Einleitung
Mit der Maueröffnung am 9. November 1989 begann in der Beziehungsgeschichte der Deutschen aus der Bundesrepublik bzw. West-Berlin und denen aus der DDR ein neues und recht dynamisches Kapitel. Zu seiner Vorgeschichte gehörte nicht nur der während der Leipziger September-Proteste von 1989 intonierte Sprechchor "Wir wollen raus!", sondern auch der Ruf "Wir wollen rein!", mit dem im Dezember 1989 die Einwohner aus den bayerischen Nachbardörfern an dem für sie immer noch unpassierbaren Grenzzaun nahe des westthüringischen Grenzdörfchens Ketten rüttelten. In diesen Monaten war man neugierig aufeinander, relativ offen, und viele waren gerührt.
Bald wurden die Westdeutschen mit jenem Etikett belegt, das man in West-Berlin bis dahin den aus dem Bundesgebiet Zugezogenen gegeben hatte: "Wessis". Die Ostdeutschen wurden entsprechend "Ossis" genannt. Die im offiziellen Sprachgebrauch genutzte Bezeichnung, welche die Bürgerinnen und Bürgern "aus den alten Bundesländern" von jenen "aus den neuen Bundesländern" unterschied, fand in der Alltagssprache nicht nur wegen ihrer politisch-korrekten Umständlichkeit kaum Eingang, sondern wohl auch, weil viele Menschen aus den "alten Ländern" in den Ostdeutschen die "alten", weniger modernisierten Deutschen sahen, während man selbst sich eher "neu" und modern fühlte. Zudem sprach für die Wessi-Ossi-Entgegensetzung, dass sie terminologisch auf die Wurzeln der Differenzen zwischen den beiden Bevölkerungsteilen verwies. Beide waren zwar mental "von einem Stamme", repräsentierten letztlich jedoch unterschiedliche Varianten des Deutschseins im 20. Jahrhundert: die Menschen in den alten Bundesländern die - im Sinne der Nachkriegssystematik - westliche Variante und die ehemaligen DDR-Bürger die östliche.
Bei der Thematisierung der Wessi-Ossi-Friktionen, die man in den letzten 15 Jahren verfolgen konnte, ging es häufig nicht nur um den Unterschied zwischen West- und Ostdeutschen. Vielfach waren die Spannungen durch andere Konflikte verstärkt oder überhaupt verursacht - etwa durch kulturelle Konflikte zwischen verschiedenen Milieus, durch Generationskonflikte oder durch Hierarchie- und Ausbeutungsverhältnisse, durch den Abstand von Wohlhabenden und weniger Besitzenden und schließlich durch politische und ideologische Konflikte. Gerne und bis heute anhaltend werden diese Spannungen oder Konfliktlinien mit dem Etikett "West-Ost-Unterschiede" - also der, wie es in der Sprache der Politiker heißt, noch "unvollendeten inneren Einheit" - belegt.
Wenn die West-Ost-Friktionen der neunziger Jahre thematisiert werden, hört man - zumindest im Osten - rasch das Stereotyp vom "Besserwessi" und allerlei schlimme Beispiele von seinem Wirken. Diese sollen hier nicht angezweifelt werden.
Bald zeigte sich jedoch, dass die Interaktion zwischen West- und Ostdeutschen dieser Erwartungshaltung nicht entsprach und stattdessen von großen Spannungen begleitet war. Um die Ursachen dieser Spannungen zu erklären, sollten, bevor von Identität, dem viel zitierten gelebten Leben und von entwerteten Biographien gesprochen wird, vor allem die typischen sozialen Rollen, in denen Westdeutsche und Ostdeutsche in den neunziger Jahren interagierten, analysiert werden. Die Situation war notwendigerweise asymmetrisch. Die Spitzen- und die Leihbeamten auf der mittleren Ebene, die entscheidenden Personen in der Treuhandanstalt, die Liquidatoren, Sanierer, Privatisierer, Investoren und Kapitaleigner, Chefs in Produktion, Handel und Versicherung, die Instrukteure, Ausbilder und Evaluatoren, die Immobilienbesitzer und Vermieter waren meist Westdeutsche - und die Verwalteten, die Lohnabhängigen, die Empfänger von Weisungen, die Entlassenen, die Angeleiteten und Evaluierten, die auf jeder Ebene Lernenden, die Mieter und Besitzlosen waren die Einheimischen, die Ostdeutschen.
Obwohl das Projekt "Aufbau Ost" riesige Steuermittel verschlang (und verschlingt) und die Ergebnisse der Privatisierungen im Osten aus der Sicht der öffentlichen Hand als "Verlust" zu sehen war, erbrachten diese Investitionen in den Augen der Westdeutschen und im Vergleich zu ihren eigenen Aufbauerfolgen keinen wirtschaftlichen Aufschwung, wenig Zufriedenheit, Zuversicht, sozialen Frieden und Legitimitätsgewinn für das neue System. Es stellte sich die Frage, ob die "Brüder und Schwestern" doch nur entferntere Verwandte seien und ob die Effekte von vier Jahrzehnten DDR-Sozialisation eventuell unterschätzt wurden.
Effekte der DDR-Sozialisation
Die Wissenschaften haben der Erforschung von Vergangenheit und Gegenwart der Ostdeutschen große Aufmerksamkeit geschenkt, etwa durch den Förderschwerpunkt der Deutschen Forschungsgemeinschaft "Sozialer und Politischer Wandel im Zuge der Integration der DDR-Gesellschaft" oder durch die Installation der Kommission zur Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern (KSPW). Inzwischen kann gesagt werden, dass die Ostdeutschen im Prozess der Transformation erschöpfend beschrieben worden sind.
In empirischer Sicht unterscheiden sich Ost- und Westdeutsche bei weitem nicht so sehr voneinander, wie man es angesichts der Klischees, die den medialen Diskurs beherrschen, erwarten könnte. Das zeigt sich, wenn ein auf der Basis der speyerischen Wertetypen vorgenommener Vergleich vorgenommen wird. Mit diesem Zugriff wird rekonstruiert, wie sich die Verteilung von Personen auf die fünf definierten Wertetypen in verschiedenen Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeiten darstellt.
Obwohl die ostdeutsche Bevölkerung von ihrer Wertestruktur also gut in die Marktwirtschaft "passt" und sich dabei nur wenig von der westdeutschen Bevölkerung unterscheidet, zeigt sie bei den gesellschaftsbezogenen Werten eine ungleich größere Distanz zu den Gegebenheiten. Obwohl nur ein Bruchteil "am liebsten die DDR wieder haben" will
Das Demokratieverständnis der Ostdeutschen schließt neben politischen Rechten auch soziale mit ein, wie der "Sozialreport 2002" belegt. Die Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit sind bei den Ostdeutschen deutlich anders als bei den Westdeutschen. "Bei über 88 % der Ostdeutschen kollidieren die sozialen Unterschiede in der Bundesrepublik mit ihrem Gerechtigkeitsempfinden, während 46 % der Westdeutschen sie im großen und ganzen als gerecht ansehen."
Ein Überblick über die Besonderheiten ostdeutscher Wertvorstellungen kommt nicht ohne den Rekurs auf die These aus, dass die hohe Quote fremdenfeindlicher Gewalttaten in den neuen Bundesländern ein Effekt der spezifischen DDR-Sozialisation sei. Die Relevanz dieser These entspricht allerdings nicht den Ergebnissen der empirischen Werteforschung, sondern ihrer Funktion in den politischen und ideologischen Deutungskämpfen um den Status der DDR und der Bundesrepublik. Untersuchungen der Werteforschung konnten die kurzschlüssige Folgerung, dass die autoritären Herrschaftsformen in der DDR autoritäre Persönlichkeiten hervorgebracht hätten, nicht bestätigen.
Walter Friedrich überprüfte die Spekulation von der strukturellen Produktion fremdenfeindlicher und rechtsextremistischer Einstellungen in der DDR anhand von Daten aus den sechziger bis neunziger Jahren. Wenn der unterstellte Zusammenhang zwischen DDR-Sozialisation und der Ausbildung rechtsextremistischer und ausländerfeindlicher Einstellungen tatsächlich bestünde, so folgerte Friedrich, müssten sich anhand der Daten vier Arbeitshypothesen verifizieren lassen: Erstens müssten diese Einstellungen in der Hoch- und Stabilitätsphase der DDR stärker ausgeprägt gewesen sein als in der Niedergangs- und Instabilitätsphase. Zweitens müssten ältere und mittlere Jahrgänge, die der DDR-Sozialisation länger ausgesetzt waren, stärker rechtsextremistische und ausländerfeindliche Einstellungen zeigen als jüngere. Drittens müsste die Identifikation mit System und Ideologie der DDR mit der Ausprägung der genannten rechtsextremistischen und ausländerfeindlichen Einstellungen korrelieren. Viertens müssten Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus nach dem Verschwinden der DDR kontinuierlich zurückgehen. Alle vier Arbeitshypothesen wurden falsifiziert.
Ein deutlicher Unterschied zu den Westdeutschen zeigt sich in der "subjektiven Schichteinstufung" der Ostdeutschen. Dabei wird ermittelt, zu welchen Anteilen sich die Bevölkerung eines Territoriums welchen sozialen Schichten zurechnet. Erfasst werden subjektive Zurechnungen, nicht objektive Daten über die Sozialstruktur einer Bevölkerung. Im Jahr 1992/93 ordnete sich eine deutliche Mehrheit der Ostdeutschen (61 Prozent) der Unter- und Arbeiterschicht und eine Minderheit (37 Prozent) der Mittelschicht zu. Zur Oberschicht zählten sich zwei Prozent. Bei den Westdeutschen ist das ganz anders: Die Mehrheit (57 Prozent) ordnete sich der Mittelschicht zu, nur 29 Prozent der Unter- und Arbeiterschicht. 14 Prozent sahen sich der Oberschicht zugehörig. Zehn Jahre später, im Jahr 2002, sah die Verteilung immer noch so aus.
Natürlich liegen die Ursachen hierfür nicht in der Sozialstruktur; die ist in Ost und West annähernd ähnlich. Die Ergebnisse widerspiegeln vor allem die gültigen Wertvorstellungen der beiden Teilgesellschaften. Die west- wie die ostdeutsche Bevölkerung ordnet sich mehrheitlich jenen gesellschaftlichen Schichten zu, die in ihren Gesellschaften als maßgeblich, als stilbildend gelten und durch die dominierenden Diskurse als "ehrbare Stützen" der Gesellschaft ausgegeben wurden. In den Einordnungen der Ostdeutschen spiegelt sich sowohl dasdurch die Offizialdiskurse erzeugte Prestige der "Arbeiterklasse" und die ihr zugeschriebenen Werte und Lebensformen wie auch die faktische alltagskulturelle Dominanz und Maßgeblichkeit der Lebensformen und Wertvorstellungen der kleinbürgerlich-materialistischen Milieus in der DDR wider. Im Zusammenfließen des herrschenden Mythos von der Arbeiterklasse mit der alltagskulturellen Dominanz der proletarisch bis kleinbürgerlich-materialistischen Kultur bildete sich in Ostdeutschland eine, wie es Wolfgang Engler formulierte, "arbeiterliche" Gesellschaft heraus: "Die Ostdeutschen lebten in einer Gesellschaft, in der die Arbeiterschaft sozial und kulturell dominierte und die anderen Teilgruppen mehr oder weniger 'verarbeiterlichten'. Es wäre eine Absurdität zu behaupten, die ostdeutschen Arbeiter hätten die politische Herrschaft ausgeübt. Aber das soziale Zepter hielten sie in der Hand. Anschauungen, Meinungen, Konventionen, Kleidungs- und Konsumgewohnheiten und nicht zuletzt die Alltagssitten richteten sich nach den Normen und Idealen der arbeitenden Klassen. (...) Gemessen (...) am Aristokraten wie am Bürger, erschien der arbeiterliche Mensch als wahres Glückskind der Geschichte. Er mußte nichts sein, um etwas zu werden, nichts werden, um etwas zu sein, denn alles, was er sein und werden konnte, war er bereits: ein anerkanntes Mitglied des Gemeinwesens. Er war ökonomisch unabhängig, existentiell von vornherein gesichert und wußte vom Kampf um soziale Anerkennung nur vom Hörensagen."
Die Rede von alltagskulturellen Dominanzwechseln in Gesellschaften wird gerade durch die Beschreibungen der Gegner und Verlierer der neuen Entwicklungen beglaubigt. Im Falle der DDR waren das vor allem bürgerlich orientierte Personen oder Gruppen, deren symbolisches und kulturelles Kapital in der "arbeiterlichen Gesellschaft" rapide an Kurs verlor. Eine entsprechende Beschreibung auf Basis dieser Verlusterfahrung liest sich so: "Sittenzerfall - Der ganze bürgerliche Plunder, über Bord mit ihm. Knicks und Verbeugung der Kinder: ein Zeichen der Verkrüppelung. Aufstehen vor Älteren, Vorgesetzten: ein Überrest des Untertanengeistes. Wir alle sind 'per Du', denn wir sind alle in der Gewerkschaft. Bei Tisch benehmen wir uns, wie es in einer Proletarierküche üblich ist. Mit Schürze und Hausschuhen auf die Straße, mit dem Blaumann ins Gasthaus, die Arbeitskleidung ist ein Ehrenkleid. Bunte Perlonschürzen überfluten Fabriken, Läden, Ambulatorien und Kontore. Bald bemerkt niemand mehr, wie häßlich sie sind. (...) Zur neuen Art des Zusammenlebens gehört, daß man anders miteinander redet als früher. Man spricht deftig, grob und geradezu, nennt das offen und ehrlich."
Diese spezifischen Verhältnisse in der DDR, die Aufwertung der Arbeiter- und Volksschichten in den Offizialdiskursen, in den Diskursen der Wissenschaft und Bildung, haben offensichtlich sozialisatorische Langzeitwirkung. Denn obwohl heute das Prestige der Arbeiterschichten viel geringer ist, hat sich die subjektive Zuordnung der Ostdeutschen auch in den neunziger Jahren nicht an die westdeutsche Normalverteilung angeglichen. Die "alten Werte" sind insofern subjektiv noch etwas wert. Das kann man als ein Stück DDR im Alltag ihrer ehemaligen Bevölkerung deuten.
West-Ost-Unterschiede im Alltagshandeln
Anhaltende Ost-West-Unterschiede zeigen sich auf der Ebene des Alltagshandelns. Diese Unterschiede sind allerdings ein schon viel vermittelteres Echo der spezifischen Sozialisationsverhältnisse in der DDR als etwa Unterschiede in der subjektiven Schichteinstufung.
Wolf Wagner zeigte, auf welche typische, und von den westlichen Standards abweichende Weise die Ostdeutschen im Alltag kommunizieren. In Alltagsgesprächen oder bei einem Smalltalk neigen Ostdeutsche beispielsweise stärker dazu, über Mängel, Missstände oder auch eigene Probleme zu reden, während Westdeutsche lieber mit der Thematisierung von leichten und nichtigen Dingen das Gespräch eröffnen. In ihren jeweils eigenen Kulturen funktioniert das gut. Im Osten erzeugt man durch die ostdeutsche Art zu kommunizieren "Nähe und Solidarität", man nimmt das Gegenüber als "offen und leutselig" wahr. Die Westdeutschen erzeugen auf ihre eigene Art nicht minder entspannende "positive Stimmung", die es erlaubt, sich gegenseitig als "geistreich und diskret" wahrzunehmen und zu inszenieren. Erst wenn Ost- und Westdeutsche gemeinsam auf die Anforderungen der Kommunikationssituation mit den jeweils in ihren eigenen Kulturen angemessenen Kommunikationsstilen reagieren wollen, kommt es zu Friktionen. Ostdeutsche beschweren sich über Westdeutsche, die "oberflächlich und abweisend" seien, und diese wiederum nennen die Ostdeutschen "larmoyant und unersättlich".
Ähnlich zeigen sich Ost-West-Differenzen bei der Interpretation von Karrierewegen. Wenn Westdeutsche oft den Arbeitsplatz oder -ort wechseln, gelten sie für andere Westdeutsche eher als zielstrebig und flexibel, als eine motivierte und hochwertige Arbeitskraft. In der DDR waren Arbeitsplatzwechsel eher mit Versagen oder anderen Stigmata verbunden. Denn wer in der DDR "gut" war, blieb oder stieg an Ort und Stelle auf, wer "schwierig" war, wurde "weggelobt". Aus dieser so vorgeprägten Ost-Perspektive galten die im Osten ankommenden Wessis als "abgeschobener Ausschuss", während die verstetigten Ostdeutschen den mobilen Westdeutschen wiederum als der "zurückgebliebene Ausschuss" gelten mussten.
Während in ostdeutschen Gruppen die Tendenz zum Ausgleich, zu Kompromissen, Harmonie aber auch zum Überdecken von Konflikten vorherrscht, ist das Verhalten in westdeutschen Gruppen stärker auf miteinander konkurrierende Individualitäten orientiert. In der gegenseitigen Wahrnehmung führt das dazu, dass die Ostdeutschen die Westdeutschen als "aggressiv, dominant und unsensibel" wahrnehmen, während sie die Eigengruppe als "freundlich, solidarisch und harmonisch" beschreiben. Die Westdeutschen hingegen empfinden diese Art von Harmonie als "feige und scheinheilig", während sie ihre Art der Kommunikation als "offen, mutig und authentisch" bezeichnen.
Diese "typisch" west- bzw. ostdeutschen Stile in der Alltagskommunikation ähneln sich darin, in unterschiedlichen Sozialräumen jeweils funktional gewesen zu sein. Sowohl bei Ost- wie bei Westdeutschen hatte sich ein Verhalten habitualisiert, das von den gesellschaftlichen Strukturen nahegelegt wurde. Die spezifischen sozialisatorischen Muster bildeten die unterschiedlichen Funktionsweisen der Macht und der Chancenzuteilung in den verschiedenen Sektoren der beiden Gesellschaften ab - und reproduzierten diese. Die Friktionen werden mit dem Modell des "Kulturschocks" konzeptualisiert: Die Angehörigen der beiden Gruppen wenden die Formen des "richtigen" und freundlichen Handelns an, dennoch misslingt die Interaktion. Das Ergebnis dessen ist, dass man sich selbst "gut und richtig" findet und die anderen "seltsam, unverständlich, doof".
Die selektive Popularisierung der wissenschaftlichen Ergebnisse durch den Mediendiskurs
Was die Sozialwissenschaften seit den frühen neunziger Jahren gleichermaßen umfänglich wie differenziert an Befunden zu Sozialisation, Verhalten, Wertvorstellungen und Weltsicht "der Ostdeutschen" zusammengetragen haben, wurde im medialen Diskurs nur selektiv verbreitet. Innerhalb des der Marktlogik unterworfenen Mediendiskurses ist der nüchternen Ausgewogenheit wissenschaftlicher Studien ohnehin kaum gerecht zu werden. Zudem dürfte das Personal in den Medien zumeist weder die Zeit noch die Voraussetzungen haben, nachzuvollziehen, was in der interpretativen Sozialwissenschaft zum Üblichen gehört: experimentell andere Perspektiven einzunehmen und diese zu verstehen. Medien bedienen - von Qualitätszeitungen bis zu Boulevardblättern - die Erwartungen und die Weltsicht ihres Publikums. Interessant ist, was zur Grundtendenz der alltäglichen medialen Thematisierung ostdeutscher Eigenarten gehört, welche Dispositionen der Ostdeutschen, oft in zugespitzter Form, in das Stereotyp von "den Ostdeutschen" Eingang fanden und welche nicht.
Deutlich präsent sind Wahrnehmungen, die Wolf Wagner als Effekte des Kulturschocks schilderte und die lediglich die westdeutsche Seite der Stereotypisierungen darstellen: Demgemäß wird der ostdeutsche Habitus als steif, altmodisch, verklemmt, naiv, konfliktscheu, opportunistisch, larmoyant und immobil konstruiert. Bei der Erklärung der fremdenfeindlichen und rassistischen Gewalttaten in Ostdeutschland wird die fachwissenschaftlich widerlegte
Die empirische Verifizierung dieses ersten Eindrucks vom westdeutschen Ost-Diskurs mittels einer systematischen Analyse der Konstruktion der Ostdeutschen in den Mediendiskursen steht noch aus.
Im selben Jahr grenzte sich Monika Maron drastisch von ihren Landsleuten ab: "Sturer Trotz und peinliche Beflissenheit sind überhaupt die prägenden Züge derzeitigen ostzonalen Verhaltens." Die wohl gefüllten Einkaufswagen - "ekelhaft große Fleischpakete oder ein süßes balkanesisches Perlgesöff namens Canei" - repräsentierten deren Geschmack und Mentalität. "Ich bin an ihrer Dumpfheit und Duldsamkeit, an ihrer Duckmäuserei und ihrem feigen Ordnungssinn oft verzweifelt."
Die Klage vieler Westdeutscher, dass sie trotz mehrjährigen Aufenthaltes in Ostdeutschland bei den Einheimischen keinen Anschluss gefunden hätten, wurde in den neunziger Jahren oft erhoben. Man finde keinen Zugang zu ihren "kleinen, privaten Cliquen", schrieb "Der Spiegel" anlässlich des resignierten Resümees, das ein westdeutscher Leihbeamter nach seiner vierjährigen Tätigkeit als Innenstaatssekretär Sachsen-Anhalts zog: "Wir Nachkriegsdeutschen aus Ost und West werden niemals ganz zusammenwachsen. Den Jüngeren mag es besser ergehen. Wer jemals eine Kantine im Osten besucht hat, weiß, wovon ich rede. Den Ostler erkennt man bereits bei Betreten des Raumes: Wie in der Kneipe oder im Restaurant duckt er sich zunächst, als warte er darauf, ,platziert' zu werden. Hat er sich dann zu einem Westkollegen an den Tisch gesetzt, beginnt dieser locker draufloszuplaudern. Der Ostler dagegen schaut erst einmal um sich, wer am Nebentisch mithören könnte. Die Angst scheint immer noch allgegenwärtig. Es herrscht das Prinzip Misstrauen, im Kleinen wie im Großen."
Wenig später erschien der Bericht einer Frau, die aus Wuppertal nach Frankfurt/Oder umsiedelte, weil ihr Mann dort die Chefarztstelle antrat. Gabriele Mendling veröffentlichte ihr Buch unter dem Pseudonym Luise Endlich - "Der Name Endlich, weil es eine Frau aus dem Westen endlich wagt, den Mund aufzumachen."
Konfliktträchtig waren auch zwei von Wissenschaftlern geäußerte Hypothesen, bei denen es um mehr als nur private Umgangsprobleme ging - nämlich um die in Ostdeutschland viel stärker als im Westen auftretenden fremdenfeindlichen und rechtsextremen Gewalttaten. Der westdeutsche Kriminologe Christian Pfeiffer trieb sozialisationstheoretische Ursachenforschung.
Eine ähnliche Konfliktstruktur ergab sich 1999 nach der Veröffentlichung von "Arbeiten wie bei Honecker, leben wie bei Kohl"
Dass der Verfall der eigenen Kultur durch die initiativlosen ostdeutschen Landsleute verursacht werden könnte, beschäftigte im Jahr 2001 auch einen Leitartikler der FAZ: "Dabei hat der tatsächliche Aufschwung Ost etwas Künstliches. Denn ihm folgt kein Aufbruch der Menschen. Schon holt sich die Natur eben erst erschlossene, aber ungenutzte Gewerbegebiete zurück. Das voller Elan vor ein paar Jahren eröffnete Gasthaus steht schon wieder leer. Am neu gebauten Parkplatz senken sich längst die Steine ab."
Die Konstruktion der Ostdeutschen: Regeln eines Diskurses
Die Konstruktion der Bilder, Vorstellungen oder Stereotype von den Ostdeutschen verlief in den neunziger Jahren unter ganz bestimmten Bedingungen. Diese beeinflussten die inhaltliche Qualität der Stereotypenkonstruktion ebenso, wie sie zu deren Verbreitung und Geltung beitrugen.
Erstens: Die Interpretation der vermuteten Andersartigkeit der Ostdeutschen geschah zunehmend unter den Auspizien der Fragestellung, warum das, was bislang erfolgreich funktionierte und weitgehend akzeptiert wurde, nämlich soziale Marktwirtschaft und Demokratie, bei den Ostdeutschen nicht ebenso funktionierte und von ihnen nicht gleichermaßen wie im Westen angenommen wurde. Diese Fragestellung fokussierte das Interesse auf die Aufdeckung jener Eigenarten, die für diese Dysfunktionen verantwortlich sein könnten, also auf die Defizite der Ostdeutschen.
Zweitens war damit ein psychologisierender Fokus eingenommen. Es ging um "Prägungen", "Sozialisation", "seelische Deformation", "Mentalität", "Verhaltensweisen", also um Konstrukte, die sich nur schwer mit Fakten und Daten operationalisieren lassen - ganz anders als beispielsweise zeitgeschichtliche Untersuchungen zu institutionellen Strukturen oder zur Herrschaftsausübung in der DDR. Dennoch fühlten sich viele Disputanten zur Erörterung dieser "weichen Faktoren" berufen. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Konzentration auf die Defizite ostdeutscher Sozialisation den Disputanten die kritische Reflexion des politischen und wirtschaftlichen Systems, mit dem sie sich identifizierten, weitgehend ersparte.
Drittens gab und gibt es enorme strukturelle und personelle Asymmetrien bei der Erörterung der Frage, welche Eigenheiten den Ostdeutschen und ihrer Alltagskultur zuzuschreiben sind. Die überregionalen Medien sind westdeutsche, und die für das ostdeutsche Fünftel der Bevölkerung produzierten Regionalmedien gehören westdeutschen Eigentümern und werden westdeutsch geführt. In den Geistes- und Sozialwissenschaften der neuen Bundesländern dominiert westdeutsches Personal
Viertens: Auch wenn das ostdeutsche Fünftel der Bevölkerung die kleinere und auch strukturell in jeder Hinsicht die schwächere Gruppe ist und hierzu insbesondere auf der medialen Ebene keinen Gegendiskurs entfalten konnte - und insofern als "Diskurs-Opfer"
Was tat - um in diesem Sprachbild zu bleiben - der Osten dem Westen und die Ost- den Westdeutschen an? - Die Ostdeutschen grenzten sich von den Westdeutschen und ihrer Lebensweise relativ stark ab, obwohl der größte Teil der Ostdeutschen sich für die rasche und vollständige Übernahme des westdeutschen Modells entschieden hatte und die Westdeutschen im Osten - als Aufbauhelfer, als Vorgesetzte in der Administration und als Akteure in der Wirtschaft - nun genau diese Wahlentscheidung umsetzten. Darüber hinaus verweigern die Ostdeutschen mehrheitlich den Institutionen der parlamentarischen Demokratie und des Rechtsstaates ihr Vertrauen.
Der oben vorgenommene tentative Zugriff auf die affektive Ebene fragt danach, inwieweit der Beitritt der Ostdeutschen die Westdeutschen vereint hat. Mit Blick auf die anderen Deutschen im Osten schienen auch die bis dahin in verschiedenen Diskursen der bundesdeutschen Gesellschaft stark differenzierten Gruppen stärker zusammenzufinden. Ein westdeutscher Beobachter sprach rückblickend von einem "Konsensschwall"
In einem derart aufgeladenen Spannungsverhältnis
Die westdeutschen Ost-Diskurse sind durch unterschiedliche Konjunkturen und Themen geprägt und weisen bei aller Varianz doch immer wieder gleichbleibende Muster, Diskursregeln
Denn 15 Jahre nach der Öffnung der Mauer und dem Beginn vom Ende der DDR scheinen die Stereotypen von den Eigenarten der Ostdeutschen noch so frisch wie zu Beginn der deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte. Der jüngste Anlass, über die Sozialisation der Ostdeutschen zu sprechen, sind die in Ostdeutschland besonders massiven Proteste gegen die Durchsetzung der "Hartz-IV"-Gesetze. Bei der medialen Begleitung der ostdeutschen Proteste erklärt man dem Publikum, dass die Ostdeutschen aufgrund ihrer Herkunft aus dem Staatssozialismus von der falschen Annahme ausgingen, dass der Staat für die Arbeit verantwortlich sei. Die Darstellung der Protestler als typisch ostdeutsche politische Analphabeten, als Besitzstandswahrer, als Problemursache dient dazu, eine Debatte über die Situation und verschiedene politische Möglichkeiten mit deren Umgang zu vermeiden. Auch in diesem Zusammenhang funktioniert die Thematisierung der ostdeutschen Eigenarten als Stellvertreterdiskurs.
Die Ostdeutschen haben in den zurückliegenden Jahren bei ihrer Etablierung in einer völlig anderen wirtschaftlichen, administrativen und kulturellen Welt enorme und konstruktive Anpassungsleistungen vollbracht. Sie zeigten und zeigen Realitätssinn, Risiko- und Anstrengungsbereitschaft, Mobilität und Flexibilität. Über 22 Prozent der einst in der DDR Beschäftigten arbeitet heute in einem für sie völlig neuen Sektor - im Dienstleistungssektor. Die Gruppe der Selbständigen hat sich in den ersten fünf Jahren nach dem Beitritt fast verdreifacht. Vergleichbare Veränderungsschübe im Erwerbsleben hat noch kein Teil einer deutschen Bevölkerung erlebt. Das alles spielt in der aktuellen öffentlichen Diskussion aber noch immer eine marginale Rolle.
Es stellt sich die Frage, ob diese spezifische Wahrnehmung und diskursive Konstruktion der Ostdeutschen alternativlos war oder ob unter anderen historischen Bedingungen ein anderer Blick möglich gewesen wäre. Kontrafaktisch zum Verlauf des Transformationsprozesses könnte man sich das Szenario einer wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte denken. In diesem Falle würde aller Wahrscheinlichkeit nach weniger intensiv über die Andersartigkeit der Ostdeutschen und ihre sozialisatorische Mitgift gesprochen werden, und wenn, dann sicher in dem Sinne, dass die Ostdeutschen etwas Anderes und Bereicherndes in die Bundesrepublik eingebracht hätten. Der heute als defizitär dastehende Ostdeutsche, dem das Scheitern des "Aufbaus Ost" zugeschrieben wird, wäre dann vielleicht der "fremde Freund".