Nebenwahlen? Hauptsache!
Europa vor einer Richtungsentscheidung - Essay
Claus Leggewie
/ 15 Minuten zu lesen
Link kopieren
Die Europawahlen bieten den besten Anlass für eine breite Debatte darüber, welchen Weg Europa einschlagen soll: Rückbau in Nationalstaaten, Durchwursteln mit den bewährten Kräften der Mitte oder doch ein "gemeinsamer Sprung" in die europäische Republik.
Das Europäische Parlament, 1979 zum ersten Mal direkt gewählt und seither auf dem gewundenen Weg zum "Vollparlament", erscheint vielen Europäerinnen und Europäern bedeutungslos. Entsprechend gelten Europawahlen als "Nebenwahlen", die Wahlbeteiligung lag 2014 bei historisch niedrigen 42,6 Prozent. Auch die Parteien haben nicht immer ihre besten Köpfe nach Brüssel und Straßburg geschickt. "Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa", lautete der respektlose Abschiedsgruß an daheim nicht mehr benötigte oder erwünschte Politiker. Zugleich waren "Brüssel" und "Straßburg" immer ein Experimentierfeld für Wähler und Abgeordnete. Ermuntert durch fehlende oder niedrige Sperrklauseln trauen sich Erstere, ihr Kreuz versuchsweise an anderer Stelle zu machen; Letztere gehen unkonventionelle Allianzen ein und legen korporatives Selbstbewusstsein gegenüber Kommission und Rat an den Tag, aber auch gegenüber ihren Herkunftsländern und Nationalstaaten generell. So übernahm das Europäische Parlament eine transnationale Vorreiterrolle.
Ende Mai 2019 sind rund 400 Millionen Europäer, denen etwa das deutsche Bundesverfassungsgericht die Qualität eines Staatsvolkes nicht zuerkennen will, aber auch nicht ganz absprechen mag, zu einer echten Schlüsselwahl aufgerufen. Wer in Brüssel und Straßburg die Mehrheit der Parlamentssitze erobern wird, ist ebenso bedeutsam für Europas Zukunft wie der für März 2019 angesetzte "Brexit". Durch einen erneuten Erfolg der EU-feindlichen Kräfte geriete die Union, wie wir sie kennen, in eine bedrohliche Schieflage.
Erosion der Mitte
Am Wahlmodus hat sich seit der Wahl 2014 wenig verändert. Von den 73 britischen Sitzen, die von den insgesamt 751 Sitzen mit dem Brexit frei werden, sollen 27 auf Länder verteilt werden, deren Bevölkerung zugenommen hat, 46 Sitze bleiben für potenzielle EU-Neumitglieder reserviert. Der weiter gehende Vorschlag des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, sie für transnationale Listen zu verwenden, wurde nicht aufgegriffen. Er hätte zum Einzug von Abgeordneten mit einer originär europäischen Agenda ins Parlament führen können – eigentlich eine logische Konsequenz der Ausrufung von Spitzenkandidaten und der entsprechenden Bestellung des EU-Kommissionspräsidenten.
Gescheitert ist die Idee am Widerstand der mit 218 Sitzen größten Fraktion im Europäischen Parlament, der Europäischen Volkspartei (EVP), deren Abgeordneter Elmar Brok (CDU) darin einen Angriff auf den Föderalismus sah: "Ich möchte nicht auf einer Liste von Helsinki bis Lissabon gewählt werden, wo kein Bürger mich als sein Ansprechpartner sieht. Ich möchte als Abgeordneter zuhause in Ostwestfalen-Lippe gewählt werden, Legitimation entsteht durch Bürgernähe und nicht durch Ferne." Dies hätte freilich für das Gros der EU-Abgeordneten weiter gegolten. Dass selbst ein so ein erfahrener und engagierter Europäer in dieser Situation derart provinziell daherkam, war enttäuschend. Die damalige CDU-Vorsitzende Angela Merkel wollte die Tür zu Macron hingegen nicht ganz zuschlagen, betonte aber, dass die Aufstellung von europäischen Spitzenkandidaten auf Dauer nur funktionieren werde, "wenn der Spitzenkandidat auf einer transnationalen Liste steht, also wirklich in allen Ländern gewählt werden kann". Ansonsten aber hat auch sie sich nicht wirklich als zupackende Europapolitikerin erwiesen und Macron im Regen stehen lassen.
Gleichwohl stehen dem Parlament 2019 gravierende Veränderungen bevor: erstens durch die Erosion des faktischen Duopols der rechten und linken Mitte, zweitens durch den Bedeutungszuwachs locker gefügter Bewegungsparteien und drittens durch die wahrscheinliche Konzentration der äußersten Rechten. Damit deuten sich tektonische Verschiebungen der politischen Landschaft Europas an.
Das Europäische Parlament war wie die meisten nationalen Parteiensysteme lange Zeit von Volks- beziehungsweise Großparteien der rechten und linken Mitte dominiert. Das Tandem der durchgängig stärkeren EVP aus dem christdemokratischen und konservativen Spektrum und der Fraktion der Sozialdemokraten (S&D, von der englischen Bezeichnung Progressive Alliance of Socialists & Democrats) stellte stets mindestens zwei Drittel der Abgeordneten. Beide brachten so in einer Art "informellen Großen Koalition" ihre programmatischen und personellen Ambitionen arbeitsteilig voran.
In den vergangenen Jahren sind jedoch alle politischen Lager sprichwörtlich "in Bewegung" geraten. Mit ganz unterschiedlichen Ambitionen und Methoden stehen dafür Sammlungsbewegungen wie der "Europäische Frühling" des griechischen Sozialisten Yanis Varoufakis, der Europa-Ausleger der französischen Präsidialbewegung "La République en Marche!" unter dem Namen "Europe en Marche" oder auch die rechtspopulistische Stiftung "The Movement", des US-amerikanischen Publizisten und ehemaligen Präsidentenberaters Steve Bannon. Bewegung statt Partei – dieser Trend zur Umgehung etablierter intermediärer Instanzen ist lagerübergreifend zu beobachten und Ausdruck einer populistischen Generalmobilmachung. Ein grundstürzender Umbau der politischen Systeme ist das zwar noch nicht, aber der Zuspruch jüngerer Bürgerinnen und Bürger weist darauf hin, dass es für eine erneute europäische De-facto-"GroKo" eng werden dürfte.
Prognosen zur Europawahl sind erfahrungsgemäß besonders unsicher, aber ein ungefähres Bild lässt sich zeichnen: Die linke Mitte wird nicht nur den Wegfall der 20 britischen Labour-Abgeordneten, sondern voraussichtlich auch einen Einbruch der sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien vor allem in Italien (derzeit 31 Abgeordnete), Frankreich (12), Schweden (6) und den Niederlanden (3) zu verkraften haben. Auch die SPD (27) muss mit Einbußen rechnen.
Eine ähnliche Schwächung dürfte der Fraktion der EVP bevorstehen, die europapolitisch bereits gespalten ist. Die Fidesz-Partei des ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orbán ist ein Mitglied auf Abruf, wenn sie die EVP nicht insgesamt nach rechts rückt. Dem kommt die manifeste Rechtsdrift der französischen Republikaner (20) und der italienischen Konservativen (15) entgegen, ebenso des Partido Popular (17) in Spanien. Unklar ist das Schicksal der polnischen Abgeordneten von der Platforma Obywatelska (PO, Bürger-Plattform, 18) und der Polskie Strinnictwo Ludowe (PSL, Bauernpartei, 4) sowie einzelner Abgeordneter aus anderen osteuropäischen Staaten, wo nationalpopulistische Bewegungen stärker sind als klassische Konservative und Liberale. Entscheidend wird sein, wohin sich die voraussichtlich gestärkte polnische Prawo i Sprawiedliwość (PiS, Recht und Gerechtigkeit, 14) orientieren wird, die derzeit noch mit den britischen Tories (Conservative Party, 18) eine Fraktion bildet.
War es bisher so, dass sich eine liberal-konservative Mitte mit einer Minderheit weiter rechts stehender Strömungen zurechtfinden musste, ist Orbáns Vision jetzt, eine dezidiert "illiberale" Rechte mehrheitsfähig zu machen. Die bisherigen Zwerge möchten Riesen sein. Der für moderne Parlamente seit Beginn des 19. Jahrhunderts konstitutive Rechts-Links-Gegensatz wäre damit nicht gänzlich verschwunden, doch hat er sich in den vergangenen Jahren – vor allem an der Einwanderungsfrage – zu einem Gegensatz zwischen den Leitbildern der offenen und der geschlossenen Gesellschaft beziehungsweise in eine Antinomie zwischen liberaler und "illiberaler" Demokratie verschoben. Orbáns Wiederwahl im April 2018 zeigt an, dass ein "kompetitiver Autoritarismus", eine durch Wahlen gestützte Autokratie, in Teilen der EU inzwischen mehrheitsfähig ist.
Kleinere "Etablierte" haben von der Erosion der linken und rechten Mitte wenig profitieren können. Die "europakritische" Linke (GUE/NGL, derzeit angeführt von Gabi Zimmer) steht ebenfalls unter dem Druck von Bewegungsparteien – etwa von "La France insoumise" des französischen Abgeordneten Jean-Luc Mélenchon, der deutschen "Aufstehen"-Kampagne Sahra Wagenknechts oder dem erwähnten "Europäischem Frühling", dem sich der französische Sozialist Benoît Hamon, tschechische Piraten sowie die slowenische Levica-Partei angeschlossen haben.
Unterdessen haben die Liberalen mit der Macron-Bewegung ein Zentrumsbündnis geschmiedet, um gemeinsam mindestens vierte Kraft zu werden. Dazu zählen die Ciudadanos, die sowohl im spanischen als auch im katalonischen Parlament nennenswerte Stimmenanteile haben, die österreichische Partei NEOS (Das Neue Österreich und Liberales Forum) sowie einzelne Sozialdemokraten wie der ehemalige italienische Regierungschef Matteo Renzi. Eine kräftige transnationale Bewegung im Zentrum wäre im Prinzip auch für Grüne attraktiv, die aber nationale Kandidaturen auf diversen Listen aufbieten und europaweit vom aktuellen Höhenflug der deutschen Grünen profitieren wollen, in den meisten Ländern aber sehr viel schlechter dastehen als in Deutschland.
Gegenwind von Rechtsaußen
Die Linke ist uneinig, die alte wie neue Mitte ohne Durchschlagskraft – es ist nicht überraschend, dass die radikale Rechte nach Erfolgen auf nationaler Ebene nun auch auf europäischer Ebene Morgenluft wittert. Derzeit ist sie (noch) in drei Fraktionen gespalten: Europäische Konservative und Reformer (EKR), Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD) und Europa der Nationen und der Freiheit (ENF).
Mit 74 Abgeordneten ist die EKR die größte dieser drei Fraktionen. In ihr sind außer den britischen Konservativen Abgeordnete der polnischen PiS, rechtsgerichtete Abgeordnete aus Flandern und Osteuropa sowie die erstarkten skandinavischen Rechtspopulisten vertreten. Deren anhaltender Erfolg ist damit zu erklären, dass sie sich von Steuerrebellen und Kritikern des Wohlfahrtsstaates zu islamfeindlichen Anti-Einwanderer-Parteien radikalisiert und ihre Basis vor allem unter bisherigen Nichtwählern verbreitert haben. Die Schwedendemokraten, die Dänische Volkspartei und Die Finnen (vormals "Wahre Finnen") haben in nationalen Wahlen allesamt an Einfluss gewonnen und könnten im Europäischen Parlament einen "nordischen Pol" bilden (allerdings ohne formelles Bündnis, da ihre Unterschiede zu stark sind). Auf der anderen Seite könnte die PiS mit dem Ausscheiden der Tories einen "Visegrád-(Habsburg-)Pol" aus ungarischen, tschechischen, slowakischen und eventuell österreichischen Abgeordneten bilden. Die Schwerpunkte des europäischen Liberal-Konservatismus entfernen sich jedenfalls von der bisher tragenden deutsch-französischen Achse und den Gründungsländern der Römischen Verträge.
Die noch weiter rechts angesiedelten Fraktionen EFDD (42 Abgeordnete) und ENF (34) sind nicht weniger heterogen und instabil. Die EFDD wird bisher von der britischen United Kingdom Independence Party (UKIP, 13) und dem italienischen MoVimento 5 Stelle (M5S, 14) dominiert; zu ihr gehören auch Einzelabgeordnete wie Jörg Meuthen (AfD) oder der ehemalige stellvertretende Front-National-Vorsitzende Florian Philippot.
Die ENF wird angeführt vom Niederländer Marcel de Graaff, der der Partij voor de Vrijheid (PVV, 4) nahesteht, sowie von Nicolas Bay vom französischen Rassemblement National (RN, vormals Front National, 15). Weiter vertreten sind die auf erhebliche Zugewinne spekulierenden Abgeordneten der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ, 4), der italienischen Lega Nord (4), des belgischen Vlaams Belang (1) sowie einige Überläufer, darunter Marcus Pretzell aus Deutschland, der früher der AfD angehörte. Während Marine LePen sich bei der Europawahl im Revanche-Duell gegen Macron ausrechnet, mit dem RN stärkste Partei in Frankreich zu werden, stellt die Lega Nord mit ihrem Anführer Matteo Salvini den "starken Mann" in Italiens Regierung und den aggressivsten Verfechter der rechtsradikalen Blockbildung.
Die extreme Rechte darf nicht überbewertet, sollte aber auch nicht unterschätzt werden. Ihr Trumpf ist die überall virulent gewordene Migrations- und Sicherheitsthematik. Damit hat sie den scheinbaren Gegensatz von "Volk" und "Establishment" zur menschenfeindlichen Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem, Einheimischen und Einwanderern, Christen und Muslimen, Freund und Feind radikalisiert. Dieser völkisch-autoritäre, zum Teil an faschistische und "konservativ-revolutionäre" Ideologeme der Zwischenkriegszeit anschließende Nationalismus bildet bei allen bleibenden Rivalitäten, inneren Widersprüchen und Eitelkeiten der Nationalisten eine gesamteuropäische Bewegung, die sich zum Aufstand gegen die Erweiterung und Vertiefung der EU verbunden hat.
Das heißt aber auch: Ohne "Brüssel" wären die Nationalisten nur halb so stark. Diese Chiffre des Unmuts bündelt sämtliche Anlässe von Unzufriedenheit wie in einem Brennglas: die Kritik an der Volksferne von Politik und an bürokratischen Auswüchsen, die bereits alte, seit 2015 panisch gewordene Angst vor "unkontrollierter Masseneinwanderung", die Sorge vor Kriminalität und das Gefühl der Perspektivlosigkeit in "abgehängten" Regionen. Die extreme Rechte profitiert von einer generalisierten Misere und Missstimmung, ohne im Mindesten Abhilfe bieten zu können. Die EU, die bei objektiver Betrachtung durchweg für mehr Wohlstand und Freizügigkeit gesorgt hat, wurde bei denen, die sich vom einen ausgeschlossen und vom anderen überfordert fühlen, zum allseits probaten Sündenbock.
Die Rechte versammelt auch die "Globalisierungsverlierer", die eigentlich die radikale Linke mobilisieren wollte. Sie fordern – der US-Präsident Donald Trump mit seinem Dauerwahlkampf ist hier das Vorbild – die segmentäre Abschottung gegen die funktionale Arbeitsteilung der Weltwirtschaft und die globale populäre Kultur. Die schon seit den 1970er Jahren zunehmende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen und die Zunahme prekärer Arbeitsmarktlagen, die im 19. und 20. Jahrhundert in soziale Klassenkämpfe gemündet wären, werden (wie übrigens in der faschistischen Ära) mit Fremdenfeindlichkeit beantwortet.
Was tun? Reformagenda
Seit Jahren blickt das politische Establishment auf diese Entwicklung wie das Kaninchen auf die Schlange. Der völkisch-autoritären Radikalisierung, die das Kräfteparallelogramm auch im Europäischen Parlament nach rechts bewegen kann, wird eher mit Resignation und Anpassung begegnet als mit mutiger diskursiver Auseinandersetzung. Die Linke, die für eine Europäisierung des Wohlfahrtsstaates, die Regulierung von großen Unternehmen und Banken und eine progressive Steuerpolitik eingetreten ist, steht in Versuchung, in einen "nationalen Sozialismus" zurückzufallen (exemplarisch dafür ist Mélenchons "La France insoumise") und die Leitidee offener Grenzen ebenfalls durch die Stärkung nationalstaatlicher Souveränität abzulösen. Liberale und Konservative kommen der Neuen Rechten in der Frage der Einwanderung und der Islamophobie entgegen und stellen wieder die christlichen Wurzeln Europas heraus. Ein Beispiel hierfür ist die defensive bis defätistische Reaktion mancher Konservativer, als der sogenannte UN-Migrationspakt (Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration) kurz vor seiner Verabschiedung im Dezember 2018 skandalisiert und von mehreren EU-Staaten nicht unterzeichnet wurde.
Eine Vertiefung der EU hat namentlich Emmanuel Macon in Frankreich couragiert vertreten und damit 2017 noch einen beeindruckenden Wahlsieg gegen Marine LePen errungen. Als Präsident hat er ein ehrgeiziges Reformprojekt vorgelegt; gegen linke wie rechte Souveränisten und Identitäre verteidigte er die offene Gesellschaft im supranationalen Rahmen – die von ihm erhoffte europäische Kooperation ist bekanntlich von Berlin und der Mehrheit der EU-Länder abgeblockt worden. Mit der Rechtswende in Italien und in Schweden sind auch der EU-Kommission Partner abhandengekommen, zumal sich auch Berlin in die Phalanx der Migrationsprotektionisten eingereiht hat. Die Europäisierung von Macrons Sammlungsbewegung La Républiqe en Marche stagniert und ist durch die "Gelbwesten"-Bewegung unter Druck geraten.
Die Attacke von rechts sollte jedoch nicht zur Erstarrung und zu einer Fixierung auf den Status quo führen. Und erst recht sollte man aus Angst vor dem Tod nicht Selbstmord begehen, indem man alle Themen und Projekte vermeidet, die "die Rechte stärken könnten". Man möge sich bitte daran erinnern, welche Unwahrscheinlichkeit der supranationalen Utopie den Gründungsfiguren der EU um 1950 bescheinigt wurde. Will die EU der Regression widerstehen, gilt es, aktuelle Reformvorhaben eher noch entschlossener anzugehen und sie offensiver zu vermitteln als bisher. Vorgeschlagene beziehungsweise überfällige Vertiefungsziele sind (sozusagen von links nach rechts):
eine Sozialunion, die der wachsenden Ungleichheit von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen im Inneren der EU und ihrer Mitgliedsländer, dem Gefälle zwischen den Regionen und zugleich der Externalisierung europäischer Wohlstandskosten in die Länder des "globalen Südens" entgegentritt;
eine Fiskalunion, die Steuerflucht und -vermeidung sowie problematische Finanzmarktaktivitäten sanktioniert und zum Beispiel mit einer Transaktionssteuer Quellen zur Finanzierung von nachhaltigen Infrastrukturen und sozialpolitischen Korrekturen erschließt;
eine Umweltunion, die auf immer deutlicher werdende Bedrohungen wie den gefährlichen Klimawandel und das Artensterben mit einer veritablen Energie- und Verkehrswende reagiert;
eine Digitalunion, die der Dominanz des Silicon Valley (und Chinas) mit EU-Regulierungen im Daten- und Verbraucherschutz begegnet und die Digitalisierung nicht als technische Naturgewalt hinnimmt, sondern menschen- und sozialverträglich gestaltet;
eine Sicherheitsunion, die Terror- und Cyberattacken wirksam abwehren kann und auf die Erosion der NATO friedenspolitisch reagiert.
Die politischen Alternativen liegen also auf dem Tisch, und die anstehenden Europawahlen bieten den besten Anlass für eine breite Debatte darüber, welche Entwicklung beziehungsweise welches Europa die Bürger bevorzugen: den Rückbau in Nationalstaaten und das "Europa der Vaterländer", ein Durchwursteln mit den bewährten Kräften der linken und rechten Mitte oder doch einen "gemeinsamen Sprung" in die europäische Republik.
Zu befürchten steht, dass diese Debatte in innenpolitischen Winkelzügen untergeht und vor allem über Social-Media-Kanäle massiv manipuliert wird. Genau deswegen ist es wichtig, dass sich eine vernehmbare proeuropäische Öffentlichkeit bildet. Zudem bedarf es einer politischen Bildung, die den Horizont nationaler Kirchtürme übersteigt. Das überkommene Narrativ der europäischen Einigung auf den Trümmern des Zweiten Weltkrieges erreicht Jüngere nicht mehr, sie benötigen ein "Europa, das uns schützt" (Macron), aber mehr noch eines, dass ihnen sinnvolle Arbeit gibt, sie im Einklang mit der Natur leben lässt und ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Gleichzeitig sind diese Jüngeren – und sind wir alle – gefordert, in der EU nicht nur eine selbstverständliche Dienstleistungsmaschine zu sehen und sie als solche zu nutzen, sondern sich beziehungsweise uns aktiv für ihren Bestand und Ausbau einzusetzen. Es darf nicht passieren, dass sich weiterhin zwei Drittel der Europäer nicht an Parlamentswahlen beteiligen, bei denen so viel auf dem Spiel steht. Aber auch außerparlamentarisch müssen sich die proeuropäischen Kräfte rühren. Ohne Druck von unten kann die europäische Demokratie keine Fortschritte machen.
Sich bewegen: Europa der Bürger
Dass sich konstruktiver Druck von unten aufbauen und in Ansätzen in den parlamentarischen Raum übertragen lässt, zeigt sich bereits. "Europa" war lange kein Mobilisierungsthema und die EU eher ein Anlass für destruktive Protest- und Exit-Bewegungen. Tatsächlich bilden Gegner der EU in den meisten Ländern jedoch keine echte Mehrheit in der Bevölkerung, Befürworter und Indifferente sind nur häufig stumm geblieben. Dies beginnt sich allmählich zu ändern: Offenbar bewegt das rabiate Auftreten von Autokraten, die rasante transatlantische Entfremdung, das aggressive Auftreten Russlands in der Ukraine und im Cyberspace, das Chaos der Brexit-Verhandlungen und das Gespenst einer neuen Ost-West-Spaltung mehr Europäer zu einem Bekenntnis zu den in Artikel 2 des EU-Vertrags niedergelegten Grundwerten (Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte) sowie zum Engagement für den Zusammenhalt der Union.
Am sichtbarsten ist die überparteiliche Straßenmobilisierung bisher durch die Bewegung "Pulse of Europe" (PoE), eine in Frankfurt am Main gegründete Privatinitiative, die seit 2015 in vielen Städten und Gemeinden Tausende von Menschen unter EU-Fahnen und zum Klang der Europa-Hymne versammelt hat. Mitte 2018 startete PoE eine Kampagne zur Bildung von "Hausparlamenten": Bei diesen sind Bürgerinnen und Bürger aufgefordert, als Gastgeber drei bis sieben Personen aus ihrem privaten Umfeld zu einer zweistündigen Europa-Debatte einzuladen und konkrete europapolitische Forderungen an ausgewählte Entscheidungsträger zu formulieren. PoE stellt Gesprächsleitfaden und Abstimmungsunterlagen zur Verfügung und leitet die Forderungen gesammelt an ausgewählte Entscheidungsträger. In einem "Entscheidungspakt" verpflichten sich die angesprochenen Berufspolitiker, künftige Vorlagen und Entscheidungen im Licht der Ergebnisse den Hausparlamentariern zu begründen.
Kampagnen wie diese können dazu beitragen, die europäische Demokratie voranzubringen, doch macht eine außerparlamentarische Bewegung noch keinen europäischen Frühling. Es bedarf weiterer solcher Initiativen und zahlreicher Europäerinnen und Europäer, die sich aktiv und offensiv für die Demokratie in der EU einsetzen. Und da die konventionelle Beteiligung der repräsentativen Demokratie auf supranationaler Ebene schwach entwickelt ist, braucht es eine systematische Verstetigung deliberativer und konsultativer Bürgerbeteiligungsforen, die mit ausreichend Ressourcen ausgestattet sind und denen Legislative und Exekutive stärker verpflichtet sind – und die über das zaghafte Instrument der Europäischen Bürgerinitiative (EBI) deutlich hinausgehen. Mit anderen Worten: Konsultative Beteiligung sollte zur "vierten Gewalt" werden, von der lokalen bis zur supranationalen Ebene. Dies würde die Legitimation direkter wie indirekter Abstimmungen und die Qualität politischer Entscheidungen erhöhen – und damit den erstarkenden Gegnern der EU ein wichtiges Argument entziehen.
Die Wahlen zum Europäischen Parlament verdienen eine hohe Wahlbeteiligung und eine seriöse Debatte. Im Wahlkampf kann sich eine transnationale Öffentlichkeit Problemen und Chancen widmen, die die europäische Gesellschaft als Ganze tangieren und die allein nationalstaatlich nicht mehr gelöst und bearbeitet werden können. Alternative Programme der Vertiefung wie des Rückbaus liegen vor, die Fronten sind klar. Vor allem aber gilt es, die Risiken eines neuen Ethnonationalismus zu erkennen, der die alte Welt zweimal in die Katastrophe geführt hat und heute vor allem auf Kosten der Jüngeren gehen wird. Deshalb muss die EU vor allem den nach 1990 geborenen Generationen eine zeitgemäße Erzählung bieten und sie davon überzeugen, dass grenzüberschreitende Probleme mit einer weltoffenen Haltung und im supranationalen Rahmen besser zu lösen sind als mit dem Rückzug in die Wagenburg. Die Europawahl ist keine Nebenwahl. Sie ist Hauptsache.
ist Professor für Politikwissenschaft und Inhaber der Ludwig Börne-Professur am Zentrum für Medien und Interaktivität der Justus-Liebig-Universität Gießen. E-Mail Link: claus.leggewie@zmi.uni-giessen.de
Ihre Meinung ist uns wichtig!
Wir laden Sie zu einer kurzen Befragung zu unserem Internetauftritt ein. Bitte nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit, um uns bei der Verbesserung unserer Website zu helfen. Ihre Angaben sind anonym.