Einleitung
Wir müssen zugeben, dass unsere Gesellschaft kein einheitliches Welt- und Menschenbild mehr besitzt. Der Pluralismus der Weltanschauungen ist in der modernen Welt eine Tatsache. Deshalb erscheint auch ein gemeinsames Handeln auf Grund gemeinsamer Wertvorstellungen kaum mehr möglich. Gerade in dieser Situation dürfte der tiefere Grund für die permanenten religiösen, weltanschaulichen, sittlichen und rechtlichen Krisen des heutigen Menschen zu suchen sein. Dieser Pluralismus ist für uns umso bedrängender, als wir heute global in Konfrontation mit anderen Nationen, ja sogar mit völlig anderen Kulturen - alten und neuen - stehen, die den gleichen Wahrheitsanspruch stellen wie wir.
Als Orientierungspunkt innerhalb dieses breit gefächerten Pluralismus wird gerne und vermehrt die Menschenwürde herangezogen.
Begriffsgeschichte und Begründung der Menschenwürde
Um den Gehalt der Menschenwürdegarantie genauer herauszuarbeiten, muss ihre ideengeschichtliche Tradition ins Auge gefasst werden.
Als Grund für die zuletzt genannte Auffassung von der unverlierbaren Menschenwürde galt der Stoa die Teilhabe des Menschen an der Vernunft, den christlichen Autoren der Antike und des Mittelalters die Gottebenbildlichkeit des Menschen und seine unmittelbare Beziehung zu Gott, die durch die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus bestätigt wurde.
Eine neue Sicht der menschlichen Würde bringt die Renaissance. Der italienische Humanist Pico della Mirandola kommt auf Grund von Überlegungen über die Ähnlichkeit des Menschen mit Gott zu der auf stoische Lehren zurückgehenden Überzeugung, dass der Mensch alles in sich vereint, also einen Mikrokosmos darstellt, in dem alle Möglichkeiten angelegt sind. Zwischen diesen Möglichkeiten eine Wahl zu treffen, dies ist nach Pico die dem Menschen von Gott gegebene Bestimmung. Die den Menschen auszeichnende Würde ist also seine Freiheit.
Mit der beginnenden Neuzeit rückt erneut die Vernunftbestimmung in den Mittelpunkt. Während der Aufklärung wird die Auffassung der Würde als Freiheit mit der stoischen Auffassung der Würde als Teilhabe an der Vernunft verbunden. Der französische Philosoph Blaise Pascal und der Staats- und Völkerrechtstheoretiker Samuel Pufendorf sehen die Würde in der Freiheit des Menschen, das durch die Vernunft Erkannte zu wählen und zu tun. Pufendorf, dessen Lehre übrigens Einfluss auf die amerikanische Erklärung der Menschenrechte von 1776 hatte, verbindet diesen Gedanken der Würde mit dem der Gleichheit aller Menschen, da allen Menschen als solchen diese Eigenschaft zukomme.
Eine wichtige Stellung nimmt der Begriff der Menschenwürde sodann in der Moralphilosophie Kants ein, wie er sie in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (1785) entwickelt. Kant unterscheidet im Bereich menschlicher Zwecksetzungen zwischen dem, was einen Preis, und dem, was eine Würde hat. "Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde." Nur ein Wesen, das in der Lage ist, sich selbst Zwecke zu setzen, kommt als letzter Bezugspunkt, als Selbstzweck jeder Zwecksetzung, in Frage. Der Grund dafür, dass die menschliche Natur Würde hat, ist nach Kant die Autonomie des Menschen, das heißt seine Möglichkeit, in Freiheit einem Gesetz unterworfen zu sein, also sittlich sein zu können.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird der Begriff Menschenwürde dann zu einem politischen Schlagwort der Arbeiterbewegung. Die Forderungen nach einem menschenwürdigen Dasein und nach menschenwürdigen Zuständen gehören zu den Hauptparolen der frühen Sozialisten. Ferdinand Lassalle fordert, dass die materielle Lage der arbeitenden Klasse verbessert und den Arbeitern zu einem wahrhaft menschenwürdigen Dasein verholfen wird. Der Franzose Pierre Proudhon geht noch einen Schritt weiter und bindet die Würde der Person in den Begriff der Gerechtigkeit ein, indem er für die Verwirklichung der Gerechtigkeit von jedem Menschen fordert, die Würde des anderen ebenso zu respektieren wie die eigene.
Eine erneute Besinnung auf die Menschenwürde setzt danach erst wieder im 20. Jahrhundert ein, nicht zuletzt unter dem Eindruck der den Menschen entwürdigenden Vorgänge im "Dritten Reich". Nach dem Zweiten Weltkrieg findet der Menschenwürdebegriff vermehrt Eingang sowohl in das nationale wie auch in das internationale Recht. In der Bundesrepublik Deutschland bildet die Menschenwürde den Mittelpunkt des Wertsystems der Verfassung und die Basis sowie den Geltungsgrund der Grundrechte. Im Grundgesetz von 1949 heißt es in Artikel 1: "(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt." In der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 heißt es, dass "die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet"
Auch das "Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarates" vom 4. April 1997 nimmt sowohl den Begriff der Menschenwürde als auch den Schutz des Menschen als Gattungswesen in seine Präambel auf. Dort ist die Rede von der "Notwendigkeit der Achtung des Menschen sowohl als Individuum als auch als Mitglied der menschlichen Gattung" und von der "Anerkennung der Bedeutung der Wahrung der Menschenwürde". Darüber hinaus wird die Menschenwürde auch in Artikel 1 ausdrücklich verankert. Als jüngstes Dokument des internationalen Rechts hat die EU-Grundrechtecharta vom 7. Dezember 2000 den Begriff der menschlichen Würde sowohl in die Präambel als auch in Artikel 1 aufgenommen. "In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität", heißt es in der Präambel. Und Artikel 1 lautet: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen."
Die zuvor angeführten Menschenwürde-Dokumente stützen sich auf anthropologische Grundaussagen, die eindeutige Vorgaben zu ihrer Explikation enthalten: Die Menschenwürde kommt allen Menschen gleicherweise zu. Die Würde des Menschen ist mit seiner Existenz gegeben und Gegenstand nicht einer Zuerkenntnis, sondern Anerkenntnis. Die Würde ist der Existenz eines Menschen immanent, dem Leben eines Menschen "koextensiv", sie ist nicht teilbar, in keiner Phase seines Lebens ist der Mensch ohne sie. Die zeitliche Folge von Lebensphasen eines Subjekts (Embryo, Fetus, Kind, Erwachsener) darf nicht in eine Aufeinanderfolge verschiedener Subjekte umgedeutet werden.
Der Inhalt der Menschenwürde
Was macht nun den Schutz der Menschenwürde aus? Was ist ihr Inhalt? Wie realisiert sie sich, und wo wird sie konkret? Auf diese Fragen versucht der Verfassungsrechtler Günter Dürig mit der so genannten, an Kant erinnernden "Objektformel" zu antworten. In dem von ihm verfassten Grundgesetzkommentar heißt es: "Die Menschenwürde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird."
Dürig hat seine Objektformel immer nur als Leitfaden verstanden; diese bedarf jeweils näherer Konkretisierung und inhaltlicher Auslegung. Das bedeutet aber keine Relativierung im Hinblick auf ihre Geltung. Als nähere positive Bestimmung "jener Kernzonen und elementaren Bedingungen, die Art. 1 I gegen schwere Verletzungen schützen soll", nennt Wolfram Höfling: 1. Achtung und Schutz der körperlichen Integrität; 2. Sicherung menschengerechter Lebensgrundlagen; 3. Gewährleistung elementarer Rechtsgleichheit; 4. Wahrung der personalen Identität.
Die ethische Bedeutung des Menschenwürdegedankens liegt vor allem und insbesondere darin, dass die Menschenwürde als das Fundament der Menschenrechte herausgestellt wird. Die Menschenwürde führt zur Formulierung der Menschenrechte hin, bedarf aber umgekehrt auch der politisch-rechtlichen Absicherung durch eben diese Rechte; sie begründet die Schutz- und Freiheitsrechte des Menschen und schärft diese ein.
Der Streit um die Menschenwürde
Dies ist grob umrissen das bislang weithin herrschende Menschenwürdekonzept, mit dem zwar nicht überall Frieden gestiftet, aber zumindest Diskurskriege in Grenzen gehalten wurden. Seit September vergangenen Jahres wird, jedenfalls für die Öffentlichkeit erkennbar, über dieses traditionelle Menschenwürdekonzept gestritten. Der Anlass war folgender: In der 42. Ergänzungslieferung (Februar 2003) zu dem maßgeblichen Grundgesetz-Kommentar, dem so genannten "Maunz-Dürig"
Schon die Überschrift seines Beitrags "Die Würde des Menschen war unantastbar" lässt aufmerken, und dementsprechend breit war das Echo auf den Artikel. Für Böckenförde markiert die Neukommentierung durch Herdegen einen Epochenbruch. Nach Dürig ist die Menschenwürdegarantie ein "sittlicher Wert", der als "vorpositives Fundament", als "naturrechtlicher Anker" dem positiven Verfassungsrecht vorangestellt ist.
Herdegen verzichtet auf diesen, dem positiven Verfassungsrecht vorgeordneten Anspruch und bezeichnet ihn als deklaratorische und nostalgische Größe (Nr. 17). Damit aber, so räsoniert Böckenförde, gehe der fundamentalen Norm des Grundgesetzes die "tragende Achse" verloren.
Will man die Umstände der Entstehung der Menschenwürdegarantie im Grundgesetz bei deren aktueller Interpretation überhaupt noch in Betracht ziehen, so zeigt sich Folgendes: Bei der Abstimmung über den Menschenwürde-Artikel, so ist aus den Protokollen zu ersehen, hat im Parlamentarischen Rat "eine gegenüber Religion und Metaphysik abstinente Haltung" zwar denkbar knapp, aber doch obsiegt. Die Menschenwürde ist im Grundgesetz nicht "von Gott" gegeben, aber auch nicht "gegen" ihn. Sie ist indes - und das ist ihre Pointe - auch nicht vom Staat gegeben. Sie ist vorgegeben, liegt dem Gemeinwesen voraus. Und dieses "voraus" ist mit der rechtlichen Anerkennung der Unantastbarkeit der Menschenwürde ausgesprochen.
Gestufter Schutz der Menschenwürde
Die Menschenwürde als solche zieht Herdegen nicht in Zweifel. Sie kommt "allen Menschen als Gattungswesen" zu und hängt auch "nicht an irgendwelchen geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Einzelnen oder sozialen Merkmalen". (Nr. 48) Dem kann man uneingeschränkt zustimmen. Dann aber kommt der Schlüsselsatz, an dem sich die Geister scheiden: "Trotz des kategorischen Würdeanspruchs aller Menschen sind Art und Maß des Würdeschutzes für Differenzierungen durchaus offen, die den konkreten Umständen Rechnung tragen." (Nr. 50) Herdegen plädiert daher für eine "prozesshafte Betrachtung des Würdeschutzes mit entwicklungsabhängiger Intensität eines bestehenden Achtungs- und Schutzanspruches" (Nr. 56). Dabei richtet sich nicht der Würdeanspruch als solcher (das "Ob") nach dem Stand der Entwicklung, sondern sein Inhalt (das "Wie") (Nr. 56). So verstärke sich der Würdeanspruch des Embryos in vitro nach Implantation (Einpflanzung) und Nidation (Einnistung) und weiter mit dem Heranwachsen im Mutterleib. Die unterschiedslose Qualität des Würdeanspruchs von Zygote einerseits und geborenem Menschen andererseits - meint Herdegen feststellen zu können - sei der Geistesgeschichte der letzten Jahrhunderte fremd. Auch lasse sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur auf der Grundlage eines entwicklungsabhängigen Würdeschutzes widerspruchsfrei darstellen. Und schließlich beziehe sich die Achtung der Menschenwürde meist auf das Subjekt zwischenmenschlicher Beziehungen. Diese seien aber in einem frühen Stadium menschlicher Entwicklung nur schwer erlebbar, so dass eine Würdeverletzung zu diesem Zeitpunkt nur mit Zurückhaltung angenommen werden könne (Nr. 65 - 67).
Biomedizin und Menschenwürde
Wie sich Herdegens gestuftes Menschenwürdekonzept konkret auswirkt, sei an einigen Themenfeldern aus der Biomedizin illustriert. Nach Herdegens Verständnis der Menschenwürde wird durch diese nur weniges uneingeschränkt garantiert, vieles dagegen ermöglicht. Aus der Menschenwürdegarantie folgt für ihn nicht nur die Verwirklichung eines Kinderwunsches, sondern auch die Freiheit, sich der Methoden der modernen Fortpflanzungsmedizin zu bedienen. Weder die homologe noch die heterologe Insemination, noch die In-vitro-Fertilisation stellen demnach eine Verletzung der Menschenwürde dar. Dagegen sah Dürig in der heterologen Insemination noch eine eindeutige Verletzung der Menschenwürde: "Der Samenspender, denen es gleichgültig ist, wem das Sperma zur Verfügung gestellt wird, und was aus den Kindern wird, kann überhaupt nur schaudernd gedacht werden. Der Ehemann wird zu einer 'vertretbaren Größe' degradiert. Von der Mutter wird vorausgesetzt, dass sie den Gatten als austauschbar hinnimmt (...). Das Kind wird systematisch in seinem Recht getroffen, seine blutsmäßige Abstammung zu erfahren." Der Staat habe hier nicht nur die Pflicht der Nichtlegalisierung, sondern eine echte Schutz- und Abwehrpflicht. Selbst die Leihmutterschaft lässt nach Herdegen die Menschenwürde unberührt. "Weder der Embryo noch die genetische Mutter oder die Tragemutter werden dadurch in ihrer Würde tangiert." (Nr. 97) Die gemeinsame Arbeitsgruppe des Bundesministers für Forschung und Technologie und des Bundesministers der Justiz, die so genannte Benda-Kommission, hatte dies noch anders gesehen: "Eine Vereinbarung über eine Ersatzmutterschaft missachtet die Menschenwürde des Kindes, denn sie lässt außer acht, dass die Entwicklung im Mutterleib ein wichtiger Teil der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes ist und dass der biologischen wie psychischen Beziehung zwischen der Schwangeren und dem Kind für diese Entwicklung besondere Bedeutung zukommt. Diese besonders geartete Beziehung, die durch die natürliche Verbindung des ungeborenen Lebens mit dem der Mutter begründet wird, würde beeinträchtigt, wenn die Schwangerschaft als eine Art Dienstleistung übernommen würde. Die für die Entwicklung des Kindes wesentliche enge persönliche Beziehung zwischen der Schwangeren und dem Kind könnte unter diesen Umständen kaum zustande kommen. Deshalb bestehen generell Bedenken gegen eine Ersatzmutterschaft, auch gegen eine 'altruistisch' übernommene."
Totipotenten Zellen, also solchen Zellen, die die Fähigkeit haben, sich zu einem ganzen Individuum zu entwickeln, kommt nach Herdegen keine Menschenwürde zu - obwohl der Gesetzgeber im Embryonenschutzgesetz solche Zellen als Embryonen ansieht. Folglich stellt auch die Abspaltung von Zellen eines Embryos im Achtzellstadium, etwa zu Diagnosezwecken, für Herdegen kein rechtliches Problem dar (Nr. 64). Die Menschenwürde, so Herdegen, sei auch für die Präimplantationsdiagnostik (PID) wenig ergiebig und bleibe im Normalfall unberührt. Die Untersuchung der genetischen Disposition zu bestimmten Krankheiten liege außerhalb des Schutzbereiches von Art. 1 Abs. 1 GG. "Begründen lässt sich eine Gefährdung der Menschenwürde allenfalls mit dem 'Selektionsdruck', der von einer PID mit 'positiv'-eugenischer Zielsetzung (im Dienste der 'Züchtung' gewünschter Anlagen) ausgeht." (Nr. 106)
Die Menschenwürde wird nach Herdegen auch nicht durch die Keimbahntherapie berührt. Jenen, die dies anders sehen, hält er entgegen, sie verträten eine "erstaunlich langlebige Vorstellung über eine unveränderliche, natürliche Ordnung und die Frevelhaftigkeit korrigierender Eingriffe selbst zu Heilungszwecken". "Dass die Menschenwürde einen Bestandsschutz von Erbkrankheiten tragen soll", sei nicht nachvollziehbar. (Nr. 101) Ein Therapieverbot auf Grund der noch mit der Keimbahntherapie verbundenen Gesundheitsrisiken für die Nachkommenschaft läge auf einer anderen Ebene. Unter Hinweis auf diese Risiken - aber nicht nur auf sie - hat jedoch die Benda-Kommission aus verfassungsrechtlichen Überlegungen ein Verbot der Keimbahntherapie gefordert: "Es ist davon auszugehen, dass ein gezielter Gentransfer in menschliche Keimbahnzellen derzeit nicht möglich ist. Da aber ein ungezielter Gentransfer mit unvorhersehbaren Risiken für die Betroffenen und deren Nachkommen verbunden ist, lässt sich diese Methode mit der Grundentscheidung des Art. 1 Abs. 1 GG für den Schutz der Menschenwürde und auch mit dem objektiv-rechtlichen Gehalt des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbaren, weil das menschliche Leben hier zum Objekt für Experimente würde. Darüber hinaus würde die Durchführung des Gentransfers bei einer größeren Anzahl Embryonen mit dem Ziel, später nur die wenigen erfolgreich transformierten Embryonen austragen zu lassen, mit dem auch den Embryonen zu gewährenden Lebensschutz nicht in Einklang stehen."
Im europäischen Bereich gibt es schon länger Befürchtungen im Hinblick auf mögliche manipulative Veränderungen der menschlichen Identität. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat bereits im Jahr 1982 in einer Entschließung die Anerkennung eines Menschenrechts auf "nicht künstlich veränderte" Erbanlagen gefordert. Maßnahmen der "genetischen Veredelung", also positive Eugenik bzw. Menschenzüchtung, sind für Herdegen ebenfalls keine Verletzung der Menschenwürde. "In der Schrankenziehung liegt eine verfassungsrechtlich schwach determinierte Gestaltungsaufgabe des Gesetzgebers." (Nr. 102)
Herdegens These eines entwicklungsbedingten Würdeschutzes zeigt sich besonders prägnant, wo es um den Umgang mit so genannten überzähligen Embryonen geht: "In der Verwendung 'überzähliger' Embryonen, die bei einer In-vitro-Fertilisation nicht zur Implantation kommen und übrig bleiben, für Zwecke der Stammzellforschung mag man eine fremdnützige 'Instrumentalisierung' sehen. Jedoch sind diese Embryonen mangels Implantation zum Absterben verurteilt und verfügen deshalb über keine Entwicklungsperspektive mehr. Deshalb erscheint die Gewinnung embryonaler Stammzellen aus diesen Embryonen für eine therapieorientierte Forschung oder unmittelbar zu Heilungszwecken - auch im Hinblick auf die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG - nicht als erniedrigende oder sonst würdeverletzende Behandlung. Ein striktes Verbot dieser Verwendung muss sich eine andere Rechtfertigung suchen als den Würdeschutz." (Nr. 107) Anders sieht dies sein Bonner Kollege Christian Hillgruber: "Auch die verwaisten Embryonen haben als 'morituri' noch einen letzten Anspruch, der unter allen Umständen zu erfüllen ist: den auf einen menschenwürdigen, das heißt 'nutzlosen' Tod." Der ebenfalls aus Bonn stammende Staatsrechtler Josef Isensee sieht es ähnlich: Die alleinige ihrer Würde entsprechende Behandlung dieser Embryonen sei, sie sterben zu lassen.
Auch beim therapeutischen Klonen, bei dem die Gewinnung von Stammzellmaterial im Vordergrund steht, stelle die Menschenwürde keinen Verbotsgrund dar. Der Würdeschutz erstrecke sich nicht auf den so erzeugten Embryo in vitro. Zudem liege keine Würdeverletzung des Spenders der duplizierten Chromosomen vor, da ja ein Heranreifen zum Menschen nicht beabsichtigt sei (Nr. 99).
Ebenso stelle die Bildung von Chimären (Zellverbände mit mehr als zwei Eltern) und Hybriden (Lebewesen, die aus der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle verschiedener Spezies hervorgehen) eine Menschenwürdeverletzung dar. Verletzt werde die Menschenwürde des Spenders der verwendeten Keimzelle. (Nr. 100)
Die Menschenwürde entfaltet ihre Relevanz auch am Lebensende. Man kann hier Herdegen weitgehend zustimmen, wenn er feststellt: "Zur Menschenwürde gehört das Recht, bei schweren Leiden und körperlichem oder geistigem Verfall (unter dem Vorbehalt hinreichender Urteilsfähigkeit) über ein Sterben in Würde zu entscheiden, insbesondere das Recht, den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen zu verlangen. Ein Anspruch auf aktive Sterbehilfe überspannt den Würdeanspruch." Darüber hinaus meint Herdegen, dass sich aus der Menschenwürde auch ein Recht auf Selbsttötung ableiten lasse. (Nr. 85) Früheren Kommentatoren galt der Selbstmord als verwerflich, weil er der Substanz der Menschenwürde widerspreche.
Menschenwürde - keine Leerformel
Die Geschichte der Menschenwürde, dies haben die einleitenden Überlegungen gezeigt, ist zugleich die Geschichte ihrer Begründung und Auslegung. Trotz einer prinzipiellen und völkerübergreifenden Zustimmung zur Menschenwürde begegnet man zuweilen auch dem Einwand, der Begriff sei unklar. Im modernen, weltanschaulich neutralen, säkularen Staat bilde er eine Leerformel, es handele sich um eine "metaphysische Ballastvorstellung" oder - so schon Theodor Heuß - um eine "nicht interpretierte These". Eine heutige inflationäre Berufung auf die Menschenwürde entwerte diese nochmals zusätzlich.
Es sind dann vor allem auch die skizzierten Schwierigkeiten der inhaltlichen Bestimmung von Menschenwürde, die es geraten erscheinen lassen, sie als Berufungsinstanz bei der Lösung ethischer und rechtlicher Kontroversen nicht zu überschätzen. Schon 1840 hatte Schopenhauer die sorgfältige Verwendung des Begriffes angemahnt und bemängelt, dass dieser Ausdruck zum "Schibboleth aller rath- und gedankenlosen Moralisten [geworden sei], die ihren Mangel an einer wirklichen, oder wenigstens doch irgend etwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenem imponierenden Ausdruck 'Würde des Menschen' verstecken"
Der aktuelle Streit um die Menschenwürde kann auch befruchtend wirken. "Der Streit um die Interpretation selbst ist es, der die Streitenden bindet. Die Bindungswirkung, welche die Idee der Menschenwürde entfaltet, zeigt sich darin, dass die Streitenden sich auf diese Idee, und keine andere, beziehen. Das ist nicht nichts."
Allerdings sind an das Konzept eines gestuften Würdeschutzes doch einige Fragen zu stellen. Wird mit diesem Konzept nicht der Keim der Relativierung in die Menschenwürde hineingetragen? Und wird, indem bei Art und Maß des Menschenwürdeschutzes Differenzierungen angenommen werden, nicht gegen die fundamentale Gleichheit aller Menschen verstoßen? Handelt es sich - wenn man dem menschlichen Embryo eine gestufte, was nichts anderes heißt als eingeschränkte, Schutzwürdigkeit zugesteht und ihn damit anders behandelt als geborene Menschen - nicht sogar um eine entwicklungsbedingte Diskriminierung?
Der Begriff der Menschenwürde ist ein dynamischer Begriff. Es kann und sollte immer mehr und besser erkannt werden, was dem Menschen auf Grund seiner unverlierbaren Grundwürde an weiterer Würde zusteht. Es ist ein Prozess, der zwar Etappen kennt, aber grundsätzlich nicht abgeschlossen werden kann, ebenso wenig wie die Entwicklung des Menschen selbst als eines gesellschaftlich-kulturellen Wesens.