Einleitung
"Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft". Mit diesen Worten brach Bundeskanzler Gerhard Schröder im April 2001 eine heftige Debatte über "Faulenzer", "Drückeberger", "Scheinarbeitslose" und "Sozialschmarotzer" vom Zaun. Aus historischer Sicht kamen die Vorwürfe nicht unerwartet. Rückblickend kann man sogar von einem politischen Automatismus sprechen: Immer wenn Regierungen ein bis zwei Jahre vor der Wahl stehen und die Konjunktur lahmt, wird reflexartig die Alarmglocke "Faulheitsverdacht!" geläutet - auch wenn es keine objektiven Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Arbeitslosen fauler geworden sind. Ein Blick auf die vergangenen drei Jahrzehnte der Arbeitsmarktpolitik zeigt, dass die Faulheitsdebatte politische Konjunkturen hat.
I. Politische Konjunkturen der Missbrauchsdebatte
In den fünfziger und sechziger Jahren der Vollbeschäftigung gab es noch keinen ernsthaften Anlass, sich über die "faulen Arbeitslosen" zu beklagen. Gleich zu Beginn der Massenarbeitslosigkeit im Sommer 1975 löste jedoch der sozialdemokratische Bundesarbeitsminister Walter Arendt die erste Faulheitsdebatte aus.
Die zweite und in der Rückschau heftigste Debatte dieser Art wurde Anfang der achtziger Jahre von allen im Bundestag vertretenen Parteien geführt. Sowohl Regierungs- als auch Oppositionsvertreter sparten nicht mit deutlichen Worten: So sagte Heinz Westphal (SPD) im Deutschen Bundestag, dass es Leute gebe, die sich nicht scheuten, "das geschaffene Netz sozialer Sicherung ohne Rücksicht auf die Solidargemeinschaft aus egoistischen Gründen für sich auszunutzen und damit zu missbrauchen". Der CSU-Abgeordnete ErichRiedl formulierte noch drastischer, "das soziale Netz (sei) für viele eine Hängematte - man möchte sogar sagen: eine Sänfte - geworden ; eine Sänfte, in der man sich von den Steuern und Sozialabgaben zahlenden Bürgern unseres Landes von Demonstration zu Demonstration, von Hausbesetzung zu Hausbesetzung, von Molotow-Cocktail-Party zu Molotow-Cocktail-Party und dann zum Schluss zur Erholung nach Mallorca oder sonst wohin tragen lässt".
Die dritte große "Faulheitsdebatte" setzte im Oktober 1993 ein, als Bundeskanzler Helmut Kohl in einer Bundestagsdebatte vor einem "kollektiven Freizeitpark" warnte. Diese Äußerung, die sich vor allem gegen eine Verkürzung der Arbeitszeiten richtete, provozierte viel Widerspruch. Das Kanzlerwort fand sich auf der Liste der "Unwörter des Jahres" wieder. Die jüngste von Kanzler Schröder in Gang gesetzte Debatte lebte im August 2001 noch einmal auf, als der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) sich in den USA ("Wisconsin Works"
Alle vier Debatten wurden von umfangreichen Presseberichten begleitet, die spektakuläre Fälle von Leistungsmissbrauch in den Mittelpunkt stellten. Die öffentliche Meinung war jedoch bei jeder Debatte gespalten. Während etwa bei der letzten Debatte die Industrie- und Handelskammer von "ganzen Heerscharen" arbeitsunwilliger Arbeitsloser ausging, bezeichneten die Gewerkschaften den Streit um die "Drückeberger" als "Scheindiskussion", die nur ganz wenige betreffe.
II. Mögliche Gründe für die "Faulheitsdebatten"
Die immer wieder von führenden Politikern vorgebrachten Faulheitsvorwürfe veranlassen zu der Frage, ob sich dahinter eine Systematik verbirgt. Vier mögliche Auslöser der Debatte sollen im Folgenden betrachtet werden: Quelle:Eigene Darstellung.
1. Die Höhe und Dynamik der Arbeitslosigkeit
Die ersten drei Debatten fallen in die Zeit der drei großen Rezessionen, verbunden jeweils mit einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit (vgl. hierzu und zum Folgenden die Abbildung). Die jüngste Debatte kann vor dem Hintergrund gesehen werden, dass die von Bundeskanzler Schröder anvisierte Zahl von weniger als 3,5 Millionen Arbeitslosen im Wahljahr 2002 nach den Prognosen kaum mehr zu realisieren war. Die Wirtschaft schwächelte, und ein Steigen der Arbeitslosigkeit, zumindest deren Stagnation, war abzusehen. Der Verdacht, dass bereits nach Sündenböcken gesucht wurde, die im Falle eines Fehlschlages öffentlichkeitswirksam vorgeschoben werden konnten, liegt nahe. Da auch der Großteil der Opposition in dieselbe Kerbe schlug, scheint jedoch eine andere Erklärung plausibler zu sein: Mit dieser gezielten Provokation sollte der so genannte "median voter" angesprochen und damit die politische Mitte besetzt werden, deren Einstellung bekanntlich wahlentscheidend sein kann.
2. Der Abstand zu den nächsten Bundestagswahlen
Abgesehen von der Auseinandersetzung Anfang der achtziger Jahre wurden die Debatten jeweils circa ein bis eineinhalb Jahre vor der nächsten Bundestagswahl initiiert, wobei die jeweils schlechte Situation auf dem Arbeitsmarkt unmittelbarer Anlass gewesen sein dürfte. Aber auch die Debatte Anfang der achtziger Jahre stand im Zeichen eines bevorstehenden Machtwechsels, der durch die Kanzlerkandidatur von Franz Josef Strauß nur hinausgeschoben war. Zudem müssen die ersten drei "Faulheitsdebatten" vor dem Hintergrund vorangegangener Landtagswahlen gesehen werden. 1975 büßte die im Bund regierende SPD bei fünf von sechs Landtagswahlen Prozentpunkte ein. 1981 verlor sie zum ersten Mal seit 1954 den Posten des Regierenden Bürgermeisters von Berlin. 1993 verlor die im Bund regierende CDU bei der Hamburg-Wahl im September zehn Prozentpunkte und sank auf ein historisches Tief. Lediglich 2001 initiierte die im Bund regierende Partei eine "Faulheitsdebatte", ohne zuvor bei den Landtagswahlen Einbußen erlitten zu haben.
3. Die verhängten Sperrzeiten wegen Ablehnung einer zumutbaren Arbeit
Aufs engste verbunden mit der Frage der "Arbeitsunwilligkeit" ist die "Zumutbarkeit von Arbeit", also die Frage, welche Arbeit einem Arbeitslosen zugemutet werden kann. Die entsprechenden Regelungen haben im Verlauf der vergangenen 30 Jahre erhebliche Veränderungen, meistens in Form von Verschärfungen, erfahren.
Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Arbeitsämter die Zumutbarkeitsregeln nicht immer restriktiv anwenden und es Arbeitslosen gelingt, sie bisweilen zu unterlaufen, ist die Zahl der Sperrfristen, die das Arbeitsamt verhängt, ein relativ verlässliches Indiz für das Ausmaß "arbeitsunwilligen Verhaltens". Ein signifikanter Zusammenhang mit dem Aufkommen der Faulheitsdebatten ist aber nicht zu erkennen, denn drei der Debatten wurden bei sinkender Sperrzeitenquote geführt (vgl. die Abbildung auf Seite 11).
Wie die Abbildung zeigt, wurden bereits in den Jahren 1975/76, 1978, 1982 und 1997 die Zumutbarkeitsregelungen verschärft, und zudem wurde in den Jahren 1978, 1982, 1985, 1994 und 1997 die Dauer der Sperrzeiten verlängert. Die im Anschluss an die erste "Faulheitsdebatte" steigende Zahl der Sperrzeiten war eine direkte Folge rechtlicher Restriktionen und nicht umgekehrt. Zudem machten laut Beobachtungen der Arbeitsämter die Arbeitgeber genauere Angaben über die Gründe für den Verlust eines Arbeitsplatzes (Hintergrund war ein entsprechender Aufruf des Arbeitgeberverbandes). Außerdem spielte eine Rolle, dass den Leistungsempfängerinnen und -empfängern auch berufsfremde Arbeiten angeboten wurden, die subjektiv als unzumutbar empfunden und daher mitunter abgelehnt wurden. Nicht zu vergessen ist ferner, dass mit anhaltender Massenarbeitslosigkeit gar nicht gerechnet wurde. Arbeitslose befürchteten nicht wie heute Dauerarbeitslosigkeit. Im Gegenteil, sie hofften auf baldige Reintegration in den alten Beruf zu den gleichen oder ähnlichen Bedingungen.
Den Regelverschärfungen 1978 folgten überraschenderweise deutlich sinkende Sperrzeitenquoten. Dies kann nur auf die günstige Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zurückgeführt werden. Die Entschärfung der Regelungen Ende 1979 begünstigte den fortschreitenden Rückgang der Sperrzeiten. Dieser Trend setzte sich dann auch in der Krise Anfang der achtziger Jahre fort, allerdings aus ganz anderen Gründen. Die Zahl der offenen Stellen sank so stark, dass den Arbeitslosen kaum noch Stellen angeboten werden konnten: Wo keine Stellen mehr angeboten werden, können auch keine abgelehnt werden. Der historische Tiefstand bei offenen Stellen im Jahr 1983 ging einher mit der bis dahin historisch geringsten Sperrzeitenquote. Auch die "Faulheitsdebatte" Anfang der achtziger Jahre gründete sich daher nicht auf steigende Sperrzeitenquoten. Ebenso wenig führte die erneute Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen 1982 zu steigenden Sperrzeitenquoten.
Im Verlauf der achtziger Jahre ging die Zahl der Sperrzeiten bei Arbeitslosengeldempfängern zurück, bei Arbeitslosenhilfeempfängern stieg sie. Hauptursache dafür war, dass sich ein Kern von Langzeitarbeitslosen gebildet hatte, der nur schwer wieder in Arbeit vermittelt werden konnte. Das deutliche Ansteigen der Sperrzeitenquote 1989 bis 1991 korrespondierte mit dem Vereinigungsboom. Der Wirtschaftsboom - 1991 wurde die größte Zahl offener Stellen seit 1973 registriert - ermöglichte es den Arbeitsämtern, verhältnismäßig viele Arbeitsangebote zu machen und entsprechend auch mehr Sanktionen zu verhängen als in Rezessionszeiten. Aber bereits 1992 sank die Sperrzeitenquote drastisch auf einen neuen historischen Tiefstand. Der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts (BIP) war von 5,0 Prozent (1991) auf 1,8 Prozent (1992) geschrumpft. 1993 sank das BIP gar um 2 Prozent; zugleich ging die Sperrzeitenquote auf einen abermaligen historischen Tiefstand zurück. Die Debatte um den "Freizeitpark Deutschland" im Jahr 1993 wurde somit wieder vor dem Hintergrund eines historischen Rekordtiefs bei der Sperrzeitenquote geführt. Die Sperrzeitenquoten blieben Mitte der neunziger Jahre auf extrem niedrigem Niveau. Mit der erneuten Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung 1997 änderte sich dies.
Durch die Neuregelungen, insbesondere durch den Wegfall des zeitweiligen Qualifikationsschutzes, stieg die Sperrzeitenquote deutlich an, ohne aber auch nur annähernd das Niveau der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zu erreichen. Die jüngste "Faulheitsdebatte" ist daher die erste, die mit steigenden Sperrzeitenquoten korrespondiert. Weitere Ursache für die relativ hohen Sperrzeitenquoten ist auch die bis ins Jahr 2000 günstige Konjunkturentwicklung und eine im Vergleich mit den achtziger Jahren hohe Anzahl offener Stellen, die es vielerorts möglich machte, Erwerbslosen eine Stelle anzubieten. Insbesondere in den Bundesländern, in denen Firmen in einigen Wirtschaftsbereichen zum Teil regelrecht nach Arbeitskräften suchten, liegen die Sperrzeitenquoten deutlich höher als im Bundesdurchschnitt. Die These, dass die Sperrzeitenquote umso höher liegt, je besser das Verhältnis offene Stellen zu Arbeitslosen ist, wird empirisch eindrucksvoll bestätigt (vgl. die Tabelle). Sicher sind die Bayern und Baden-Württemberger nicht "fauler" als die Sachsen oder Brandenburger. Allerdings kann in den südlichen Bundesländern Arbeitslosen erheblich häufiger eine Stelle angeboten werden. Und nur wo angeboten wird, kann auch abgelehnt und entsprechend gesperrt werden.
4. Die Meinung der Bevölkerung über die Arbeitswilligkeit von Arbeitslosen
Anhand einer Zeitreihe des Instituts für Demoskopie Allensbach lassen sich die Veränderungen in der Einstellung zu Arbeitslosen verfolgen. Die Frage lautet: "Glauben Sie, dass es unter denen, die zur Zeit arbeitslos sind, viele gibt, die nicht arbeiten wollen, oder sind das nur Einzelfälle?" Zu Beginn der Beschäftigungskrise im Herbst 1975 vermutete die Hälfte der Bevölkerung unter den Arbeitslosen viele Arbeitsunwillige. Danach nahmen die Vorbehalte sogar noch zu. 1977 und 1981 sahen fast 60 Prozent der Bevölkerung unter den Arbeitslosen viele, die nicht wirklich arbeiten wollten. Damit war der Wendepunkt markiert. Bis 1986 sank die Zahl derer, die unter den Arbeitslosen viele Arbeitsunwillige vermutete, auf 39 Prozent. Mitte der neunziger Jahre blieben die Werte auf einem niedrigen Niveau. Erst Ende der neunziger Jahre stiegen sie, und so fällt der aktuelle Faulheitsvorwurf mit den in Westdeutschland historisch höchsten Zustimmungsraten zu dieser Frage zusammen (66 Prozent). In Ostdeutschland ist die Entwicklung ähnlich, allerdings stiegen hier die Werte von einem viel geringerem Ausgangsniveau. Den Eindruck, viele Arbeitslose wollten gar nicht arbeiten, teilten 1994 gerade 11 Prozent der Ostdeutschen, mittlerweile sind es 40 Prozent.
Es fällt eine gewisse Parallelität zu der Entwicklung der tatsächlichen Arbeitslosigkeit auf: Zu Beginn der Krise, als die Arbeitslosenzahl erstmals die Millionengrenze überschritt, waren die Vorbehalte gegen die Arbeitslosen stark, aber nicht beherrschend. Mit der Abnahme der Arbeitslosigkeit nahmen dann auch die Ressentiments deutlich zu. Erst mit der erneuten Zunahme der Arbeitslosenzahlen 1981/82 gehen die stigmatisierenden Einstellungen zurück. Die Zwei-Millionen-Grenze, die im November 1982 überschritten wurde, scheint eine psychologische Schwelle gebildet zu haben. Fortan wurde Arbeitslosigkeit nicht mehr als Individualproblem gesehen. Vermutlich hing dies mit eigenen Erfahrungen zusammen: Als es nach dem ersten Einbruch zu einer gewissen Erholung kam, manch einer neue Arbeit fand und sogar der Facharbeitermangel zum Thema wurde, erschienen diejenigen, die ohne Job blieben, suspekt. Erst mit dem zweiten Einbruch, in dessen Folge auch viele bislang nicht Betroffene arbeitslos wurden, wichen die Ressentiments einer moderateren Haltung. Für viele war es jetzt wohl nicht mehr zu übersehen, dass Arbeitslosigkeit zum Schicksal werden, außerhalb der Kontrolle des Einzelnen liegen kann.
Ein vergleichbares Bild zeigt sich in den neunziger Jahren. Bei anhaltend hoher Arbeitslosigkeit glaubten noch Mitte des Jahrzehnts weniger als 40 Prozent, dass viele Arbeitslose gar nicht arbeiten wollen. Mit dem Sinken der Arbeitslosenzahlen seit 1998 stiegen die Werte an. Die Umfrage 2001 fand im Januar/Februar statt und korrespondierte mit den niedrigsten Winterarbeitslosenzahlen seit dem Winter 1994/95. Die arbeitsmarktpolitische Debatte wurde erneut vom Facharbeitermangel geprägt, insbesondere durch die Diskussion um die "green card".
Interessant ist, dass die aktuellen Vorschläge der Hartz-Kommission zur Senkung der Zumutbarkeitsgrenze von 63 Prozent der Bevölkerung befürwortet werden. Die hohe Zustimmung zur Verschärfung der Zumutbarkeit erreicht in etwa das Niveau der Zustimmung auf die Frage, ob viele Arbeitslose gar nicht arbeiten wollen. Dies zeigt, dass offensichtlich die Mehrheit der Bevölkerung die Auffassung vertritt, dass mit größerem Druck auf die Arbeitslosen auch die Arbeitslosigkeit abgebaut werden könnte. Dabei zeigen Untersuchungen, dass es für 90 Prozent aller Arbeitslosen wichtig ist, schnell eine neue Beschäftigung zu finden. Die Bewerbungshäufigkeit lag 1999 im Schnitt bei jährlich 29 Bewerbungen pro Arbeitslosen und damit doppelt so hoch wie 1994. Mehr als 87 Prozent aller Arbeitslosen wären bereit, die Branche zu wechseln, 80 Prozent würden einen weiten Arbeitsweg in Kauf nehmen und 70 Prozent eine ungünstige Arbeitszeit sowie weniger interessante Tätigkeiten akzeptieren.
Zusammenfassend sind folgende Bedingungen für ein konjunkturelles Auf und Ab der Missbrauchsdebatte festzuhalten: Anlass für ein Aufflammen der Diskussion bietet in der Regel eine bevorstehende Bundestags- oder wichtige Landtagswahl, in der Arbeitslosigkeit meist ein wichtiges Wahlkampfthema ist. Stagniert oder steigt gar die Rate der Arbeitslosigkeit, ist es für die Regierung "rational", den in jeder Versicherung möglichen Missbrauch offensiv zu thematisieren. In einer Situation, in der nicht nur über die Ursachen der Arbeitslosigkeit, sondern auch über die Erfolg versprechenden Maßnahmen stark unterschiedliche Meinungen bestehen, ist es strategisch klug, dort anzusetzen, wo die Meinungen weniger geteilt sind, auch wenn dies wenig zur Sache (Bekämpfung der Arbeitslosigkeit) tut. Die politische Mitte, um die im Wahlkampf besonders geworben wird, neigt - wie Meinungsumfragen belegen - fast "chronisch" zu der Annahme, mit den sozialen Leistungen werde Missbrauch getrieben. Je mehr in der Öffentlichkeit dieser Eindruck besteht, desto erfolgversprechender ist die Anzettelung einer "Faulheitsdebatte". Die Tatsache, dass die Mehrzahl der Wähler nicht arbeitslos und die Mehrzahl der Beschäftigten auch nicht unmittelbar von Arbeitslosigkeit bedroht ist, erhöht die Erfolgschance weiter. Der Kampagne folgen häufig auch tatsächlich Verschärfungen der Sanktionen, die ihrerseits jedoch nicht notwendig zu einer häufigeren Anwendung von Sanktionen führen. Das ist eher bei günstigerer Arbeitsmarktlage der Fall, in der - wie oben gezeigt wurde - der Tatbestand des Missbrauchs größere Relevanz erlangt.
III. Fazit
Die Leistungen bei Arbeitslosigkeit bzw. ihre Ausgestaltung geraten zunehmend unter Druck, aktuell bis hin zur Forderung, Arbeitslosen- und Sozialhilfe in ein Leistungssystem zu überführen. Zu den regelmäßig angeführten Begründungen für die vollzogenen und vorgeschlagenen Änderungen gehört die Behauptung, die Leistungen würden häufig missbräuchlich in Anspruch genommen. Obwohl Zumutbarkeitskriterien wiederholt verschärft und Sperrzeiten mehrmals verlängert wurden, die Sanktionsregelungen im internationalen Vergleich keineswegs milde sind und der finanzielle Schaden des Leistungsmissbrauchs vergleichsweise marginal ist, fachte Bundeskanzler Schröder erneut eine "Faulheitsdebatte" an. Die Gründe sind insbesondere in vordergründigen politischen Motiven zu sehen. Der politische Wettbewerb begünstigt Konjunkturzyklen der Debatte, die zur politischen Profilierung und nicht zur Problemlösung angefacht wird. Dabei können sowohl offensive Profilierungen beobachtet werden, die Innovations- und Durchsetzungsfähigkeit belegen sollen,
Nach Schätzungen der alten Bundesregierung beträgt die Summe, die durch Sozialleistungsbetrug verloren geht, nur sechs Prozent des Schadens durch Steuerhinterziehung und Subventionsbetrug.
Zudem zielen die "Faulheitsvorwürfe" darauf, das sozialpsychologische Klima zu schaffen, um Leistungseinschränkungen oder auch Zumutbarkeits- oder Sanktionsverschärfungen den Boden zu bereiten. Missbrauchs- oder Faulheitsdebatten dienen hierbei als "mentales Einfallstor", um auch die rechtmäßigen Leistungsempfänger auf diese negativen Anpassungsprozesse einzustimmen, ihr Widerstandspotenzial zu verringern und die politischen Folgewirkungen in Form von Stimmverlusten bei Wahlen zu begrenzen.
Es dürfte deutlich geworden sein, dass die "Faulheits- und Drückebergerdebatten" nicht nur mit dem tatsächlichen, möglichen oder vermeintlichen Fehlverhalten von Arbeitslosen zu tun haben, sondern zu einem guten Teil politischen Kalkülen folgen. Das auffällige Zusammenfallen der Debatten mit dem "schlechten Bild der Arbeitslosen in der öffentlichen Meinung", mit bevorstehenden Wahlen und einer unbefriedigenden Entwicklung der Arbeitslosigkeit geben dem Verdacht Nahrung, dass die Arbeitslosen als Sündenböcke für eine zum Teil verfehlte oder zu zögerliche Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik herhalten müssen. Auch die Verschärfungen der Zumutbarkeitsregelungen korrelierten nicht zufällig überwiegend mit Phasen ansteigender Arbeitslosigkeit (1975, 1982, 1997, aktuell geplant im Konzept der "Hartz-Kommission"). Trotz dieser Verschärfungen erreichte die Sperrzeitenquote bei weitem nicht mehr die Werte der siebziger Jahre. Hauptursache dafür ist vor allem das Missverhältnis von Arbeitslosen und offenen Stellen. Aktuell stehen den über vier Millionen registrierten Arbeitslosen weniger als eine halbe Million gemeldete offene Stellen gegenüber. Mit einer weiteren Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung lässt sich dieses Missverhältnis nicht beseitigen. Millionen Menschen leiden nicht deshalb unter Arbeitslosigkeit, weil sie faul und immobil sind, sondern weil Millionen Arbeitsplätze fehlen. Folge einer weiteren Erhöhung des Drucks auf Arbeitslose wäre unterwertige Beschäftigung, verbunden mit einer Verdrängung der ohnehin am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffenen Geringqualifizierten, wodurch Entmutigung und sozialer Abstieg forciert würden. Was wir brauchen, ist aber keine Politik der Bestrafung und Entmutigung, sondern eine Politik der Befähigung und Ermutigung. Notwendig wäre daher eine "phantasievolle" Verknüpfung von Sozialleistungen und Arbeitseinkommen, z.B. im Sinne von Übergangsarbeitsmärkten,