Je weiter wir uns zeitlich vom Jahr 1968 entfernen, desto größer wird der Rummel um die Jahrestage. Zum 50. Jubiläum 2018 erschienen stapelweise neue und neu aufgelegte Bücher; Presse und Fernsehen begannen schon im Dezember 2017 mit Sondersendungen und Berichten zum Thema. Damit setzt sich der Trend der vorangegangenen runden Jahrestage 1988, 1998 und 2008 fort. Immer stärker schnurrt "Achtundsechzig" auf eine Chiffre zusammen, in der ganz unterschiedliche historische Entwicklungen (wie Jugendprotest, sexuelle Revolution, Aufarbeitung der NS-Vergangenheit oder gar die Umweltbewegung) mutwillig zusammengeklammert werden und ihren Ursprungsmythos finden. Immer stärker wird in den Medien auch das Jahr 1968, und insbesondere der Mai, nach französischem Vorbild als Kernphase der Aufbruchsbewegung der 1960er Jahre erinnert. Dabei begann die Hochphase der westdeutschen Proteste schon im Juni 1967 mit der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg beim West-Berliner Schahbesuch.
Im Jubiläumstrubel 2018 kommt hinzu, dass "Achtundsechzig" und die 68er von der neu erstarkten politischen Rechten als Feindbild aufpoliert wurden. Der stellvertretende AfD-Chef Jörg Meuthen sagte der "links-rot-grün verseuchten 68er-Denke" den Kampf an,
Die heroische Erzählung als Problem
Schon in den 1960er Jahren schnitzten sich die Massenmedien die Ikonen von "Achtundsechzig" so, wie es ihre Arbeitsbedingungen und Genres vorgaben. Der öffentliche Blick auf die Proteste verengte sich 1967 schnell auf wenige Orte und Personen: auf das West-Berlin des Kalten Krieges, das Frankfurt der Frankfurter Schule, auf die Kommune 1, das Büro des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) am Kurfürstendamm, auf Rudi Dutschke und Horst Mahler. Der SDS mit seiner gezielten Strategie provokativer und subversiver Aktionen erreichte ungleich mehr Publizität als andere Studentenverbände, die an traditionellen Resolutionen und Gastredner-Veranstaltungen festhielten.
Mithin fand schon in den zeitgenössischen Medienberichten eine Verengung der Aufmerksamkeit statt. Es etablierte sich ein Tunnelblick auf Westberlin und Frankfurt, die Universitäten, junge männliche Eliten und die radikale Linke (sprich den SDS). Wenn es fernab der Großstädte, außerhalb des SDS und abseits der Vorzeigekommunen brodelte, so wurde dies öffentlich nicht entsprechend gespiegelt. In den folgenden fünf Jahrzehnten setzte sich der Trend fort.
Der so entstandenen klassischen Erzählung folgte die Zeitgeschichtsschreibung. Getragen von Zeitzeugen, die ehemals selbst Aktivisten gewesen waren, schrieben Politologen und Historiker eine mal mehr, mal weniger kritische Geschichte von "Achtundsechzig", in der männliche Studenten zu Standartenträgern des Wandels wurden, Auseinandersetzungen in Hörsälen und der Ideenwettstreit der Linken im Mittelpunkt standen.
Denn die klassische Erzählung von "Achtundsechzig" übergeht große Bevölkerungsgruppen: die Frauen, die Älteren und Alten, die weniger Gebildeten, die Unterschichten, die kleinstädtische und ländliche Bevölkerung. Nicht zum ersten Mal spiegelt sich damit in der Forschung eine unbewusste Konzentration der Historiker auf diejenigen, die ihnen selbst ähneln: auf Bildungsbürger, Männer, Universitäten und die urbanen Eliten. Wie diese Bindung an das Bildungsbürgertum dazu verführen kann, die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Zäsuren zu verkennen, zeigt beispielsweise die Deutungsgeschichte des Kriegsausbruchs 1914. Jahrzehntelang war unsere Vorstellung vom Blick auf die akademische männliche Jugend geprägt, über deren enthusiastische Kriegsbegeisterung die Tagespresse damals wortreich geschwärmt hatte. Die Beschwörung des "Augusterlebnisses" der Freiwilligen und der "Ideen von 1914" entpuppte sich erst in den 1990er Jahren als irreführend, als neue Quellen hinzugezogen wurden, die die ganz andere, abwartend-skeptische Reaktion der Dörfler und Arbeiter auf den Beginn des Weltkriegs erschlossen.
Gesellschaftsgeschichte und Generationengeschichte
Mein Plädoyer für eine "gesellschaftsgeschichtliche" Methode bezieht sich nicht auf Hans-Ulrich Wehlers Totalperspektive, die Strukturen und Prozesse in Wirtschaft, sozialer Ungleichheit, politischer Herrschaft und institutionalisierter Kultur problemorientiert analysiert.
In der deutschen Zeitgeschichtsschreibung wirkt jedoch in besonderer Weise Karl Mannheims Konzept der politischen Generationen aus dem Jahr 1928 nach. Häufig erkennen deutsche Historiker in den Unruhen der 1960er Jahre ein geistiges Duell politischer Generationen: Die 68er hätten demzufolge ihre Vorgängergenerationen, die "Wilhelminer" und die "45er", herausgefordert. Die 45er, um 1968 Mitte dreißig bis fünfzig Jahre alt, hätten das nationalsozialistische Deutschland nur als Kinder und Teenager erlebt und seien als junge, unbelastete Erwachsene rasch in verantwortliche Positionen in Politik, Medien und Universitäten aufgerückt. Das Kriegsende 1945 sei zum Wendepunkt ihres Lebens geworden, das viele von ihnen fortan der Westernisierung und inneren Demokratisierung der Bundesrepublik gewidmet hätten. Zu dieser oft auch "skeptische Generation", "Flakhelfergeneration" oder "HJ-Generation" genannten Gruppe werden beispielsweise Helmut Kohl, Rudolf Augstein, Ralf Dahrendorf oder Jürgen Habermas gerechnet. Manche Historiker feiern die 45er, und eben nicht die studentischen 68er, als Vorreiter einer Liberalisierung Westdeutschlands.
Denn "Achtundsechzig" als Kampf zwischen politischen Generationen zu begreifen, heißt, sich nur männlichen Eliten zu widmen. Der erz-bildungsbürgerlichen Herkunft des Denkmusters der politischen Generation ist nicht zu entkommen. Bei Mannheim geht es um Männer, die an der Front oder in Jugendverbänden politisch sozialisiert worden sind; um Bildungsbürger, die einen politischen Gestaltungswillen in öffentlicher Auseinandersetzung gegen andere durchsetzen wollen. Sich als Angehöriger einer politischen Generation darzustellen, ist deshalb bis heute ein spezifisch männliches Unterfangen. Die Lebenserfahrungen und -ziele von Frauen sowie private Auseinandersetzungen passen nicht in dieses Schema.
Der Bezug auf Mannheims Konzept verleitet zudem dazu, die nachträglich durch den Prozess der "Generationsrede" gebildete 68er-Generation in die Ereignisse der 1960er Jahre hineinzulesen. Denn erst durch ihre nachholende Erzählhandlung in den Medien konstituierten sich die 68er seit den späten 1970er Jahren als eine Generation.
Um die Geschichte von "Achtundsechzig" jenseits der heroischen Generationserzählung zu schreiben, gilt es daher, dem Deutungsmuster der "politischen Generationen" zu entsagen. Zudem sollte die Vorannahme, dass es sich bei den damaligen Unruhen im Kern um einen Konflikt zwischen Alt und Jung gehandelt habe, kritisch überprüft werden. Auch muss durchgehend zwischen familiären Generationen (Großeltern, Eltern, Kindern) und Alterskohorten in der Bevölkerung unterschieden werden. Nicht zuletzt gilt es, die Rolle von Frauen, unter- und kleinbürgerlichen Protagonisten, aber auch Älteren und Alten sowie Land- und Kleinstadtbewohnern zu beleuchten. Denn einerseits finden sich auch unter ihnen Akteure des Aufbruchs. Andererseits erlaubt eine bessere Kenntnis der Haltungen in diesen Gruppen es, die von den 68ern eingegangenen sozialen Allianzen nachzuzeichnen und so zu verstehen, warum sich manche Leitideen der Proteste seit den 1970er Jahren vergleichsweise schnell in der Gesellschaft durchsetzen konnten.
Andere Quellen und ein "anderes Achtundsechzig"
Zahlreiche langfristig wichtige lebensweltliche Veränderungen nahmen in den 1960er Jahren in privaten oder semi-privaten Zusammenhängen ihren Ausgang – so etwa in Frauengruppen, Familien, Schulen oder Kindergärten. Zur Untersuchung dieser Kontexte braucht es Quellen jenseits der klassischen Bestände in staatlichen Archiven und Universitätsbibliotheken, da die routinemäßig ausgewerteten Ministerialakten, Presseartikel, Parlamentsdebatten, Romane oder Autobiografien vor allem Debatten zwischen überwiegend männlichen Bildungsbürgern wiedergeben. Gerade für die Zeitgeschichte ist diesem Dilemma relativ leicht zu entkommen. Es bieten sich einerseits zeitgenössisch forschungsproduzierte Daten der Sozialwissenschaften, Psychologie oder Ethnologie an. Dazu gehören etwa Umfragen, auf Tonband konservierte oder transkribierte Gespräche und statistisch aufbereitete Datenbasen.
Meine Studie zum "anderen Achtundsechzig" stützt sich wesentlich auf solche Quellen aus dem Bonner Raum. Neben der Sekundärauswertung einer 2005/06 entstandenen Zeitzeugenbefragung des Bonner Stadtmuseums zum Thema "Achtundsechzig" wurde vor allem der Bestand der "Bonner Längsschnittstudie des Alters" (BOLSA) genutzt. Dies war die erste deutsche gerontologische Längsschnittstudie und fand am psychologischen Institut der Bonner Universität statt. 222 alte Leute reisten seit 1965 in regelmäßigen Abständen aus dem Rheinland, Ruhrgebiet und Rhein-Main-Gebiet nach Bonn, um sich interviewen zu lassen. Sie waren kleine Angestellte und Arbeiter, Kaufleute, Handwerker und Hausfrauen. Das von den Professoren Hans Thomae und Ursula Lehr geleitete Forschungsprojekt zielte auf Erkenntnisse über Veränderungen der menschlichen Persönlichkeit im Alter.
Ohne die Ergebnisse meiner Untersuchung hier vollständig darlegen zu können, wurden mit diesen Quellen doch die Konturen eines deutlich anderen Bildes von "Achtundsechzig" erkennbar. Zunächst bestätigte sich, dass die späten 1960er Jahre auch im Bonner Raum, also in der Provinz, politische Unruhen auslösten, die die sozialen Verhältnisse in Bewegung brachten. An den Protestaktionen waren neben der radikalen studentischen Linken und dem SDS, der in den lokalen Medien die größte Resonanz erfuhr, auch zahlenmäßig größere reformerische und liberale, ja sogar manche konservative Gruppen beteiligt. Außerdem hatte seit 1968 eine sehr aktive Frauengruppe (der Bonner "Arbeitskreis Emanzipation") bestanden. Diese Frauen hatten sich vom Bonner SDS abgespalten, einen Lektürezirkel gegründet, Flugblätter verteilt, Schülerinnen mobilisiert, Wahlkampfveranstaltungen besucht und Vorlesungen von frauenfeindlichen Professoren gesprengt. Sie hatten sogar eine landesweite Debatte über die Diskriminierung von Mädchen in den Schullehrplänen losgetreten. Trotzdem war der Arbeitskreis gänzlich in Vergessenheit geraten. Ein lokalhistorisches Projekt des Stadtmuseums zum 40. Jahrestag von "Achtundsechzig" erwähnte die Frauengruppe weder in der Ausstellung noch in der dazugehörigen Begleitpublikation. Keine der Beteiligten war in dem Interviewprojekt mit 68ern aus dem Jahr 2005/06 berücksichtigt worden. Damit waren sowohl die antipatriarchalische als auch die reformerische Ausrichtung der Bonner Geschehnisse im historischen Gedächtnis ausradiert worden.
Dagegen war nachträglich eine starke Aufwertung des Topos vom Vater-Sohn-Konflikt erfolgt. Denn der bekannteste Bonner SDS-Aktivist, Hannes Heer (später Kopf der "Wehrmachtsausstellung" zu den Verbrechen deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg), hatte sich mit seinem Vater wegen dessen NSDAP-Mitgliedschaft überworfen – und dies immer wieder in Presse und Fernsehen kommentiert. Heer gehörte zu einer Handvoll atypischer Einzelfälle. Nur zwei von 22 befragten Bonner 68ern lebten den offenen Konflikt mit ihren Eltern. Im Regelfall hatten studentische Aktivisten die NS-Vergangenheit zusammen mit ihren Eltern beschwiegen, oder aber sie waren bereits im Elternhaus sozialistisch oder sozialdemokratisch sozialisiert worden. Nicht zwei, sondern drei familiäre Generationen lebten miteinander, und die mittlere Generation der Eltern vermittelte häufig zwischen Jugend und Großeltern. Diese Ergebnisse decken sich mit zeitgenössischen Meinungsumfragen, die damals ein vergleichsweise gutes Vertrauensverhältnis und hohe Werteübereinstimmungen zwischen Eltern und Jugendlichen bezeugten, wie auch mit den Ergebnissen großer Oral-history-Projekte, die die Dominanz des privaten Beschweigens und Verniedlichens herausarbeiteten.
Diese Resultate säen Zweifel am gängigen Argumentationsmuster, dass die 68er-Rebellen gegen ihre Nazi-Eltern revoltiert hätten.