Queere jüdische Opfer des Holocaust sind bis heute kaum ein Thema in der Historiografie. Das liegt auch daran, dass sie die dominierenden Kategorien verletzen: Fast immer wird der verfolgten Homosexuellen als Nichtjuden gedacht, die jüdischen Opfer gelten implizit immer als heterosexuell. Dass sich diese Kategorien überkreuzen könnten, erweckt Unverständnis und Unbehagen, was auch auf Vorbehalte gegenüber gleichgeschlechtlichem Verhalten in den Konzentrationslagern selbst zurückgeht. Mein Beitrag zeigt, dass wir bei genauerer Suche auch dort queere Spuren finden können, wo Protagonist_innen fast immer in einer Kategorie verortet werden: als Juden, Homosexuelle, Frauen oder Mitglieder einer Organisation. Mehrfache Zugehörigkeiten zu erkennen und gemeinsam zu untersuchen, trägt zu einem besseren Verständnis der Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik bei.
Ich verwende in diesem Beitrag grundsätzlich die Termini "gleichgeschlechtliche sexuelle Aktivitäten" und "queere" Protagonist_innen und folge damit dem Plädoyer von Forscher_innen wie Regina Kunzel, John Howard und anderen, die Binarität von Homo- und Heterosexualität aufzulösen, die in der Realität nicht existiert. Der Begriff "homosexuell" greift oft zu kurz, während das Konzept "queer" in seiner Offenheit der Komplexität gerecht wird, mit der die historischen Protagonist_innen mit ihrer Sexualität umgingen und sie praktizierten und die mit ihrer Identität nicht verbunden sein musste. Ich behalte Begriffe wie "homosexuell", "schwul" oder "lesbisch" aber dort bei, wo sie in der Geschichtsschreibung etabliert sind und/oder als Selbstbeschreibung benutzt werden.
Gleichgeschlechtliche Sexualität in der Lagergesellschaft
Die ersten Studien zu Holocaust und KZs wurden von den Überlebenden geschrieben. In diesen frühen Zeugnissen wurden auch homophobe Muster etabliert, die lange nachwirken sollten. Ein Beispiel ist "Die Todesfabrik", 1945 in der Tschechoslowakei von den Holocaust-Überlebenden Ota Kraus und Erich Kulka publiziert. In einer Passage berichten die Autoren über die Häftlinge mit dem rosa Winkel: "[g]etragen von ‚schwulen Brüdern‘, Menschen, die wegen sexueller Perversion inhaftiert worden sind, Homosexualität. Im Lager hatten sie fantastische Gelegenheit, um so weit wie möglich ihren Einfluss zu erweitern und die maximale Anzahl junger Burschen zu mißbrauchen."
Die Beschreibung entsprach nicht der Wirklichkeit, ist aber symptomatisch für den Umgang mit den Häftlingen, die wegen §175 oder §175a (im Folgenden vereinfacht §175) Strafgesetzbuch verfolgt wurden. Die Männer mit dem rosa Winkel stellten fast immer die untersten Ränge der Lagergesellschaft und gelangten nur selten in eine Machtposition. Der selbstgewählte Zugang zu sexueller Aktivität war in der Regel nur Funktionshäftlingen (Kapos) vorbehalten; manche unterhielten ausbeutende Beziehungen mit abhängigen Häftlingen, die oft sehr jung waren (genannt Pipel). In den Lagern gehörte Gewalt auch unter den Häftlingen zum Alltag, eingeschlossen sexuelle Gewalt. Die Übergänge zwischen sexuellem Tauschhandel, Prostitution, Beziehungen mit Jugendlichen und Kindern und Vergewaltigung waren fließend, für die Beteiligten waren die Unterschiede aber wichtig.
Außenstehende nahmen alle Häftlinge, die mit gleichgeschlechtlicher Sexualität zu tun hatten, tendenziell unterschiedslos mit Abscheu wahr. Deswegen waren Schilderungen wie von Kraus und Kulka, die Männer mit rosa Winkel mit "perversen", vergewaltigenden Kapos gleichsetzten, lange Zeit so wirkmächtig in der Historiografie des Holocaust. So listet die Historikerin Lucy Dawidowicz "Prostituierte, Homosexuelle, Perverse", die in die Lager deportiert wurden, in einer Reihe auf; während die Soziologin Anna Pawełczynska queere Aktivität in Auschwitz als "deeply immoral or deeply demoralizing" und die Menschen, die gleichgeschlechtliche Beziehungen eingingen, als "Päderasten" beschreibt. Bis heute lasen sich unkritisch wiedergegebene Aussagen, die den Geist der Homophobie atmen, in Studien zum Holocaust finden. Erst die Forscher_innen, die die Geschichte der Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit untersuchten, unterschieden zwischen verschiedenen queeren Gruppen von Häftlingen im Lager: den Funktionshäftlingen und deren selbstgewählte Sexualität; deren Partner, fast immer in abhängiger Position; sowie den §175er Häftlingen.
Die gleichgeschlechtliche Sexualität in monosexuellen Lagern wird zudem oft auch als "opportune Homosexualität" bezeichnet. Dieser Begriff lehnt sich an die "situationale Homosexualität" an, ein Konzept, das lange in der Gefängnisforschung benutzt wurde, um diese von einer "echten" Homosexualität zu unterscheiden. Hilfreich sind hier Ausführungen der Sexualitätshistorikerin Regina Kunzel, nach denen jegliche Sexualität, wie alles soziale Handeln, kontextbedingt ist. In diesem Lichte sollte auch die gleichgeschlechtliche Sexualität im Gefängnis oder im KZ verstanden werden.
Wie aber lässt sich der Hass gegenüber gleichgeschlechtlichem Verlangen in den Lagern erklären? Feministische Forscherinnen wie Ulrike Janz und Insa Eschebach konnten in ihrer Analyse der Homophobie der Lagergesellschaft herausarbeiten, dass diese als Abgrenzungsmechanismus in der chaotischen, brutalen Welt der Lager verstanden werden kann. Homophobie traf Frauen dabei oft härter als Männer. Am Beispiel der Gulag-Gesellschaft haben Historiker_innen wie Dan Healey und andere gezeigt, dass Homophobie auch in anderen Lager-Kontexten produziert wird.
In Kämpfen von Häftlingen um Machpositionen im Lager wurden gleichgeschlechtliche Aktivitäten mitunter genutzt, um Kontrahenten zu diskreditieren, wie Nikolaus Wachsmann in seiner differenzierten Studie zur KZ-Gesellschaft zeigen konnte. Manchmal wurden politische Häftlinge für §175er Häftlinge auf Transporten in besonders tödliche Lager wie Nordhausen-Dora ausgetauscht. Der Publizist Eugen Kogon begründet diesen Mechanismus damit, dass "das Lager immer die verständliche Tendenz hatte, weniger wichtige und wertvolle oder als nicht wertvoll angesehene Teile abzuschieben". Die Lagergesellschaft hierarchisierte und stellte die "Anderen" her, um den jeweils eigenen Wert zu betonen. Dieser Punkt verdeutlicht, dass die Häftlingsgesellschaft eben eine wirkliche Gesellschaft war und nicht, so Hannah Arendt oder Wolfgang Sofsky, eine gebrochene, atomisierte Masse.
Geschichte der Homosexuellenverfolgung
Dass es gelang, neben der erdrückenden Homophobie ein anderes historiografisches Narrativ zu etablieren, verdanken wir der homosexuellen Emanzipationsbewegung. Denn bis zu den 1970er Jahren war die Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit für die Geschichtswissenschaft kein Thema. Das änderte sich 1972 mit der Publikation "Die Männer mit dem Rosa Winkel" von Hans Neumann unter dem Pseudonym Heinz Heger, in dem die Erlebnisse des wegen Homosexualität verfolgten und im KZ inhaftierten Österreichers Josef Kohout verarbeitet wurden. Hegers Buch ist bis heute das bekannteste, was auch an dem Zeitpunkt der Veröffentlichung lag: Das fesselnde Zeugnis erschien kurz nach der Entkriminalisierung der Homosexualität in Deutschland und Österreich, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und in einem Theaterstück, später auch als gleichnamiger Film umgesetzt ("Bent").
1976 begann der Soziologe Rüdiger Lautmann mit Forschungen zum Thema. Seine Arbeiten bleiben bis heute richtungsweisend, neben Forschungen von Richard Plant, Geoffrey Giles, Günter Grau, Andreas Pretzel, Lutz van Dijk, Albert Knoll, Jörg Hutter, Alexander Zinn und anderen. Die Forschung konzentrierte sich zunächst darauf, die Verfolgung zu erfassen; viele Studien waren regional oder biografisch angelegt, wiesen auf beträchtliche regionale Unterschiede hin sowie auf die Bedeutung der Denunziation. Nicht alle queeren Protagonist_innen, auf die die Gestapo aufmerksam wurden, wurden automatisch verhaftet; gerade das soziale Kapital, wozu auch geschlechtskonformes Verhalten des Opfers gehörte, beeinflusste, ob sie von ihrer Umgebung toleriert und gedeckt wurden. Geschätzt ein Viertel der queeren Männer, 78.000, wurden bis 1940 ermittelt, 53.000 nach §175 und §175a zwischen 1933 und 1945 verurteilt und bis zu 15.000 in die Konzentrationslager verschleppt.
Die Lage der queeren Frauen in der NS-Zeit ist im Vergleich zu den Männern unterbelichtet, zudem sind die Ergebnisse innerhalb der kleinen Community der queeren Historiker_innen umstritten. So lehnt es beispielsweise Alexander Zinn ab, davon auszugehen, dass während des Nationalsozialismus Frauen als lesbisch verfolgt worden sind. Argumentiert wird, dass §175 im Deutschen Reich nur Männer betraf; entsprechende Berichte über die Inhaftierung von Frauen in Konzentrationslagern aufgrund ihrer lesbischen Veranlagung ließen sich nicht belegen. Der Historiker Jens Dobler hält entgegen: "Wenn wir die Maßnahmen zur Unterbindung, Unterdrückung und Einschüchterung von Lesben betrachten und noch dazu die generalpräventive Bedeutung des Paragrafen 175 sehen, die sich immer auch auf weibliche Homosexualität erstreckte, kann man zu keinem anderen Ergebnis kommen, als dass Lesben ebenso Verfolgtengruppe waren wie Schwule." Die bisherige Forschung fand etwa ein Dutzend Fälle von Frauen, bei "deren Konzentrationslagerhaft das Lesbischsein eine ursächliche Rolle gespielt haben könnte". Konsens herrscht im Übrigen darüber, dass Frauen wegen gleichgeschlechtlicher Aktivitäten seltener und anders verfolgt worden sind als Männer. Nachgewiesen sind Fälle, in denen queere Frauen offiziell aus anderen Gründen verfolgt wurden (Sex mit Abhängigen, Missbrauch, Erregung öffentlichen Ärgernisses, Prostitution, als "asozial"). Zudem spielte das repressive Klima für Frauen im Allgemeinen wie für queere Frauen im Besonderen eine Rolle.
Die Verfolgung verlief bei Männern wie bei Frauen sehr oft intersektional: Gleichgeschlechtliche Sexualität war in der Regel nicht der einzige Faktor. Allerdings schlug sich diese bei Männern anders als bei Frauen in den Akten nieder. In Lager inhaftierte Frauen wurden zudem nicht mit dem rosa Winkel gekennzeichnet; es gab keine spezielle Haftkategorie für als lesbisch verfolgte Frauen, was die Suche nach ihren Spuren sehr schwierig macht, wie die Historikerin Claudia Schoppmann festhält.
Die häufige Auslassung der anderen Verhaftungsumstände bei Männern könnte, wie ich vermute, eine geschichtspolitische Funktion haben: die vorgestellte Schicksalsgemeinschaft der männlichen §175-Opfer. Patriarchale Strukturen in der Geschichtswissenschaft tragen dazu bei, die Forschung zu queeren Frauen in Nationalsozialismus und Holocaust zu marginalisieren. Für die lesbischen Opfer bedeutet das, dass bis heute um ihr Gedenken gekämpft wird.
Queer und jüdisch
Sowohl für queere Männer als auch Frauen wurde eine Verfolgung wahrscheinlicher, wenn sie auch jüdisch waren beziehungsweise so kategorisiert wurden. Ein bekannter Fall ist Elsa Conrad, eine Betreiberin von einigen bekannten lesbischen Berliner Bars, die 1935 verhaftet wurde und im KZ Moringen inhaftiert war. Claudia Schoppmann zeigt, wie Conrads sexuelle Orientierung zusammen mit ihrer "nichtarischen" Herkunft für die Haft ausschlaggebend war. Die Historikerin Kim Wünschmann beschreibt, wie aus Conrad "Die Jüdin Conrad" wurde, behauptet aber, Conrad hätte nicht als lesbisch verfolgt werden können, da Frauen nicht unter §175 fielen. So wird Conrad von Schoppmann innerhalb beider Identitätskategorien verortet, während die lesbische Identität von Wünschmann als nicht so wichtig erachtet wird. Conrad selbst, im Exil im kenyanischen Nairobi angekommen, legte Wert darauf, sich nicht als Jüdin zu definieren.
Bei der Verfolgung queerer Männer werden die Kategorien "queer" und "Jude" von der Historiografie nochmals anders verhandelt. Die Historiker_innen, die zur Verfolgung der homosexuellen Männer forschen, schreiben kaum etwas zu jüdischen Männern, die wegen Homosexualität verfolgt wurden; sie gehen davon aus, dass der Verhaftungsgrund nach §175 ausschlaggebend war. Lediglich der Historiker und Archivar an der KZ-Gedenkstätte Dachau Albert Knoll schreibt in seiner Studie zu homosexuellen Häftlingen in frühen Konzentrationslagern, dass das Verfolgungsmotiv Homosexualität bis 1938 im Vordergrund gestanden hätte, "die jüdische Identität kam erschwerend hinzu". Hingegen weisen Holocausthistoriker_innen wie Robert Gellately, Saul Friedländer oder Kim Wünschmann darauf hin, dass die Gestapo mit Vorliebe jüdische Homosexuelle verfolgte, und dass, wenn diese in ein KZ eingewiesen wurden, ihre Überlebenschancen noch geringer waren als die der "einfachen" Homosexuellen. Von Seiten der queeren Historiker nehmen beide Identitätskategorien in den Blick nur eine Ausstellung des Schwulen Museums und eine Untersuchung des tschechischen Historikers Jan Seidl über das Schicksal des queeren Brünner Beamten Willi Bondi, der im Sommer 1941 nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde.
Die herausragende Rolle der jüdischen Sozialarbeiterinnen im Holocaust ist ein Thema, das dank feministischer Historikerinnen entdeckt worden ist. Gudrun Maierhof fand heraus, dass manche der Frauen in der Reichsvereinigung der deutschen Juden lebenslange Partnerinnen waren, zum Beispiel Hannah Karminski, eine Funktionärin der Fürsorgeabteilung, und Paula Fürst aus der Schulabteilung. Die Frauen lebten zusammen, wurden aber nicht zusammen deportiert, weil sie nicht verheiratet waren. Nachdem Fürst im Juni 1942 vermutlich nach Minsk verschleppt wurde, blieb Karminski untröstlich zurück, bis sie einige Monate später selbst in Auschwitz ermordet wurde. Die Zusammengehörigkeit als Familie, zusammen deportiert zu werden, betonten Holocaustopfer bis zuletzt als das, was ihnen am wichtigsten war. Martha Mosse, eine Kollegin Karminskis und Fürsts, die die die Wohnungsberatungsstelle geleitet hatte, wurde von ihrer nichtjüdischen Partnerin getrennt; wären sie verheiratet gewesen, wäre sie geschützt gewesen. Mosse überlebte das Ghetto, wurde aber nach dem Krieg von Überlebenden beschuldigt, mit der Gestapo zusammengearbeitet zu haben. Beate Meyer und Javier Samper Vendrell konnten Hinweise darauf finden, dass Mosse als queere Frau ausgesucht wurde, um die Kollaborationsvorwürfe zu äußern, anstatt ihre männlichen Kollegen anzuklagen.
In Theresienstadt schlug queeren Frauen die gleiche Abscheu wie in anderen KZs entgegen. Die Überlebende und Theresienstadt-Dokumentarin Ruth Bondy schrieb zwar: "[L]esbian relationships were extremely rare in the ghetto; most of the young women of my age, including me, had been brought up in puritanical homes and did not even know what the word lesbian meant," verschwieg aber, dass sie als Historikerin eine entscheidende Rolle eingenommen hatte, queere Frauen aus der Erinnerung zu tilgen. In ihrer Edition des Tagebuchs von Gonda Redlich, dem Leiter der Jugendfürsorge, entfernte Bondy alle Erwähnungen von Liebe zwischen Frauen.
Das wohl bekannteste Frauenpaar des Holocaust sind "Aimée" und "Jaguar". Erica Fischer erforschte die Liebesgeschichte zwischen der nichtjüdischen Hausfrau Lilly Wust und Felice Schragenheim, einer illegal lebenden Jüdin, die Wust versteckte, die aber schließlich entdeckt, deportiert und ermordet wurde. Nach der Verfilmung von Max Färberböck erzählte eine Freundin Felice Schragenheims eine andere Version der Geschichte. Katharina Sperber griff dies auf, hinterfragte das Narrativ der romantischen Liebe, wies auf die absolute Abhängigkeit hin, in der Schragenheim lebte, und gab den Verdacht wieder, dass Wust ihre Geliebte womöglich selbst denunzierte. Sie tat Schragenheims queere Sexualität als dem Krieg und den eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten geschuldete, wenig aussagekräftige Gefälligkeitsbeziehung ab. Einen ähnlichen Fall eines (älteren) Frauenpaars in Hamburg untersuchte Beate Meyer. Auch hier geht es um Liebe und Abhängigkeit. Allerdings hinterfragt Meyer die Validität der Queerness der beiden Frauen nicht, sondern zeigt auf, wie diese die Auseinandersetzung mit der Gestapo beeinflusste.
Die weitgehende Unsichtbarkeit queerer jüdischer Holocaustopfer hat auch damit zu tun, dass sich Überlebende selten zu ihrem queeren Begehren oder ihrer queeren Identität äußerten. Auch wenn Oral Histories von Holocaustopfer zu den am besten dokumentieren Sammlungen solcher Zeugnisse gehören, enthalten sie meines Wissens nach keine Interviews, in denen die Überlebenden über eigenes queeres Begehren oder Identität berichten würden. Dabei wurden auch queere Menschen interviewt, aber ich gehe davon aus, dass die etablierten homophoben Rahmenmuster die Formulierung der eigenen queeren Erfahrung unmöglich machten. Immerhin drei jüdische Holocaustüberlebende, die auch über ihr queeres Begehren berichteten, veröffentlichten ihre Erinnerungen; darunter Gad Beck, der queere jüdische Widerstandskämpfer, der fröhlich über seine sexuellen Eroberungen plaudert. Becks Widerstandskollege, Jizchak Schwersenz, im Buch geoutet, drohte Becks Verlag mit einer Klage, woraufhin in zweiter Auflage Stellen geändert wurden.
Schlussfolgerung
Während sich für manche lang marginalisierte Themen in der Geschichtsschreibung des Holocaust und der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, wie beispielsweise sexuelle Gewalt oder "asoziale" Häftlinge, mittlerweile ein größeres Bewusstsein entwickelt hat, ist dies für queere Perspektiven immer noch wenig ausgeprägt. Manche Historiker_innen wissen nicht einmal, dass das Thema existiert. Diese Blindheit liegt auch an der lang anhaltenden Homophobie, die bereits in der Lagergesellschaft entstand, und die ein Bewältigungsmechanismus war, der es ermöglichte, einen "Anderen" zu konstruieren. Die gelebte sexuelle Realität beeinflusste die entstandenen homophoben Muster dabei kaum, die wiederum die Historiografie bis heute prägen.
Die Verfolgung von queeren Menschen, insbesondere Männern, ist inzwischen recht gut erforscht. Allerdings konzentriert sich diese fast ausschließlich auf den Verfolgungsgrund der Sexualität, vermutlich um der lange stigmatisierten Gruppe Ansehen zu verleihen. Dies führt leider auch zu einem politisierten Wettbewerb der Opfergruppen, in dem die Verfolgung queerer Frauen oft abgestritten wird. Das ist nicht nur für die Anerkennung der lesbischen Opfer bedauerlich, sondern verhindert auch weitere Erkenntnisse über die Intersektionalität der Verfolgung, das heißt der Überschneidung von Verfolgungsgründen, die sich bei den verfolgten Frauen besonders gut nachvollziehen lassen. Die weitgehende Nicht-Thematisierung von queeren jüdischen Opfern tut ihr Übriges, um diese Menschen entweder unsichtbar zu machen oder ihnen einen Teil ihrer Identität abzusprechen.
Die Geschichte der Sexualität ist ein Feld, in dem wir ungemein viel über eine Gesellschaft, ihre Kultur, ihre Werte und Logiken lernen können. Das Unbehagen gegenüber und das Verschweigen queerer Sexualität nicht nur in der Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus und des Holocaust zeigen, wie normativ und voller Vorurteile die Geschichte queerer Menschen (nicht) geschrieben wird.