Einleitung
"Geschlecht: behindert, besonderes Merkmal: Frau"
I. Geschlecht und Behinderung - Zur Verbindung zweier sozialer Strukturkategorien
Geschlecht und Behinderung sind zwei Strukturkategorien, die der Sozialstrukturanalyse als Indikatoren gesellschaftlicher Ungleichheitslagen dienen. Allerdings sind sie durch sehr unterschiedliche Merkmale gekennzeichnet, worauf im Folgenden näher einzugehen ist.
Die Kategorie Geschlecht gilt gemeinhin als "Oberbegriff und Kriterium für die Einteilung der Bevölkerung in Frauen und Männer, in weibliche und männliche Individuen. Sie folgt damit der Einsicht, dass in allen uns bekannten Gesellschaften das Geschlecht (wie auch das Alter) eine mit der Geburt festliegende Dimension sozialer Strukturierung, die das gesamte soziale und kulturelle Leben einer Gesellschaft prägt, sowie ein Bezugspunkt der Zuweisung von sozialem Status ist. Mit der Frauenforschung teilt die Sozialstrukturanalyse die Überzeugung, dass die Universalität der geschlechtlichen Differenzierung nicht auf natürlichen, biologischen Unterschieden beruht; dass vielmehr faktische, angeborene Unterschiede sozial fixiert, mit Bedeutung belegt und zum Ausgangspunkt für eine weitgehende Durchregelung von dann als typisch weiblich oder männlich zu geltenden Verhaltensweisen gemacht werden. Deshalb nennt Helmut Schelsky das Geschlecht eine soziale Superstruktur."
Die Kategorie Geschlecht ist, im Vergleich zur Kategorie Behinderung, vor allem dadurch gekennzeichnet, dass etwa die Hälfte der Gesamtpopulation einer jeweiligen Gesellschaft weiblichen, die andere Hälfte männlichen Geschlechts ist. Mit der Moderne und der bürgerlichen Gesellschaft entwickelte sich eine bis heute wirksame kulturelle Vorstellung von der Ergänzung der Geschlechter zu einem Ganzen, die allerdings ungleich gebrochen ist: Das Männliche wird als das Wesentliche, das Weibliche als, wenn auch notwendige, Ergänzung des Wesentlichen angesehen. "Damit erhalten wir die Struktur von dem Einen und dem Anderen, wobei das Eine zu identifizieren ist, weil es die Grenze zu dem Anderen selbst enthält und das Andere damit hervorbringt."
Während also das Geschlecht eine Kategorie ist, die die Menschheit sozialstrukturell zwei etwa gleich großen Gruppen zuweist, dient die Kategorie Behinderung dazu, eine bestimmte Art der Abweichung von der männlichen bzw. weiblichen Normalität zu definieren und zu klassifizieren. Damit gerät nicht die Hälfte der Gesamtbevölkerung, sondern eine abweichende Minderheit in den Blick, häufig (im normalistischen Sinne) auch soziale Randgruppe genannt. Wie hoch der Anteil dieser Minderheit an der Gesamtbevölkerung ist und welche Kriterien zur Definition dieser Gruppe herangezogen werden, ist mehr oder weniger abhängig von sozialpolitischen Erwägungen und Zwecken. Maßstab für die Klassifizierung eines Individuums als behindert ist dessen nicht erbrachte (an einem fiktiven gesellschaftlichen Durchschnitt gemessene) Leistung. Behinderung als (eine mögliche) Form der Abweichung von der gesellschaftlichen Normalität wird also gemessen an einer Leistungsminderung im Zusammenhang mit gesundheitlichen Schädigungen und/oder intellektuellen Einschränkungen. Aufgrund der herrschenden geschlechterspezifischen Arbeitsteilung orientiert sich die Definition von Behinderung an geschlechterspezifischen Kriterien von Erwerbsarbeit und (nachgeordnet) familialer Reproduktionsarbeit.
Im Vergleich zur Kategorie Geschlecht, welche als eine relativ stabile, sozial gefestigte Strukturkategorie anzusehen ist, ist Behinderung eher eine flexible Strukturkategorie, durch weniger Festigkeit gekennzeichnet. So schreiben die Behindertenpädagogen Ulrich Bleidick und Ursula Hagemeister: "Es gibt keine allgemein anerkannte Definition von Behinderung. Es ist auch nicht erwünscht, dass für alle Zeiten allgemeingültig festgelegt werde, wer als behindert zu gelten hat und wer nicht. Die Tatbestände Behindertsein und Behinderung sind sozial vermittelt: Soziale Normen, Konventionen und Standards bestimmen darüber, wer behindert ist. Der Begriff der Behinderung selbst unterliegt einem handlungsgeleiteten Erkenntnisinteresse. Darum sind alle Aussagen darüber, wer gestört, behindert, beeinträchtigt, geschädigt ist usw., relativ, von gesellschaftlichen Einstellungen und diagnostischen Zuschreibungen abhängig."
Entsprechend dieser Definition wird jeder Behinderungsbegriff mehr oder weniger zweckgebunden definiert und hat ganz bestimmte Folgen für die betroffenen Personengruppen.
Festzustellen ist, dass auch Behinderung und Normalität (wie die Geschlechter) eine Ergänzung miteinander eingehen und eine Struktur von dem Einem und dem Anderen erhalten, wobei das Eine (das Normale) weitgehend nur aus dem heraus begreifbar wird, wie es das Andere (Behinderung) definiert und behandelt.
Interessant ist auf beiden Ebenen, der von Zweigeschlechtlichkeit wie der von Normalität und Behinderung, dass das jeweils Andere (weibliches Geschlecht, Behinderung) zum Teil ausgiebigste wissenschaftliche Bearbeitung erfährt, während das Eine (männliches Geschlecht, Normalität) weitgehend unberührt von systematischen Analysen bleibt. Eine wissenschaftliche Kritik der Männlichkeit kam in den bundesdeutschen Sozialwissenschaften (zum Teil infolge der westdeutschen Frauenbewegung) in den siebziger Jahren nur langsam in Gang;
Eine inhaltliche Verbindung zwischen den Strukturkategorien Geschlecht (weiblich) und Behinderung stellt die Sonderpädagogin Vera Moser in ihrem Artikel "Geschlecht: behindert?" her. Als das historisch Verbindende zwischen weiblichem Geschlecht und Behinderung sieht sie eine biologistische Tendenz, Einschreibungen in den Körper, mit denen beide Gruppen, Frauen und behinderte Menschen in Form von Disziplinierung konfrontiert würden. Eine besondere gesellschaftliche Bedeutung erhalte der Körper im Prozess der Identitätsfindung der Individuen, d.h. in dem Prozess der Herausbildung des Selbst-Bewusstseins in Auseinandersetzung und Abstimmung mit Fremdwahrnehmung und der Entwicklung einer individuellen Einheitlichkeit von Eigenschaften. Der Körper sei als identitätsstiftendes Merkmal anzusehen. In Anlehnung an den französischen Sozialwissenschaftler Michel Foucault, der die Zusammenhänge zwischen Körper und Macht herausgearbeitet hat, "die so genannten Zurichtungen der Körper", entpuppe sich die Erziehung des Körpers als wesentliches Instrument der Erziehung des Menschen, so Vera Moser.
So kommen wir zu einer gewissen Parallelität von weiblichem Geschlecht und Behinderung: Beide verbindet die Zuschreibung des Unvollständigen im Vergleich zur Norm. Beide Unvollständigkeiten werden an den Körper geheftet.
Die sozialwissenschaftlichen Forschungsansätze zu Geschlecht und zu Behinderung verbindet jedoch neben der dargestellten kritischen Analyse der Strukturkategorien Geschlecht und Behinderung etwas Weiteres: Auf beiden Forschungsebenen wird seit den achtziger und neunziger Jahren versucht, diese Strukturkategorien einer systematischen Dekonstruktion zu unterziehen, d.h. nachzuweisen, dass sowohl Geschlecht als auch Behinderung in sich historische, kulturell verfestigte Konstruktionen sind, die grundlegend dekonstruierbar und damit veränderbar seien. Einige der Dekonstruktionsforscherinnen sind dabei v.a. an der Überwindung der Zweigeschlechtlichkeit bzw. der Überwindung der binären Strukturkonstruktion von Normalität und Behinderung interessiert.
II. Die Geschlechterdimension in der allgemeinen Behindertenstatistik
1. Der "männliche Faktor" in der Behindertenstatistik
Die Bevölkerungsstatistik des 20. Jahrhunderts, in deren Rahmen die allgemeine Behindertenstatistik 1906 mit der ersten "Krüppelzählung" ihren Ausgangspunkt nahm, orientiert sich im Allgemeinen wie auch im Besonderen an männlichen Lebensstrukturen, vor allem an Erwerbsarbeit und kriegerischen Auseinandersetzungen. Für die Behindertenstatistik
Zwei der drei großen Volkszählungen des 20. Jahrhunderts in (West-)Deutschland fanden in der Folge des Ersten bzw. des Zweiten Weltkrieges statt: die "Reichsgebrechlichenzählung" im Anschluss an die Personenstandsaufnahme von 1925 und die Zählung der "Körperbehinderten im Bundesgebiet" im Rahmen der Volkszählung 1950. Während die Zählung von 1925 über 672 000 Gebrechliche erfasste (Blinde, Taubstumme, Ertaubte, körperlich Gebrechliche, geistig Gebrechliche), darunter 63,4 % Männer, wurden 1950 mit 1 664 000 mehr als doppelt so viele körperlich und geistig Gebrechliche in der Bundesrepublik gezählt, darunter 86 % Männer. Als Folge von Kriegseinwirkungen, nun beider Weltkriege, wurden 1950 1 121 000 behinderte Männer gezählt, von denen 653 000 eine amtlich anerkannte Kriegsbeschädigung hatten; ihnen gegenüber standen 32 000 Frauen, darunter 22 000 mit amtlich anerkannter Kriegsbeschädigung.
Die Kriegsbeschädigungen machten als Ursache unter den 1950 gezählten behinderten Menschen knapp 70 % aus.
Unabhängig von, aber ggf. auch im Zusammenhang mit den Kriegsbeschädigungen ist als zweiter "männlicher Faktor" in der Behindertenstatistik die Erwerbstätigkeit zu betrachten:
Dem Publikationsorgan des Statistischen Bundesamtes "Wirtschaft und Statistik" sind Daten über die Erwerbsquoten der behinderten Menschen ab dem Untersuchungsjahr 1961 zu entnehmen. So lag die Erwerbsquote der behinderten Männer 1962 mit 65 % genau 20 Prozentpunkte unter der der nichtbehinderten Männer; der größte Teil von ihnen kam damals aus der Gruppe der Kriegsbeschädigten. Im Jahr 1966 betrug die Erwerbsquote der behinderten Männer 57 % (nichtbehinderte Männer 84 %), 1976 noch 42,8 % und 1989 nur noch 32,9 % (nichtbehinderte Männer 63,8 %).
2. Der "weibliche Faktor" in der Behindertenstatistik
Mit der quantitativen Verringerung der Kriegsfolgenprobleme konnte auch die Statistik ihre Schwerpunkte verschieben. Hatte in den Jahren 1957 bis 1962 die entscheidende Frage in den Mikrozensus-Untersuchungen gelautet: "Wer von den Haushaltsmitgliedern ist kriegsbeschädigt oder hat eine sonstige Behinderung?",
Für den "weiblichen Faktor" in der Behindertenstatistik sind folgende Zusammenhänge zentral: Geschlecht und Alter (hohe Lebenserwartung von Frauen) sowie weibliches Geschlecht und gesellschaftliche Arbeit.
Ins Blickfeld der Behindertenstatistik rückten die Frauen Ende der siebziger Jahre, nachdem mit dem Schwerbehindertengesetz von 1974 das Kausalitätsprinzip aufgegeben und das Finalitätsprinzip eingeführt worden war. Der Zusammenhang zwischen weiblichem Geschlecht und Alter wurde in der Behindertenstatistik, die ab 1979 nur noch amtlich anerkannte Schwerbehinderte berücksichtigte, seit 1981 aufmerksam verfolgt; denn es hatte sich "die Zahl der behinderten Frauen im Alter von 65 Jahren und darüber gegenüber 1979 beinahe verdoppelt"
Damit ist der zweite "weibliche Faktor" in der Behindertenstatistik angesprochen: die weibliche Arbeit, die im Wirtschafts- und Sozialsystem des 20. Jahrhunderts für Frauen aus familialer Reproduktionsarbeit/Hausarbeit oder aus einer Kombination von Hausarbeit und Erwerbsarbeit (häufig Teilzeitarbeit) besteht und nicht der männlichen Erwerbsarbeit vergleichbar als Gesamtkomplex entlohnt und gesellschaftlich anerkannt wird. Die Konzentration des Systems der sozialen Sicherung ausschließlich auf die Erwerbsarbeit und ihre Folgen hat zu einer engen, erwerbsarbeitsbezogenen Definition von Schwerbehinderung geführt, was vor allem in dem jahrzehntelang gebräuchlichen Begriff der "Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)" zum Tragen kam. Ebenso werden die Definitionen der Begriffe "Arbeitsunfall" und "Berufskrankheit" auf die Erwerbsarbeit beschränkt. Mögliche Behinderungsursachen im Rahmen der familialen Reproduktionsarbeit von Frauen laufen in der Statistik allgemein unter "Krankheiten" oder sogar unter "sonstige Krankheiten", und der Arbeitsunfall der Hausfrau zählt nicht als solcher im juristischen Sinne; in der Behindertenstatistik rangiert er unter "ferner liefen".
Da auch die Erwerbsquoten der behinderten Frauen erheblich unter denen der behinderten Männer liegen (z.B. 1989 bei 18,6 % gegenüber 32,9 %),
Die Untersuchung der allgemeinen Behindertenstatistik des 20. Jahrhunderts hat die im ersten Kapitel dargelegte Konstruktion der hierarchischen Ordnung zwischen den Geschlechtern auf der historisch-statistischen Ebene bestätigt: Konzentration auf das vermeintliche Allgemeine (Männliche) unter Ausblendung bzw. strikter Vernachlässigung des so genannten Besonderen (Weiblichen).
III. Frauenforschung in der Behindertenpädagogik
Die Geschlechterdimension in der Behindertenpädagogik und -politik bewusst zu machen ist die definierte Aufgabe der Frauenforschung in der Behindertenpädagogik. Neben einer intensiveren Auseinandersetzung mit Problemen der Arbeit behinderter Frauen, welche ansatzweise in der allgemeinen Behindertenstatistik sichtbar wurden
1. Exemplarisches Forschungsfeld: Geschlechterverhältnisse in der Sonderschule - Probleme der Koedukation
Zwischen 4 und 5 % der Schüler/innen eines Jahrgangs besuchen in der Bundesrepublik Deutschland eine Sonderschule, wobei der geschlechterspezifische Anteil an der Sonderschülerschaft mit fast 2/3 Jungen und nur reichlich 1/3 Mädchen auffallend unterschiedlich ist. Der Blick auf die unterschiedlichen Sonderschularten differenziert dieses Bild noch weiter: Die Schulen für Erziehungsschwierige (Verhaltensauffällige) weisen mit 85,5 % den höchsten Jungenanteil auf, gefolgt von den Schulen für Sprachbehinderte (72,2 %) und für Lernbehinderte (62,2 %). An allen anderen Sonderschulen liegt der Jungenanteil bei 56 - 60 %.
In der Bildungsinstitution Schule wird also ein bestimmtes Verhältnis zwischen Geschlecht und Behinderung produziert. Dieses lässt sich, wenn auch nur teilweise, durch die, in Familie und Bildungsinstitutionen vorherrschenden, geschlechterspezifischen Konstellationen der Kindererziehung erklären: Von früh an werden Mädchen und Jungen von Frauen erzogen, zuerst von ihren Müttern, dann von Erzieherinnen im Kindergarten, dann von Grundschul- oder Sonderschullehrerinnen, die beide mindestens zwei Drittel ihrer Berufsgruppen stellen. So sind Jungen, nicht nur in der Familie, sondern auch in der Schule, vor andere Probleme der geschlechterspezifischen Orientierung und Identifikation gestellt als Mädchen. Während sich Mädchen mit dem Problem der Benachteiligung von Frauen auf der Basis der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung und mit der (zwischen Macht und Ohnmacht schwankenden) ambivalenten Position ihrer Mütter und Lehrerinnen in der Erziehung auseinander setzen müssen, um zu einer eigenen Identität zu finden, stehen Jungen einer anderen, massiven Problematik gegenüber: Ihre geschlechterspezifischen Identifikationsfiguren, die Väter, sind über weite Strecken abwesend, für die Söhne nicht greifbar und stehen so als reale Vorbilder nur bedingt zur Verfügung. Ähnlich andere Männer in den direkten Sozialisationsbezügen der Jungen: kaum männliche Erzieher in den Kindergärten und wenige greifbare Lehrer in den ersten Schuljahren. Männer stehen in größerer Zahl erst in der Sekundarstufe des Bildungswesens, vor allem im Fachunterricht, zur Verfügung, also wenn die Jungen bereits ein Alter von mindestens zehn Jahren erreicht haben.
Die Konstruktion von Behinderung und Geschlecht in der Sonderschule wurde bereits Anfang der achtziger Jahre in die wissenschaftliche Debatte eingebracht, vor allem von Barbara Rohr und von Annedore Prengel,
2. Exemplarisches Forschungsfeld: Sexualisierte Gewalt gegen behinderte Mädchen und Frauen
"Geschlecht: behindert, besonderes Merkmal: Frau", mit dieser aufrüttelnden Formulierung hat der vorliegende Beitrag begonnen, mit ihr soll er auch beendet werden. Sexualisierte Gewalt, insbesondere in Form von sexuellem Missbrauch, stellt (vor allem) für Mädchen und Frauen mit (geistiger) Behinderung die Kehrseite der sexuellen Neutralisierung, d.h. der Erziehung zu "sexuellen Neutren", dar. Insbesondere (geistig) behinderte Mädchen werden auch heute noch zu sozialer Anpassung und Unauffälligkeit angehalten, womit auch die Unterdrückung ihrer Sexualität einhergeht. Die, wenn auch verdeckte, eugenische Forderung der Gesellschaft, dass (geistig) behinderte Frauen (ganz im Gegensatz zu nichtbehinderten Frauen) möglichst keine Kinder gebären sollen, hat dazu geführt, dass das gesamte 20. Jahrhundert hindurch (mit einem Höhepunkt im Nationalsozialismus 1933 - 1945) über die Verhinderung der Fortpflanzung behinderter Menschen nachgedacht und verhandelt und Sterilisationen (vor allem an behinderten Frauen) massenhaft durchgeführt wurden. Selbst wenn die Sterilisation an behinderten, nicht einwilligungsfähigen Frauen 1991/92 juristisch so geregelt wurde, dass ihre Durchführung kaum noch möglich sein dürfte, sind viele der heute lebenden jungen und älteren (geistig) behinderten Frauen in der Bundesrepublik Deutschland von den Folgen ihrer Sterilisation betroffen. Diesem Eingriff in die körperliche Integrität der Frauen folgt nur allzu oft (und eben in dieser Konstellation) ein weiterer Übergriff, nämlich der so genannte sexuelle Missbrauch (Machtmissbrauch eines körperlich und/oder intellektuell überlegenen Menschen, meist Mannes, auf sexuellem Wege gegen eine unterlegene Person, meist Frau).
Im Vergleich zu nichtbehinderten Frauen sind aufgrund ihrer (behinderten) Lebensbedingungen (geistig) behinderte Frauen besonders gefährdet, sexuell missbraucht zu werden: Erhöhtes, zum Teil auffälliges Kontaktbedürfnis aufgrund sozialer Isolation, Streben nach sozial angepasstem Verhalten (gemäß der Erziehung zur Anpassung) und ggf. körperliche Unterstützungs- und Pflegebedürftigkeit machen die (geistig) behinderte Frau, insbesondere wenn ihre Sterilisation bekannt ist, zu "Freiwild" für potenzielle Täter des nahen sozialen Umfeldes von Familie und Nachbarschaft bzw. des institutionellen Umfeldes von Wohnheimen.