Müll und Abfall sind nicht für die Nachwelt bestimmt. Wer etwas in den Müll wirft, möchte es nicht wiedersehen. Was in der Kippe landet, soll zur Seite geschafft werden, weil es unbrauchbar oder unansehnlich ist, weil es riecht oder schmutzig ist. Die britische Anthropologin Mary Douglas hat bereits vor einem halben Jahrhundert demonstriert, dass Abfall und Schmutz nicht als Substanzen, sondern als Kategorien zu verstehen seien: "Schuhe", schrieb sie, "sind nicht an sich schmutzig, aber es ist schmutzig, sie auf den Esstisch zu stellen".
Was Abfall ist, ist relativ
Dass es mitunter subjektiv ist, was als Müll gilt und was nicht, verdeutlicht die Geschichte der Collyer Brothers: Es gibt kaum einen Namen in der US-amerikanischen Geschichte, der enger mit Müll verbunden ist als jener dieser zwei exzentrischen Einsiedler, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem herrschaftlichen Sandstein-Reihenhaus im New Yorker Stadtteil Harlem residierten und auf vier Stockwerken Unmengen an Gegenständen horteten. Aus Furcht vor ihrer afroamerikanisch geprägten Nachbarschaft hatten sie sich zunehmend von der Außenwelt abgeschottet. Im März 1947 fand man die beiden "Harlem Mystery Men", denen sagenhafter Reichtum nachgesagt wurde, tot in ihrem Haus. Um sich vor Einbrechern und Schnüfflern zu schützen, hatten sie mehrere Fallen gebaut, eine war ihnen selbst zum Verhängnis geworden: Langley Collyer war unter schweren Zeitungsbündeln erstickt, sein erblindeter und auf ihn angewiesener Bruder Homer daraufhin verhungert. Die Sensationspresse erging sich in endlosen Aufzählungen der wunderlichen Gegenstände, die der zuständige Sheriff, der zum Archäologen stilisiert wurde, aus dem Haus barg. Die Collyer Brothers hatten unter anderem mehrere Klaviere gesammelt, Violinen und Cellos, Spielzeugautos und Fahrräder, Schallplatten, Zeitungen und Bücher, Revolver und Öllampen, Pin-up-girl-Poster und eine hölzerne Krippe mit menschlichen Knochen und Schädeln. Nach der Räumung des Hauses landete alles auf einem Haufen an der Ecke zur 128. Straße. Die Entrümpelung nivellierte die Bedeutung der gesammelten Gegenstände: Zierrat und Memorabilien, Plunder und Nützliches waren mit einem Mal zu einem tonnenschweren Müllberg geworden, der nur darauf wartete, entsorgt zu werden. Die Collyers wurden als "Messies" stigmatisiert; das Collyer-Brothers-Syndrome bezeichnet seither eine ausgeprägte Sammelwut, das pathologische "Horten".
Vor dem 20. Jahrhundert, erklärt die US-Kulturhistorikerin Susan Strasser, gab es kaum Müll: "Frauen verkochten Essensreste zu Suppe oder verfütterten sie an Haustiere; Hühner zum Beispiel fraßen fast alles und revanchierten sich mit Eiern. Langlebige Güter wurden an Menschen aus anderen Schichten oder Generationen weitergegeben oder auf Dachböden und in Kellern für eine spätere Nutzung gelagert. Gegenstände, die Erwachsene nicht mehr benötigten, gingen als Spielsachen an Kinder."
Keine Quelle informiert besser über die "Mülllandschaften" Mitte des 19. Jahrhunderts als die Artmutsreportagen des britischen Journalisten und Sozialreformers Henry Mayhew (1812–1887).
Mehr als zwanzig verschiedene Typen von Müllsammlern sorgten in London für den Abtransport von Essensresten und Fäkalien, verfaulten Lebensmitteln und Altpapier, Schrott und Scherben, Tierkadavern und alten Kleidern. Wer im 19. Jahrhundert durch die Straßen von Englands Hauptstadt zog, watete durch Dreck und roch den Mief. Die Zeitgenossen konnten die verschiedenen Müllmänner schon von Weitem unterscheiden: Die Knochensammler (bone-grubbers) und Lumpensammler (rag gatherers) trugen Säcke und Stöcke mit sich herum, die pure-finders hatten schwarze Handschuhe an, mit denen sie ihre stinkenden Findlinge in mit Lumpen bedeckte Körbe warfen. Die dust men wiederum verwendeten zum Abtransport von Müll Karren. Was nicht in der Themse landete, wurde auf gigantischen dust heaps aufgetürmt – auf Müllbergen, die fürchterlich stanken und gelegentlich niedergebrannt wurden, und doch für die Armen voller Schätze waren, die den Lebensunterhalt einer ganzen Bevölkerungsschicht sicherten. Charles Dickens hat einen dieser Müllberge in der Nähe der Battle Bridge, in der "Vorstadt-Sahara" von London, beschrieben: Dort wurden "Ziegel und Ziegelsteine gebrannt, Knochen verkocht, Teppiche geklopft (…) Hunde weggejagt und Müll von Lieferanten aufgetürmt".
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschwanden nach und nach nicht nur Schutt und Schmutz, sondern auch Trödler und Lumpensammler. Gesundheitsreformen und städtische Müllsammlungen veränderten das Gesicht der Großstädte grundlegend. Die Massenherstellung machte industrielle Produkte billig und wohlfeil. Was einst noch wertvoll war – Reste und Schrott – landete in der Mülltonne, und der Sinn des Flickens, Reparierens und Bastelns geriet zunehmend in Vergessenheit. Laissez-faire-Kapitalismus und industrielle Produktion beförderten überall in der westlichen Welt die Entstehung von "Überfluss-, Müll-, Konsum- und Wegwerfgesellschaften", denn Gebrauchsgegenstände, die aus der Mode kamen, landeten zunehmend rasch auf Müllkippen oder in Verbrennungsanlagen, denn das Deponieren war günstiger geworden als das Reparieren und Wiederverwerten. Der US-amerikanische Soziologe Vance Packard bezeichnete seine Landsleute 1960 als waste makers – Müllproduzenten.
Garbologie: Müllkippen als Fundgruben
Müll ist jedoch auch eine Quelle: In den verdichteten Schichten der Deponie finden Historikerinnen und Historiker ein Archiv, das Einsichten in Welten eröffnet, über die sich traditionelle Quellen ausschweigen. Die Spurensicherung im "Entsorgungspark", wie Deponien zuweilen euphemistisch genannt werden, muss Behinderungen nicht befürchten. Hier will niemand Gegenstände oder deren ehemalige Bedeutung zurechtrücken. Was in der Mülldeponie landet, hat neben seiner einstigen Deutung auch seinen Wert verloren. Die Müllhalde täuscht nichts vor. Sie will nichts anderes sein als ein Endlager und wird just dadurch zur Fundgrube par excellence.
Im privaten Abfalleimer lässt sich der Müll noch zuordnen. Wer ihn untersucht, erfährt etwas über den vorigen Besitzer oder kommt ihm gar auf die Schliche. Der legendäre Mafia-Boss Joe Bonanno aus Tucson etwa wurde durch den Müll, den er in der Tonne am Straßenrand hinterließ, überführt: Drei Jahre lang schnüffelten Polizeibeamte des Bundesstaats Arizona durch Bonannos Müll und fanden darin Beweismittel, die am Ende zur Verhaftung wegen illegalen Drogenhandels führten. Bonanno hatte die auf Sizilianisch verfassten Belege seiner Transaktionen zwar in kleinste Papierschnipsel zerrissen, aber den Forensikexperten der zuständigen Drogenbekämpfung und Spezialisten des FBI gelang es, die einzelnen Teile wieder zusammenfügen, zu entziffern und die codierte Sprache zu übersetzen. Bonnanos Müll enthielt wertvolle Informationen und brachte den Mafioso jahrelang hinter Gitter.
Anders als der Müll im privaten Abfalleimer ist der Deponiemüll anonym. Über die vorigen Besitzer sagt er in aller Regel nichts mehr aus. Das Weggeworfene erscheint geradezu alltäglich und banal. Und doch ist es in hohem Maße aufschlussreich, enthüllend, ja verräterisch. Anfang der 1970er Jahre startete der Anthropologe William Rathje ein archäologisches Projekt, das im Laufe der Jahre unser Verständnis von Müll als etwas Banalem und Wertlosen von Grund auf verändern sollte.
Rathje hatte nach Untersuchungen im kleineren Stil im Bundesstaat Arizona bewusst die New Yorker Mülldeponie Fresh Kills ausgewählt. Fresh Kills ist nicht nur die voluminöseste Mülldeponie der Welt, sondern überhaupt die größte vom Menschen geschaffene Erdformation. Selbst vom Weltraum aus ist sie deutlich zu sehen. Rathje und sein Team machten sich systematisch an die Ausgrabung. "Es gab keine Leitfäden in Buchform", erklärte Wilson Hughes, Rathjes Grabungsleiter. "Wir benutzten die Methoden der Archäologie" und "entwickelten das, was heute Garbologie [Wissenschaft vom Abfall] heißt".
Was an Rathjes Projekt so neu war: Die Archäologen aus New York untersuchten Bierdosen nicht anders als klassische Archäologen minoische Vasen oder römischen Schmuck. Dieses Vorgehen ging von der Prämisse aus, dass moderne Artefakte, ebenso wie archaische, wichtige Informationen über technische Produktion, Konsumverhalten und Wegwerfpraktiken preisgeben, und dass es sich lohnt, Objekte zu beschreiben und zu klassifizieren. "Für einen Archäologen", schrieb Rathje, "gehören antike Müllgräben und Müllsenken, die sich in aller Regel in der Nähe von Ruinen befinden, zu den glücklichsten Funden überhaupt, weil sie angehäufte Artefakte, Nahrungsreste und andere Relikte enthalten, die Rückschlüsse auf das Verhalten derjenigen Menschen enthalten, die diese einst benutzt haben. Während jeder Archäologe davon träumt, spektakuläre Objekte zu finden, besteht die Brot-und-Butter-Arbeit des Archäologen darin, das absolut Banale und routinemäßig Weggeworfene zu untersuchen."
Innerhalb der drei Jahrzehnte dauernden Laufzeit des Projekts identifizierte Rathje in Arizona und New York eine Fülle von Mustern, von denen einige nicht sonderlich überraschend waren – wie die rasante Zunahme von Plastikmüll –, andere aber brisante Entdeckungen zutage förderten. Hierzu gehörten etwa die Diskrepanzen zwischen behauptetem und realem Konsumverhalten. So erklärten Nachbarschaften durchweg, wesentlich gesünder zu leben, als es ihr Müll widerspiegelte: Denn grundsätzlich war der Anteil von Alkohol und Fertiggerichten signifikant höher, als Befragungen der gleichen Gruppen vermuten ließen. Es zeigte sich jedoch auch, dass Konsumenten auf alarmierende Nachrichten über gesundheitsschädliche Nahrungsmittel unmittelbar reagierten. Zum Beispiel hatten Berichte über den negativen Einfluss von tierischem Fett, die auf eine großangelegte Studie der National Academy of Science 1982 zurückgingen, zur Folge, dass innerhalb kürzester Zeit enorme Mengen von Fettabfällen auf den Müllhalden landeten.
Ähnlich wie klassische Archäologen klassifizierten die Garbologen ihre Fundgegenstände. Sie fanden zum Beispiel heraus, dass Dosenringe sich, je nach Firmen- und Produktprovenienz, in Form und Farbe signifikant voneinander unterscheiden. Mit archäologischem Scharfsinn schlossen sie, dass Bewohner von Wohngebieten, in denen es zwar viele Dosenringe, aber kaum Blechdosen gibt, ihren blechernen Müll offensichtlich der Wiederverwertung zuführen. Mehr als 250.000 Tonnen Müll haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Rathjes "Garbage Project" im Laufe der Jahre ausgehoben und damit einschlägige Entdeckungen zu den Ess- und Trinkgewohnheiten, zum Gebrauch von Empfängnisverhütungsmitteln und zu unzähligen anderen Verhaltenskonventionen gemacht.
Untersuchungen aus anderen Ländern sprechen ebenfalls Bände. In einer Studie von 1997 wurde etwa festgestellt, dass 68 Prozent des britischen Mülls kompostierbar und 60 Prozent recyclebar waren. Dennoch landeten 90 Prozent auf Deponien. Authentisch und nahezu ungebrochen, so lautete die Erkenntnis des Projekts, spiegelt Müll das tatsächliche Konsum- und Recyclingverhalten unserer Gesellschaft wider.
Aus den Augen, aus dem Sinn?
Wer sich vor Augen führt, dass ein Kind, das in einem Industrieland geboren wird, innerhalb der ersten sechs Lebensmonate so viel Abfall hinterlässt wie ein Mensch in einem Entwicklungsland in seinem ganzen Leben, mag sich darüber wundern, wie wenig der Müll im Alltag zum Vorschein kommt. Zum einen hat dies damit zu tun, dass wir den Abfall – rund 600 Kilogramm fallen pro Jahr pro Person in Deutschland an – tagtäglich in farbige Tonnen und Container stecken, die ihrerseits nicht selten hinter Zäunen und Mauern versteckt sind. Zum anderen wird ein Teil unseres Mülls ins Ausland verfrachtet. Dies gilt vor allem für Elektroschrott. Hier gilt die Devise: aus den Augen, aus dem Sinn. In den Hinterhofbetrieben von Schwellenländern werden die wertvollen Metalle, etwa aus den Motherboards von Computern, ausgebaut. Immerhin 250 bis 300 Gramm Gold – 50 Mal mehr als im Goldbergbau – finden sich in einer Tonne mit Leiterplatten. Dass Elektroschrott Edelmetalle enthält, die einen hohen Wiederverwertungswert besitzen, hat den ehemaligen Chefökonom der Weltbank, Lawrence H. Summers, zu der zynischen Aussage veranlasst, man solle den Schrott in die am wenigsten entwickelten Länder exportieren, da die Lebenserwartung dort ohnehin niedrig sei und der Müll die ökonomische Situation der Menschen verbessere.
In Europa gibt es strenge Gesetze, die die regionalen und globalen Müllströme regulieren. Wer aber genau wissen will, wohin die ausrangierten elektronischen Geräte wandern, stößt rasch an Grenzen. Die Spuren von Altgeräten verlieren sich. Zwar tragen in der Europäischen Union die Produzenten die Verantwortung für die Entsorgung des Elektromülls. Die haben sie aber, meist gegen eine geringe Zahlung, an unterschiedliche Akteure abgegeben, je nach Land: an Gemeinden, an den Staat, an Händler oder Unternehmen. So kommt es, dass sich über den Verbleib von mehr als neun Millionen Tonnen Elektromüll, der in der EU alljährlich anfällt, nur wenig sagen lässt. Heute wissen wir zwar auf die Minute genau, wohin Elektrogeräte ausgeliefert werden, aber über ihre Weiternutzung oder Verschrottung ist wenig bekannt. Doch je mehr "Gold" im Müll steckt, desto mehr – so viel lässt sich prophezeien – werden sich Unternehmen zukünftig darum bemühen, den Weg von Elektrogeräten besser nachzuverfolgen.
Vergangenheit zum Sprechen bringen
Menschen und Müll lassen sich nicht isoliert voneinander denken. In der "Kehrseite der Dinge" stecken Geschichten über unsere Vergangenheit und subtile Appelle für eine Zukunft mit weniger Müll.