seiner inzwischen berühmten Rede an der Sorbonne am 26. September 2017 die Vision einer "europäischen Souveränität".
Diese "europäische Souveränität" möchte Macron auf sechs Pfeilern aufbauen: auf einer starken europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, einer effektiven und zugleich humanen Migrationspolitik, einer auf Afrika fokussierten partnerschaftlichen Entwicklungspolitik, einer auf Nachhaltigkeit abzielenden Vorreiterrolle in der Umwelt- und Klimapolitik, der aktiven Gestaltung der Digitalisierung sowie der Konsolidierung und Stärkung der Wirtschafts-, Industrie- und Währungsmacht der EU. Mehrfach ließ er dabei anklingen, dass ein souveränes Europa auch dem sozioökonomischen Vorteil beziehungsweise der sozialen Absicherung der EU-Bürgerinnen und -Bürger dienen muss. Zu allen sechs Pfeilern unterbereitete Macron konkrete Vorschläge, von denen – zumindest in Deutschland – vor allem jene zum Ausbau der Eurozone wahrgenommen wurden: Schaffung eines Eurozonen-Budgets, eines Eurozonen-Finanzministers und einer gemeinsamen Digitalsteuer. Weiterhin sprach Macron sich etwas verklausuliert für ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten aus, dessen Fliehkräfte für die Einheit der EU er durch Solidarität und die Stärkung des kulturellen Zusammenhalts auffangen möchte.
Im Gegensatz zum Weißbuch hat Macron damit einen klaren Kurs vorgegeben und all jene, die seine Idee eines souveränen Europa teilen, zur zügigen Neubegründung der EU aufgerufen. Ob der neue Begriff der europäischen Souveränität nicht nur eine Umbenennung des alten französischen Europe-puissance-Konzepts ist,
Die deutsche Antwort
Angesichts der Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen als Motor der Integration musste sich insbesondere Deutschland von Macron angesprochen fühlen. Doch die Qualen der gescheiterten Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU, Grünen und FDP sowie die permanenten Krisen der Anfang März 2018 angetretenen dritten Großen Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel haben eine angemessene und klare Antwort Deutschlands auf Frankreichs Vorstoß verzögert – obwohl im Koalitionsvertrag schon im Titel ehrgeizig ein "neuer Aufbruch für Europa" versprochen wird.
Dennoch war die Öffentlichkeit auf die deutsche Antwort fixiert, die die Kanzlerin Anfang Juni 2018 endlich in einem schlichten Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" (FAS) gab. "Europa muss handlungsfähig sein – nach außen und nach innen" war dabei ihr Leitmotiv.
Von Meseberg zum Gipfeltreffen Ende 2018
Wie es sich für den Motor der Integration gehört, wurden diese Zukunftspläne auf den deutsch-französischen Regierungskonsultationen im Juni 2018 auf Schloss Meseberg zusammengeführt und "geerdet", also auf praktikable Einzelprojekte heruntergebrochen. Erneut erwies sich dieser Motor dabei als Konsensschmiede, um der EU Wege zu pragmatischen Fortschritten zu weisen.So wurde etwa vorgeschlagen, "einen Haushalt für die Eurozone aufzustellen, um die Wettbewerbsfähigkeit, Annäherung und Stabilisierung in der Eurozone zu fördern". Zudem ist beabsichtigt, "eine EU-Einigung über eine faire Besteuerung der digitalen Wirtschaft bis Ende 2018 herbeizuführen". Zur Stärkung der Handlungsfähigkeit der EU-Außenpolitik sollen "Möglichkeiten der Nutzung von Mehrheitsentscheidungen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" geprüft werden, und vieles mehr. Auch finden sich Vorschläge, ein deutsch-französisches Zentrum für Forschung zur Künstlichen Intelligenz sowie "rasch die ersten ‚europäischen Universitäten‘ einzurichten".
Nach Meseberg wurde im Tandem und in der EU kontinuierlich an diesen und zahlreichen anderen Reformvorhaben gearbeitet. Im Dezember 2018 ging es vorrangig um die Stärkung der Eurozone: So einigten sich die Finanzminister der Eurogruppe am 4. Dezember nach schwierigen Verhandlungen auf den Ausbau des Euro-Rettungsfonds ESM und die Vertiefung der Bankenunion. Ein Eurozonen-Budget soll jedoch erst im Rahmen des nächsten EU-Haushalts beschlossen werden; und auch der Aufbau eines "Europäischen Fonds zur Stabilisierung nationaler Arbeitslosenversicherungen" – ein Lieblingsprojekt des deutschen Finanzministers Olaf Scholz – wurde wegen Uneinigkeit der Minister vertragt.
Visionäres Projekt oder Dauerbaustelle: Sicherheits- und Verteidigungspolitik
In den Zukunftsdebatten der EU hat sich letzthin eine eindeutige Fokussierung auf das Politikfeld Sicherheit und Verteidigung herauskristallisiert. Denn hier ist der dringlichste Handlungsbedarf zu verorten: Der Brexit, US-Präsident Trumps ungeklärte Haltung zur NATO, sein brachiales Drängen auf transatlantisches burden sharing sowie neue Bedrohungslagen an den Außengrenzen der EU haben Sicherheit und Verteidigung in den Vordergrund katapultiert. Die jüngeren Beschlüsse zur Schaffung eines EU-Hauptquartiers und zur Errichtung einer Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich, besser bekannt als PESCO (Permanent Structured Cooperation), sowie die Auflegung eines milliardenschweren Rüstungsfonds bestätigen, dass die EU sich dieser Priorität bewusst ist.
Die 25 PESCO-Mitglieder – neben dem Vereinigten Königreich sind nur Dänemark und Malta nicht daran beteiligt – wollen gemäß Art. 42 Abs. 6 des Vertrags von Lissabon "anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten" erfüllen, um "Missionen mit höchsten Anforderungen" realisieren zu können. 17 Projekte wurden inzwischen ausgewählt; derart sollen die militärischen Fähigkeiten verbessert beziehungsweise, wie im Cyberbereich, entwickelt werden. Deshalb trifft trotz dieser bedeutenden Fortschritte zu, dass PESCO "und die Entwicklung einer leistungsfähigen verteidigungsindustriellen Basis (…) erst in zehn bis 15 Jahren wirksam" sein werden.
Dabei kann die "Europäische Interventionsinitiative" – ebenfalls von Macron lanciert – den Europäern zu strategischen Substanzgewinnen verhelfen. Das als EI2 firmierende Projekt soll der Herausbildung einer gemeinsamen strategischen Kultur dienen. Sie wurde von Kanzlerin Merkel sowohl in ihrem FAS-Interview erwähnt als auch in der Meseberg-Erklärung aufgenommen Eine Absichtserklärung (letter of intent) wurde am 25. Juni 2018 von neun europäischen Staaten unterzeichnet; darin heißt es: "The ultimate objective of EI2 is to develop a shared strategic culture, which will enhance our ability, as European states, to carry out military missions and operations (…)."
Nach einer veritablen Vision hingegen klingt zunächst die aktuell wieder aufflammende Debatte zur Schaffung einer europäischen Armee. Diese Forderung ist keineswegs neu, zuletzt entbrannte sie im Kontext der Ukraine-Krise seit 2014. Ihr wurde damals von deutscher Seite eine Absage erteilt.
Überraschend bekannte sich auch Merkel kurz darauf vor dem Europäischen Parlament zu einer "echten europäischen Armee". Allerdings ordnete sie dieses Ansinnen sofort als Vision ein, an der man "aufgrund der Entwicklung der letzten Jahre" arbeiten müsse. Explizit sagte sie: "Das ist ja keine Armee gegen die NATO. (…) Wenn wir unser Geld effizient einsetzen wollen und doch für viel Gleiches kämpfen, dann können wir doch in der NATO mit einer europäischen Armee gemeinsam auftreten."
Alarmiert von dieser gemeinsamen Macron-Merkel’schen "Vision und Notwendigkeit einer Europäischen Armee" stellte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen sogleich klar, dass der spürbare und positive sicherheits- und verteidigungspolitische Aufbruch in der EU "Schritt für Schritt zu einer ‚Armee der Europäer‘ [führt]. Streitkräfte in nationaler Verantwortung, eng verzahnt, einheitlich ausgerüstet, für gemeinsame Operationen trainiert und einsatzbereit."
Auch wenn sich die Vision einer "echten europäischen Armee" bei näherem Hinsehen als wenig belastbar herausstellt,
Europawahl 2019: Entscheidung über die Zukunft der EU
Die vergangenen Jahre sollten die EU-Bürgerinnen und -Bürger dafür sensibilisiert haben, dass große Veränderungen anstehen, die sie zu einer europapolitischen Neupositionierung zwingen. Die wieder steigenden Zustimmungsraten zur EU deuten an, dass viele dies verstanden haben.
Es werden letztlich die Bürgerinnen und Bürger der EU sein, die bei den Wahlen zum Europäischen Parlament vom 23. bis 26. Mai 2019 darüber entscheiden, welche Zukunft sie für die EU wollen. Im kommenden Mai wird es gar nicht so sehr darauf ankommen, welche der die europäische Integration grundsätzlich befürwortenden Parteien die Bürgerinnen und Bürger wählen. Wichtig wird vielmehr sein, dass sie, erstens, überhaupt zur Wahl gehen und damit die Bedeutung der EU für ihre Zukunftssicherung anerkennen. Zweitens wird wichtig sein, dass sie all jenen rechtspopulistischen und nationalistischen Kräften eine Abfuhr erteilen, die durch einzelstaatliche Souveränitätsphantastereien oder durch Angriffe auf die europäischen Grundwerte wie Rechtstaatlichkeit und Solidarität die EU und damit das große europäische Friedensprojekt unterminieren oder gar zerstören wollen. Das wäre wahrlich ein Fest für die Demokratie in der EU und ein wichtiger Schritt in die Zukunft.