Einleitung
Belgien scheint im Ersten Weltkrieg eine Sonderrolle gespielt zu haben. Das kleine Land, das trotz seiner Neutralität in den Krieg hineingezogen worden war, kannte nach dem deutschen Überfall nur noch die Front und besetzte Gebiete. Als noch junger Staat, in dem die Kirche eine dominierende Position gewahrt hatte, war seine nationale Identität noch kaum ausgeprägt. Belgien hat daher eine andere Erinnerung an den Krieg als die anderen Kriegsteilnehmer.
Zwischen 1914 und 1918 haben die Belgier, grob gesprochen, drei Erfahrungen gemacht: an der Front (die Dörfer jenseits der Yser im Nordwesten bildeten kein wirkliches Hinterland), unter der Besatzung (was die Massaker an Zivilisten einschließt) und im Exil (davon war immerhin etwa eine halbe der rund sieben Millionen Belgier betroffen). Noch vor Kriegsende wurde das "heroische" Belgien in Gestalt des Frontkämpfers und das Martyrium des Landes in Gestalt der Zivilisten in den besetzten Gebieten glorifiziert. Einzig die Exilbelgier, nach Meinung der Mehrheit mit Drückebergern gleichzusetzen, blieben von der kollektiven Erinnerung ausgeschlossen.
Im Verlauf des Krieges veränderte sich das Selbstbild Belgiens radikal. Von nun an machten von anderen verhöhnte Unschuld, Treue gegenüber dem Recht, Mut und Ehre, Heldentum und Martyrium die belgische Identität aus; Symbol dafür war der König und Erste Soldat seines Landes. Bemerkenswert ist die Bedeutung des Martyriums für die belgische Identität. Tatsächlich wurde das Gedenken in Belgien nicht völlig von der Figur des Soldaten eingenommen. Daneben stand das Bild des Erschossenen und des Deportierten. Diese Dreiheit ("Combattant-Fusillé-Déporté") findet sich auf zahllosen Monumenten und spiegelte sich auch in den politischen Diskussionen der Zwischenkriegszeit wider: Ruhm und Martyrium lassen sich in Belgien nicht voneinander trennen. Es waren nicht zuletzt solche Idealisierungen, die dazu führten, dass sich der Unmut der Bevölkerung im November und Dezember 1918 gegen die Landesverräter richtete und deren strenge Bestrafung forderte.
Den idealisierten Darstellungen von Belgien während des Krieges steht die erlebte Wirklichkeit gegenüber: die unerhörte Gewalt, die Misshandlungen, der Schrecken der Schützengräben, die Massaker an Zivilisten im August 1914 und die beinahe vollständige Zerstörung der meisten Städte, die Deportation von Zivilisten im Oktober und November 1916, das tägliche Elend und die systematischen Plünderungen in einem besetzten Land.
Der Kriegseintritt
Bis zu dem Zeitpunkt, als in Europa, ausgelöst durch die Vorgänge auf dem Pulverfass Balkan, der große Krieg begann, war Belgien neutral. Die Neutralität war geradezu die Existenzbedingung für den belgischen Staat von 1830 an gewesen, und sie war von den meisten Belgiern immer als Garantie für die Unabhängigkeit ihres Landes und für das europäische Gleichgewicht betrachtet worden. War Belgien nicht dem deutsch-französischen Krieg von 1870 entronnen? Doch am 2. August 1914 stellte Deutschland, gemäß dem Schlieffen-Moltke-Plan, ein Ultimatum an Belgien und verleugnete damit seine Verpflichtungen als eine der fünf Garantiemächte.
In Belgien, wo die Katholikenpartei seit 30 Jahren an der Macht war, betrachtete man dieses Ultimatum nicht nur als Angriff auf die Neutralität, sondern auch auf die Unabhängigkeit und die Existenz des Landes. Die belgische Öffentlichkeit reagierte mit Betroffenheit, Entrüstung und schließlich mit Wut.
Am 4. August 1914 um acht Uhr morgens marschierten deutsche Truppen in Belgien ein. Die Nachricht hatte sich noch nicht verbreitet, als sich der König um zehn Uhr zu einer außerordentlichen Parlamentssitzung begab. Die Begeisterung der Menge, die seinen Weg säumte, war unbeschreiblich. Niemals zuvor hat ein belgischer König eine solche patriotische Leidenschaft erfahren, eine solche Zustimmung des Volkes.
Unmittelbar nach Bekanntwerden des deutschen Einmarsches bot Regierungschef Charles de Broqueville dem sozialistischen Parteiführer Emile Vandervelde sowie den Liberalen Eugène Goblet d'Alviella und Paul Hymans Ministerposten an. Diese willigten sofort ein. Damit war die inoffizielle "Union sacrée" gebildet (offiziell wurde das Allparteienbündnis nach der Kabinettsumbildung 1916). Die ideologischen Kämpfe, die noch am Vorabend der deutschen Invasion so heftig gewesen waren, wurden für die Dauer des Krieges eingestellt. Ganz Belgien stand zusammen gegen den Feind. Der König stand im Mittelpunkt eines kollektiven Gefühls allgemeiner Bestürzung und Empörung. Aber der deutsche Angriff hatte auch eine Welle der Kriegsbegeisterung hervorgerufen; sie glich der Erleichterung nach einer allzu lange anhaltenden Ungewissheit.
Zum Zeitpunkt des deutschen Angriffs wurde die belgische Armee vollständig umstrukturiert. Als am 31. Juli 1914 die allgemeine Mobilmachung befohlen wurde, zählte sie rund 200.000 Mann aus 15 Jahrgängen, für die drei unterschiedliche Rekrutierungsgesetze galten. Die ältesten Jahrgänge waren ausgelost worden, sollten aber jederzeit ausgetauscht werden können. Für die in den Jahren 1910 bis 1912 rekrutierten Soldaten galt die Regelung "ein Sohn pro Familie". Für den Jahrgang 1913 sowie den noch unvollständig gemusterten Jahrgang 1914 galt ein Gesetz, das den allgemeinen Militärdienst zur Pflicht machte. Die soziale Zusammensetzung und das Durchschnittsalter der Armee gründeten auf diesen drei Rekrutierungsmodellen.
Doch der Armee, welche die Festungen halten sollte, fehlte es ebenso an Offizieren wie der Armee, die den Angreifer in offener Schlacht besiegen sollte. Diese Situation wurde noch dadurch verschärft, dass flämische, wallonische und Brüsseler Milizsoldaten in ein- und derselben Einheit dienten, Unterweisung, Verwaltung und Befehle aber in französischer Sprache erfolgten. Das Fehlen jeglicher militärischer Doktrin vor 1914 hatte beim belgischen Oberkommando in den letzten Friedensmonaten zudem zu einer verdeckten Krise hinsichtlich der Stationierung der Armee geführt.
Der Bewegungskrieg
Am 4. August näherte sich die II. deutsche Armee unter dem Kommando Karl von Bülows rasch dem strategischen Knotenpunkt Lüttich. Die Stadt wurde von zwölf Forts geschützt, darunter das von Loncin. Die Verteidigung von Lüttich galt lange als ruhmreiches Kapitel der belgischen Geschichte, bewiesen die Belgier dort doch unter dem Befehl von General Gerard Leman ihren Willen zum Widerstand. Am 15. August setzten die Deutschen jedoch die "Dicke Bertha" ein, ein 42-cm-Mörsergeschütz, um in das Fort von Loncin vorzudringen, das daraufhin über seinen Verteidigern zusammenbrach; Leman geriet schwer verletzt in Gefangenschaft. Auch wenn man heute weiß, dass die Schlacht von Lüttich die deutschen Pläne kaum verzögerte, hatte sie doch eine immense psychologische Bedeutung - sowohl für die Belgier als auch für ihre Gegner.
Während dieser ersten Kriegswochen führte das deutsche Oberkommando ein Terrorregime gegen die Zivilbevölkerung. Mehrere tausend Menschen wurden in Andenne, Dinant, Tamines, Löwen, Aarschot, Rossignol und anderen Städten niedergemetzelt.
Vom 10. bis zum 16. Oktober 1914 traf der König mehrfach mit dem belgischen Oberkommando und dem französischen General Pau, dem Gesandten von Marschall Joseph Joffre, zusammen. Nach heftigen Diskussionen fiel die Entscheidung, dass die belgischen Soldaten nicht an einer Offensive teilnehmen, sondern "bis zum Schluss" die Front an der Yser halten sollten, wie es im Befehl des Königs vom 15. Oktober hieß. Die Kämpfe waren von extremer Brutalität. Doch die am 29. Oktober einsetzenden Überschwemmungen machten jedes weitere Kämpfen unmöglich. Die Deutschen mussten sich vor dem ansteigenden Wasser auf die rechte Flussseite zurückziehen. Für die belgische Armee war die Schlacht an der Yser beendet: Der Stellungskrieg begann.
König Albert I., der während des gesamten Krieges an der Front blieb, weigerte sich bis zum Herbst 1918, an den alliierten Offensiven teilzunehmen; diese waren in seinen Augen nutzlos. Die Todesrate in der belgischen Armee war daher eine der niedrigsten: Einer von 50 belgischen Soldaten starb im Krieg, bei der französischen Armee war es dagegen jeder sechste. Die belgische Regierung hatte sich nach Le Havre geflüchtet. Sie wurde - anders als der König - von der im Land verbliebenen Bevölkerung verachtet, ebenso wie die rund 500.000 Exilbelgier.
Belgien an der Front
Für die Soldaten stellte der erste Winter in den Schützengräben eine der schwersten Phasen dar. Man war davon ausgegangen, dass der Krieg nur wenige Monate dauern würde. Daher waren keine Vorkehrungen gegen Kälte und Nässe getroffen worden, und die Lebensbedingungen waren miserabel. Durch eine allgemeine Impfung konnte eine Typhusepidemie verhindert werden. Die Deutschen, die mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, setzten ihre Angriffe vorübergehend aus. Die belgische Armee nutzte die Zeit für eine Umstrukturierung und zur Erholung.
So wurde im Juni 1915 die allzu sichtbare blaue Uniform durch eine khakifarbene ersetzt. Zudem wurden in zehn bis 15 Kilometern Entfernung von der Front vier Feldlazarette errichtet: Am bekanntesten war das Lazarett des Roten Kreuzes, das der Arzt Depage im Hotel "Océan" von La Panne eingerichtet hatte und das auch Königin Elisabeth besuchte, die "reine-infirmière"
Zwischen Februar und August 1915 verstärkten 34.000 neue Rekruten, die in der Normandie ausgebildet worden waren, die belgische Armee. Diese Männer stammten aus dem unbesetzten Teil des Landes und vor allem aus dem Ausland. Insgesamt waren während des Krieges mehr als 60.000 Mann zu den Fahnen gerufen worden, die 32.000 Kriegsfreiwilligen nicht eingerechnet. Im September 1918, als die Befreiungsoffensive begann, zählte die Armee rund 168.000 Mann.
Das besetzte Belgien
Abgesehen vom Gebiet um die Yser und von einigen Dörfern, die zusammen den "letzten Fetzen des Königreichs" bildeten, erlitt Belgien vier Jahre deutscher Besatzung. Die Zivilisten wurden dabei zum Symbol der verhöhnten Unschuld und des Martyriums, zum Beweis für die "teutonische Barbarei". Die Massaker an rund
5.000 Zivilisten im August 1914 sind von der alliierten Propaganda weidlich ausgenutzt worden. Die Deutschen rechtfertigten die Massentötungen mit dem Hinweis auf Freischärler ("franc-tireurs").
In Belgien wurden die deutschen Anschuldigungen zurückgewiesen. Im Januar 1915 erschien in Le Havre ein erster offizieller Bericht. Ihm folgten zahlreiche Berichte der belgischen Untersuchungskommission zu den Menschenrechtsverletzungen. Deutschland gab seinerseits eine Untersuchung in Auftrag und veröffentlichte deren Ergebnisse im "Weißbuch" vom 10. Mai 1915, das die These von den Freischärlern aufgriff. 1916 antwortete Belgien mit einem "Graubuch". Der Streit war nach dem Krieg nicht beendet: 1927 beauftragte der Reichstag den Völkerrechtler Christian Meurer, das Vorgehen der deutschen Soldaten beim Einmarsch in Belgien zu untersuchen. Seine Ergebnisse, die das Parlament in Weimar billigte, stützten vorbehaltlos die These des "Weißbuchs". Diese Thesen wurden von belgischer Seite erneut zurückgewiesen, insbesondere, was die Massaker in Dinant und Löwen betrifft.
Dazu kam seit Kriegsende das Anprangern der massiven alliierten Propaganda selbst. Zwar kam es an der Westfront offenbar nicht zu Grausamkeiten wie Händeabhacken und Kreuzigungen. Aber zu den Denunziationen traten Zweifel, die von britischer Seite vor allem an den Vorgängen in Belgien geäußert wurden. Arthur Ponsonby, ein englischer Liberaler, der zu Labour übergetreten war, bezeichnete die vermeintlichen deutschen Grausamkeiten 1928 als Fälschung, die auf die Kriegspropaganda zurückzuführen sei.
Noch bevor sich die Front stabilisierte, begannen die Deutschen mit der Organisation der Besatzung. Es ließen sich zwei Verwaltungszonen unterscheiden. Die erste, "zones d'étapes" genannt, wurde direkt vom Militär kontrolliert:
In der ersten Zeit versuchte die Besatzungsmacht, soweit wie möglich von der belgischen Verwaltung zu profitieren. Die Provinz- und die kommunalen Behörden blieben bestehen und waren täglich mit dem Angreifer bzw. der Besatzungsmacht konfrontiert - umso mehr, als das Besatzungsregime sehr hart war und von Kontrollen, Restriktionen, Verhaftungen und Deportationen geprägt wurde. Es war so schwierig, sich in dem besetzten Land zu bewegen, dass sich das Leben der Belgier auf lokaler Ebene abspielte.
Auf Wunsch der nach Le Havre geflüchteten belgischen Regierung, nach deren Willen die Justiz von Einheimischen geleitet werden sollte, hatte die Richterschaft bei Kriegsbeginn entschieden, auf ihren Posten zu bleiben. Ein Kompromiss zwischen der belgischen Generalstaatsanwaltschaft und der Besatzungsmacht sollte eine stabile Kohabitation garantieren. Die belgische Richterschaft behielt so eine gewisse Unabhängigkeit, gleichwohl waren ihre Prärogativen beschränkt: Sie konnte nur über Fragen urteilen, welche der deutschen Verwaltung in keiner Weise schadeten. Diesem Modus vivendi folgend funktionierte der belgische Justizapparat bis Anfang 1918, als die Richterschaft in den Streik trat.
Nach Auffassung von Generalgouverneur Ferdinand von Bissing war es wichtig, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die belgische Zukunft von nun an mit der Deutschlands verknüpft war. Gemäß dieser "annexionistischen" Sichtweise betrieb er eine Politik der Befriedung, im Gegensatz zum militärischen Kommando, das eine maximale Ausbeutung der besetzten Gebiete verfolgte.
Die Fortdauer des Krieges stellte viele der im Land verbliebenen Belgier vor eine Gewissensfrage: Sollte man in absoluter Passivität verharren oder seine Aktivitäten wieder aufnehmen? Die Bevölkerung begann Hunger und Kälte zu leiden. Die Lage wurde dramatisch, da die besetzten Gebiete unmittelbar von der wirtschaftlichen Blockade der Alliierten betroffen waren. Belgien hatte vor 1914 rund 80 Prozent seiner Lebensmittelvorräte importiert. Die punktuellen Beschlagnahmungen während des Stellungskrieges von August bis Oktober 1914 wurden von den Deutschen durch eine systematische Politik der Ausbeutung ersetzt; Deutschland wollte sich ein Maximum an Ressourcen verschaffen und damit seine Kriegsanstrengungen unterstützen.
Nachschubprobleme und die Angst vor einer Hungersnot dominierten den Kriegsalltag, trotz der Bemühungen der Commission for Relief in Belgium (CRB) des Amerikaners Herbert Hoover
Weil es an Rohstoffen fehlte, mussten die meisten Fabriken bald schließen. In dieser Lage florierten Schwarzmarkt und Schmuggel: Einige, soviel ist sicher, haben die Situation skrupellos ausgenutzt, um sich zu bereichern. Gleichwohl war die Wirklichkeit oftmals komplexer. So produzierten einige Fabriken wie die der Familie Coppée mit Einwilligung von Premierminister Broqueville weiterhin Kohle, um die Lage der Bevölkerung im Winter zu erleichtern. De facto akzeptierte man damit, dass die Deutschen einen Teil der Produktion und der Folgeprodukte wie Benzol beschlagnahmten. In der unmittelbaren Nachkriegszeit ging es bei einer Vielzahl von Gerichtsprozessen um solche Fälle; die Affäre Coppée war eines der aufsehenerregendsten Verfahren jener Zeit.
Die Bevölkerung, die mit den andauernden täglichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, versuchte ihrerseits, "patriotische Distanz" zur Besatzungsmacht zu wahren. Mit dieser Haltung, so die Überzeugung der Zivilisten, teilte sie das Schicksal der Soldaten an der Yser. Die Belgier förderten den patriotischen Kult durch unzählige Objekte, Anhänger oder Postkarten in den Nationalfarben. Der 21. Juli 1915 wurde zum "Tag der Nationalen Trauer" erklärt: Überall schlossen die Geschäfte.
Gewagter war das Bestreben einiger Patrioten, Spionagenetze oder Fluchthilfeorganisationen in den Dienst der Alliierten zu stellen.
Der Widerstand fand seinen Ausdruck auch in Untergrundzeitungen, darunter die berühmte "La Libre Belgique"
Daneben entschied sich eine Minderheit von "flamingnants"
Die flämischen Nationalisten, deren Galionsfigur Auguste Borms
Bereits am 31. Januar 1918 war ein gegen den Raad gerichtetes, denunzierendes Schreiben beim Berufungsgericht von Brüssel gegangen. Es war von einer Gruppe von Abgeordneten und Senatoren unterzeichnet, die im besetzten Land geblieben waren. Am 7. Februar entschied das Berufungsgericht, nach den Urhebern und Komplizen dieser Denunziation zu fahnden.
Nach diesem Rückschlag begannen die Nationalisten, von einem autoritären Regime zu träumen. Sie stellten eine eigene Polizei auf, organisierten sich in bewaffneten Gruppen und bereiteten eine gewaltsame Machtübernahme vor. Aber in den letzten Kriegsmonaten konnten sie nicht mehr auf die Besatzungsmacht zählen, erhielten keinerlei Garantien, was ihre Zukunft betraf, und der Raad stand bereits im Abseits. Nach dem Waffenstillstand flohen viele Nationalisten nach Deutschland, während die Bevölkerung ihre Häuser verwüstete: Die Repression konnte beginnen. Während des Krieges war in dem besetzten Land eine Atmosphäre gegenseitiger Verdächtigungen entstanden. Die soziale Kluft wuchs. Hinter der schönen Fassade des Patriotismus, der Einheit aller Belgier und der heroischen Solidarität eines Märtyrervolkes im Angesicht des Besatzers herrschten Überdruss und Erbitterung.
Der Sieg von 1918 und der Ausgang des Krieges
An der von Marschall Ferdinand Foch angeführten Offensive der Alliierten beteiligten sich erstmals alle belgischen Truppen. Bisher hatte sich König Albert I. stets geweigert, das Land zu verlassen und an den alliierten Offensiven teilzunehmen. Diese unerschütterliche Haltung ersparte den belgischen Soldaten den massenhaften Tod an der Somme und vor Verdun. Der König misstraute den Alliierten, und diese vergalten es ihm: Insbesondere der britische Ministerpräsident David Lloyd George verhehlte seine Verachtung für die Belgier nicht, die in den Kämpfen "lediglich" 40.000 bis 50.000 Soldaten verloren hatten.
Auch seinen Ministern in Le Havre misstraute der König und konsultierte sie fast nie. Im September 1918 willigte er ohne Rücksprache mit dem Parlament ein, die flämische Armee anzuführen, mit dem französischen General Jean Degoutte als Chef des Generalstabes.
Der König, seine Armee und die alliierten Truppen zogen unter Beifallsstürmen der Menge in die Städte ein. Man sprach von "joyeuses rentrées" des Königs in die Hauptstädte der befreiten Provinzen. Höhepunkt war der Einzug in Brüssel am 22. November 1918; er folgte einer jahrhundertealten Tradition, die von der belgischen konstitutionellen Monarchie 1831 wiederaufgenommen worden war und noch immer praktiziert wird. Der junge König Albert war seit seinem Machtantritt im Dezember 1909 in die verschiedenen Provinzhauptstädte eingezogen. Schon vor dem Krieg war der Besuch des Königs ein besonderes Ereignis gewesen.
Vor seiner Ankunft in Brüssel machte der König im Schloss von Lophem unweit von Brügge halt. Er empfing eine Delegation des Nationalen Hilfs- und Ernährungskomitees, um sich über die Lage zu informieren, sowie Repräsentanten der katholischen, liberalen und sozialistischen Partei. Er erfuhr, dass sich deutsche Soldaten gegen ihre Führung aufgelehnt hatten und die rote Fahne über dem Reichstag in Berlin wehte. Doch in Belgien drohte keine Revolution. Im ganzen Land traten die Deutschen den Rückzug an und plünderten dabei alles, was es noch zu plündern gab.
Bei den Diskussionen in Lophem ließ sich der König von der Notwendigkeit überzeugen, auf der Stelle das allgemeine Stimmrecht für Männer über 21 Jahren sowie für Kriegswitwen einzuführen - ohne das langwierige Verfahren, welches die Verfassung vorschrieb. Tatsächlich schien nur die sofortige Bewilligung des Stimmrechts helfen zu können, die Leiden des Krieges und des Wiederaufbaus zu ertragen. Der König verhandelte über die Bildung einer Dreiparteienregierung, welche die Reform zu ihrem Programm machte, und kündigte diese in seiner Kronrede am 22. November an. Das Gesetz wurde erlassen. Schon im November 1919 verringerte sich die Zahl der Mandate von Katholiken und Liberalen, und die Sozialisten erhielten mehr als ein Drittel der Sitze. Das Gesetz wurde gebrochen, um zur Legalität zurückzukehren, doch in Belgien konnten so bei Kriegsende - im Gegensatz zu den meisten Nachbarländern - soziale Unruhen verhindert werden.
Ein anderes Problem, das sich stellte, war die Frage einer flämischen Universität. Die Sprachenfrage hatte sich im Verlauf des Krieges verschärft, hatte militanten Nationalismus und die "Frontisten"-Bewegung hervorgerufen. Die Nationalisten wurden wegen Kollaboration mit dem Feind verurteilt. Dem König und anderen war jedoch bewusst, dass sie den berechtigten Forderungen der Flamen Rechnung tragen mussten: In seiner Thronrede versprach er die Einrichtung einer flämischen Universität in Gent. Aber das Klima im Land war nicht günstig. Im Parlament war die flämische Elite noch weitgehend frankophon, und in der öffentlichen Meinung wurde die flämische Universität in Gent mit der "Universität von Bissing" und mit der "Flandernpolitik" der Besatzer in Verbindung gebracht. Erst 1930 wurde das Versprechen des Königs eingelöst. In der Zwischenzeit hatte sich der Sprachenstreit vertieft: Die Wallonen verwechselten Patriotismus mit französischer Sprache, verwendeten Attribute wie "flamboche"
Auf diese Weise ging der Krieg zu Ende. Belgien hatte seine Neutralität aufgegeben. Die Exilbelgier kehrten heim. Die ruhmreich empfangenen Soldaten kehrten zu ihren Familien zurück, ebenso die Deportierten, und die Toten wurden betrauert. Die Bevölkerung, die tagtäglich gelitten hatte, forderte Rache. Das zerstörte Land war mit dem Problem des Wiederaufbaus konfrontiert (und mit dem der Reparationen). Zudem trug es Trauer und war von der Bürde der Erinnerung belastet.
Im Vertrag von Versailles gewann Belgien einige Gebiete hinzu (das überwiegend deutschsprachige Eupen-Malmedy), vor allem aber zwei Milliarden Goldmark und einen ständigen Sitz in der Reparationskommission.