Einleitung
Wie eine "self-fulfilling prophecy" scheint sich die Kritik an der UNO und ihrer mangelnden Effektivität mit dem Angriff auf Bagdad bewahrheitet zu haben. Da die US-Administration unter allen Umständen zur militärischen Beseitigung des Regimes in Bagdad entschlossen war, worüber sie nie einen Zweifel hat aufkommen lassen, hatte der UN-Sicherheitsrat ohnehin nur die Chance der Verzögerung, aber nie der Verhinderung dieses einseitigen Krieges. Nach dieser Niederlage wird umso deutlicher, dass der Sicherheitsrat nur deswegen von den USA so lange als Forum und Bühne des Ringens um eine ermächtigende Resolution benutzt bzw. geduldet wurde, um ihre relative Isolation in der Kriegsfrage zu durchbrechen und die Legitimation für ihr einseitiges Vorgehen zu erweitern. Sie erreichte allerdings das Gegenteil: Je mehr der Sicherheitsrat zum Forum der Berichte der Inspektoren wurde, je mehr die verschiedenen Resolutionsentwürfe die Beratungen verlängerten und die USA den Druck auf die Mitglieder des Sicherheitsrats erhöhten, desto einsamer wurde ihre Position der absoluten Kriegslösung.
Hauptziel und -funktion des UN-Sicherheitsrates ist die Sicherung das Friedens, was ihm trotz Veto nicht gelang. In der Interpretation der US-Administration allerdings versäumte er seine Aufgabe gerade dadurch, dass er den Krieg nicht legitimierte, der in ihrer paradoxen Logik der alleinige Garant eines zukünftigen Friedens im Mittleren Osten sein soll. Von welcher Seite man den Sicherheitsrat auch betrachtet, von dem Standpunkt einer friedlichen und politischen oder einer militärischen Lösung des Irakkonfliktes, er hat im Ergebnis in jedem Fall versagt. US-Präsident George W. Bush und Außenminister Colin Powell hatten der UNO für diesen Fall wiederholt mit ihrer Bedeutungslosigkeit gedroht und damit die US-amerikanische Absicht der weitgehenden Trennung und Unabhängigkeit ihres politischen Handelns von multilateralen Bindungen und Beschränkungen unterstrichen. Nun stellt sich definitiv die Frage, ob damit das endgültige Urteil über die UNO und ihre Hauptinstitutionen gesprochen worden ist und sie das gleiche Schicksal ereilt wie seinerzeit den Völkerbund - allerdings in der pikanten Variante, dass in den zwanziger Jahren die faschistischen Achsenmächte Spanien, Italien, Japan und Deutschland Schritt für Schritt das kollektive Sicherheitssystem bis zum Kollaps unterminierten, nun aber die einstigen antifaschistischen Alliierten USA und Großbritannien dafür die Verantwortung tragen. Ist der Widerstand des "alten Europas" vergeblich gewesen, und hat es sich mit dem Zusammenbruch des UNO-Systems in Zukunft abzufinden?
I. Die UNO am Beginn des Irakkonfliktes
Wir müssen zu dem Ausgangspunkt des gegenwärtigen Konfliktes zurückgehen, um diese Frage beantworten zu können. Damals im Sommer 1990, als der Irak Kuwait überfiel und annektieren wollte, schien die Welt der UNO noch in Ordnung. Der Sicherheitsrat reagierte sofort. Er verurteilte die irakische Invasion mit seiner Resolution 660 am 2. August 1990, stellte nach Art. 39 UNO-Charta eine Verletzung des internationalen Friedens fest, verlangte unter Berufung auf Art. 40 UNO-Charta den sofortigen Rückzug der irakischen Truppen aus Kuwait und forderte beide Staaten zur friedlichen Beilegung ihrer Streitigkeiten auf. Als der Irak dieser Forderung nicht nachkam, griff der Sicherheitsrat am 6. August 1990 zum nächstschärferen Mittel und verhängte mit der Resolution 661 (1990) unter Berufung auf Art. 41 UNO-Charta ein totales Wirtschaftsembargo gegen den Irak, um ihn zum Rückzug seiner Truppen und zur Respektierung der Souveränität Kuwaits zu zwingen. Wenig später verfügte der Sicherheitsrat mit seiner Resolution 665 (1990) sogar die Durchsetzung des Embargos mit militärischen Mitteln der Marine, wobei man darüber hinweg sah, ob diese Maßnahme nicht eventuell schon als militärische Sanktion in den Rahmen des Art. 42 UNO-Charta gehörte.
Von diesem Embargo waren praktisch nur medizinische Artikel ausgenommen sowie Lebensmittel, wenn aus humanitären Gründen erforderlich. Darüber hatte ein Sanktionskomitee zu entscheiden, welches zur Überwachung des Embargos eingesetzt worden war und noch heute faktisch über die Versorgung der irakischen Bevölkerung bestimmt. Obwohl das Embargo nahezu vollständig eingehalten wurde, drängten die USA auf eine militärische Verschärfung der Sanktionen, was sie am 27. November 1990 mit der Resolution 678 erreichten. Die Frist war zweifellos zu kurz, um die Wirksamkeit des Embargos einschätzen zu können. Aber der Sicherheitsrat ist in dieser Einschätzung autonom, und auch der massive Druck, der von den USA auf einige Länder mit oder auch ohne Erfolg (Jemen, Kuba) ausgeübt worden ist, hat keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit einer Resolution, wenn sich ihre Aussage nur im Rahmen der Art. 39ff. des VII. Kapitels der UNO-Charta bewegt.
Die Resolution ermächtigte die UN-Mitgliedstaaten, "für den Fall, dass Irak die oben genannten Resolutionen (660ff.) bis zum 15. Januar 1991 nicht (...) vollständig durchführt, alle erforderlichen Mittel einzusetzen, um der Resolution 660 (1990) und allen dazu später verabschiedeten Resolutionen Geltung zu verschaffen und sie durchzuführen und den Weltfrieden und die internationale Sicherheit in dem Gebiet wiederherzustellen". Dieses war die erste ausdrückliche Ermächtigung zu militärischen Sanktionen seit dem Koreakrieg
Dennoch, das Ziel, die Wiederherstellung der uneingeschränkten Souveränität Kuwaits, wurde erreicht. Als am 2. März 1991 der UNO-Sicherheitsrat mit der Resolution 686 (1990) das Ende der Militäraktionen und die Bedingungen des Waffenstillstandes feststellte, war der Irak nach den Worten des UNO-Beauftragten Ahtisaari in ein "vorindustrielles Zeitalter" zurückgebombt und "die meisten Mittel moderner Lebenshaltung zerstört oder geschwächt worden"
II. Ein problematisches Sanktionssystem
Doch die schon vorher in den USA entwickelten Pläne zur Beherrschung der zentralen Ölregion
Die Resolution ist überwiegend von den USA formuliert worden und enthält einen Diktatfrieden, der in diesem Umfang und der Härte der Bedingungen nach bis dahin keinem Land nach 1945 zugemutet worden ist. Sie enthielt nicht nur die Fortsetzung des Waffenembargos und umfassende Abrüstungs- und Demobilisierungsmaßnahmen (Abschnitt C Abs. 7 ff.),
Was ursprünglich als Druckmittel zur Durchsetzung des irakischen Rückzugs aus Kuwait (Res. 660, 661) konzipiert war und seine rechtliche Grundlage in den Art. 39 und 41 UNO-Charta fand, mutierte mit der Resolution 687 im April 1991 nach Einstellung der Kämpfe zum Hebel und Druckinstrument für zweifelhafte Ziele. Jede Einfuhr lebenswichtiger Lebensmittel und Medikamente, aber auch jedes Ersatzteil für die Wasser- und Stromversorgung oder das Transportsystem hing seitdem von der Zustimmung des Sanktionskomitees ab, das durch die weitgehende Verweigerung (z.B. mit dem sog. dual-use-Argument) nicht nur den Wiederaufbau der Wirtschaft, sondern auch des einstmals hoch entwickelten und leistungsfähigen medizinischen Systems verhindern konnte. Dieser Zustand änderte sich auch nicht durch das sog. Oil-for-Food-Programm, welches mit den Resolutionen 705 (1991) und 706 (1991) vom 15. August 1991 eingerichtet wurde. Im Wesentlichen sollten die auf ein Sperrkonto der UN eingehenden Exporterlöse für Reparationen
III. Vom "Save Haven" für die Kurden zur "Operation Wüstenfuchs" gegen Bagdad
Ein neues Kapitel hingegen schlug der UN-Sicherheitsrat mit seiner Resolution 688 vom 5. April 1991 auf, mit der er die Souveränität des Irak im Norden drastisch beschränkte und den gefährdeten Kurden einen sog. Save Haven einrichtete, der nur für durch die UNO autorisierte Hilfsorganisationen zugänglich sein sollte.
Doch waren die Staaten in diesen Fällen zu ähnlichem gemeinsamem Vorgehen nicht bereit. Sie blieben auch beim Schutz der Kurden inkonsequent. Sie hatten zwar in der Präambel der Resolution 688 alle Staaten nachdrücklich an die Verpflichtung erinnert, "die Souveränität, territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit Iraks" zu beachten, sie zeigten aber keine Reaktionen, als in den Folgejahren die Türkei wiederholt mit ihrem Militär die Grenze zum Nordirak überschritt, in den kurdischen Siedlungsgebieten intervenierte und sich dort seit Oktober 1997 schließlich militärisch fest installierte. Auch die anschließend von den USA, Großbritannien und Frankreich zum Schutz der Kurden im Norden und der Schiiten im Süden eingerichteten sog. Flugverbotszonen, deren südliche 1996 von den USA bis zum 33. Breitengrad 45 km vor Bagdad ausgedehnt wurde, finden keine Grundlage in Resolution 688 oder gar 687, wie des öfteren behauptet. Es sind einseitige Verletzungen der Souveränität und der territorialen Integrität des Iraks, die vom Sicherheitsrat nie genehmigt, allerdings auch nie gerügt worden sind.
Im Herbst 1998 eskalierten die Auseinandersetzungen um die Inspektionen der UNSCOM, der Spionagetätigkeit und die Weitergabe von Informationen an den israelischen Geheimdienst Mossad vorgeworfen wurden.
1998 ist dem UN-Sicherheitsrat endgültig die Kontrolle über den Irakkonflikt entglitten, der sich seitdem vor allem als Konfrontation der USA mit dem Regime Saddam Husseins darstellte. Die USA intensivierten ihre Bemühungen um den Aufbau einer schlagkräftigen Opposition, stellten in dem vom US-Kongress Ende 1998 verabschiedeten Iraq Liberation Act erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung und richteten in Prag den Oppositionssender "Radio Free Iraq" ein. Der UN-Sicherheitsrat beschränkte sich darauf, Ende 1999 mit der Resolution 1284 (1999) ein neues Waffeninspektionssystem UNMOVIC mit dem Vorsitzenden Hans Blix zu etablieren, die Höhe der Ölexporte nicht mehr zu begrenzen und die Einfuhr von Lebensmitteln zu erleichtern. Die Aufhebung der Sanktionen war aber nach wie vor von der Zustimmung der USA abhängig, die in dieser Frage zu keiner Konzession bereit waren. Frankreich enthielt sich deshalb bei der Abstimmung der Stimme, weil es voraussah, dass auch diese Resolution die Aufhebung des Embargos nicht erleichtern werde.
Angesichts der unbestreitbar katastrophalen Auswirkungen des gesamten Sanktionssystems auf die Bevölkerung des Irak und seiner Nutzlosigkeit für die Entwaffnung und vollkommene Abrüstung des Irak spricht vieles für die Einschätzung kritischer Betrachter, dass seine weitere Aufrechterhaltung jeglicher Rechtsgrundlage entbehrte, ja, das Sanktionssystem des Art. 41 UNO-Charta geradezu pervertierte.
IV. Regimewechsel und Präventivstrategie der USA
Dem Irak gelang es in der Folgezeit nur in wenigen Fällen, das Sanktionssystem zu unterhöhlen, so mit der Durchbrechung und faktischen Aufhebung des UN- Flugembargos im Laufe des Jahres 2000 und dem zeitweisen illegalen Export von Rohöl nach Syrien. Die Inspektionen der UNMOVIC blockierte es erfolgreich, indem es die Einreise der Inspektoren verweigerte. Dafür musste es eine erhebliche Verstärkung der US-amerikanischen und britischen Luftangriffe auf Flugabwehr- und Raketenstellungen in den nördlichen und südlichen Flugverbotszonen hinnehmen, die seitdem fast täglich erfolgten. Die USA gestanden nun auch offiziell ein, dass es nicht mehr um das ursprüngliche Ziel des Schutzes der kurdischen und schiitischen Zivilbevölkerung ginge, sondern um die Zerstörung militärischer Einrichtungen. Sie hielten sich bei ihren Luftangriffen nicht mehr an die offiziellen Flugverbotszonen, sondern flogen Attacken bis vor die Tore Bagdads und verursachten immer wieder zivile Opfer. Frankreich, welches sich Mitte der neunziger Jahre von den Luftangriffen zurückgezogen hatte, unternahm keinen Versuch, die Illegalität der Flugverbotszonen und des unerklärten Krieges durch den UN-Sicherheitsrat verurteilen zu lassen.
Mit Übernahme des US-Präsidentenamtes durch George W. Bush rückten die alten, von Paul Wolfowitz, Douglas Feith und Richard Perle schon lange vor dem 11. September 2001 vertretenen Pläne zur gewaltsamen Beseitigung Saddam Husseins wieder in den Vordergrund.
Trotz mancher Differenzen in der US-Administration über den gegenüber Saddam Hussein einzuschlagenden Weg
Die Umgehung des UN-Sicherheitsrats kennzeichnete bereits den Angriff der NATO auf Jugoslawien im Frühjahr 1999 und konnte nur durch die mühselige und heftig kritisierte völkerrechtliche Rechtfertigung als "humanitäre Intervention" aufgefangen werden. Die Tatsache allerdings, dass sich die USA sofort nach dem Terroranschlag im September 2001 an den UN-Sicherheitsrat wandten, um sich eine militärische Reaktion absegnen zu lassen, unterstreicht nicht nur das Legitimationsbedürfnis, welches selbst die einzig verbliebene Weltmacht noch im Kriegsfall hat, sondern widerspricht auch der immer wieder bespöttelten angeblichen Bedeutungslosigkeit, ja Überflüssigkeit des UN-Sicherheitsrats.
V. Der Weg zum Krieg - die Resolution 1441
Das letzte Kapitel im Kampf um den Irakkrieg ist trotz der Niederlage der Mehrheit der kriegskritischen Staaten in der UNO dennoch nicht auf ihrer Sollseite abzubuchen. Das zähe Ringen um die Resolution 1441 vom 9. November 2002
Es ist nicht das erste Mal, dass sich die USA zur Durchsetzung ihrer Interessen in jüngerer Zeit außerhalb der Staatengemeinschaft der Vereinten Nationen und gegen das Völkerrecht stellen mussten. Interessen allerdings, die so wenig mit denjenigen der übrigen Staaten in Übereinstimmung zu bringen sind, werden selbst vor dem Hintergrund absoluter militärischer Überlegen-heit immer schwieriger unilateral durchsetzbar. Deutschland, Frankreich und Russland sind zwar nicht in der Lage, ein militärisches Gegengewicht gegen die USA aufzubauen, ihr gemeinsames Beharren auf den Prinzipien der UNO-Charta, dem Sicherheitsrat und dem Kontrollsystem der UNMOVIC, hat ihnen nicht nur breitere Zustimmung unter den Staaten eingebracht, sondern auch dem System der kollektiven Sicherheit insgesamt neue legitimatorische Kraft zugeführt. Einer der Hauptpunkte der Kritik an der Ineffizienz und Schwäche des Sicherheitsrats war das unter demokratietheoretischen Aspekten zweifellos problematische Vetorecht ausgewählter Staaten. Seine Berechtigung als ein kriegsverhindernder Mechanismus dürfte er im Verlauf dieses Konfliktes aber besser bewiesen haben als in so mancher alten Vetokonstellation auf der Basis des Kalten Krieges. Selbst wenn Sicherheitsrat und Veto letztlich den Krieg nicht verhindern konnten, so waren sie doch die einzigen diplomatischen Institutionen, über die der Widerstand gegen die Kriegspolitik artikuliert, organisiert und verbreitert werden konnte.
VI. UNO-Generalversammlung: "Uniting for Peace"
In einer Situation äußerster Kriegsgefahr und faktischer Missachtung des Sicherheitsrats hätte den Staaten noch ein letzter Weg offen gestanden, den sie allerdings nicht beschritten haben. Sie hätten die UNO-Generalversammlung zu einer Debatte und Resolution einberufen können, um alle Staaten an die grundlegenden Prinzipien der UNO-Charta zu erinnern und zur strikten Einhaltung des Völkerrechts sowie der Entscheidungen des Sicherheitsrates aufzufordern. Das Vorbild dieses nicht unproblematischen Flurwechsels im UNO-Gebäude ist eine Resolution der Generalversammlung aus dem Jahre 1950 (Res. 377 V vom 3. November 1950), die auf die Initiative des damaligen US-Außenministers Dean Acheson zurückging und mit der Bezeichnung "Uniting for Peace" Geschichte gemacht hat.
Zu diesem Zweck soll die Generalversammlung auch außerhalb der Sitzungsperioden zu einer Notstandssondertagung binnen 24 Stunden zusammengerufen werden können, gegen die auch der Sicherheitsrat kein Veto einlegen kann. Eine solche Sondertagung können entweder neun Ratsmitglieder oder eine Mehrheit der Mitglieder der UNO verlangen. Vor dem Hintergrund des eindeutigen Kräfteverhältnisses in der damaligen 59 Mitglieder umfassenden Generalversammlung war die Resolution für die Sowjetunion ein schwerer Rückschlag, da auf diesem Weg ihr Vetorecht außer Kraft gesetzt werden konnte. Sie ist auch kaum mit der klaren Kompetenzverteilung der UNO-Charta zu vereinbaren, die dem Sicherheitsrat eindeutig den Vorrang in Fragen der Friedenssicherung gibt und in Art. 12 ausdrücklich bestimmt, dass "die Generalversammlung zu einer Streitigkeit oder Situation ohne Ersuchen des Sicherheitsrats keine Empfehlung abgeben (darf), solange der Sicherheitsrat die ihm in dieser Charta zugewiesenen Aufgaben wahrnimmt".
Die Befürchtung der Sowjetunion, dass die Resolution ausschließlich gegen sie verwendet werden würde, erfüllte sich allerdings nicht. Bei der ersten Gelegenheit ihrer Anwendung, als Jugoslawien 1956 zur Beilegung der Suezkrise eine Sondersitzung der Generalversammlung beantragte, da Frankreich und Großbritannien den Sicherheitsrat mit ihrem Veto boykottierten, wurde die Sitzung mit der Stimme der Sowjetunion einberufen. Die Generalversammlung beschloss daraufhin Maßnahmen zum Rückzug der französischen und englischen Truppen sowie die Stationierung der UN-Friedenstruppen in Ägypten. Auf diese Weise wurden neun weitere Notstandssondertagungen auf der Basis der "Uniting for Peace"-Resolution einberufen: zur Beilegung der Ungarn-Krise 1956, der Libanon-Krise 1958, der Kongo-Krise 1960. 1967 war es die Sowjetunion, die den Generalsekretär ersuchte, die fünfte Notstandssondertagung der Generalversammlung einzuberufen, um den Ausbruch des Nahostkrieges zu behandeln, was dieser auch tat. Es folgten weitere Sondertagungen zu Bangladesh, Afghanistan, Südafrika und mehrfach zu Palästina. Die letzte Tagung im Jahr 1997 galt den Vorgängen in Ost-Jerusalem.
Diese Praxis der Notstandssondertagungen auf der Basis der Resolution 377 V über fünf Jahrzehnte wird heute überwiegend trotz ihres schwerwiegenden Eingriffs in die Struktur der UNO-Charta als gewohnheitsrechtliche Abänderung akzeptiert. Dagegen spricht, dass die Generalversammlung genügend Gelegenheit gehabt hätte, eine Neuabgrenzung der Kompetenzen mit Zweidrittelmehrheit in die Charta zu übernehmen. Dennoch hat sich die Problematik des Verstoßes bisher nicht in aller Schärfe gestellt, da die Generalversammlung in keiner der zehn Sitzungen in die Sanktionskompetenz des Sicherheitsrats eingegriffen, sondern sich auf Diskussionen und Empfehlungen beschränkt hat.
Darauf hätte sich die Generalversammlung auch im Falle des drohenden Irakkrieges beschränken können. Sie hätte noch einmal die Staaten an das absolute Gewaltverbot erinnern müssen, das nur im Falle eines Mandats des Sicherheitsrates oder bei einem unmittelbaren Angriff durch Selbstverteidigung eine Ausnahme erlaubt. Sie hätte daran erinnern müssen, dass die territoriale Integrität und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fundamentale Prinzipien der UNO-Charta und des Völkerrechts sind. Sie hätte klarstellen müssen, dass die Resolution 1441 kein Mandat für eine militärische "Abrüstung" gibt und die Beseitigung eines Regimes auch nicht in der Befugnis der Vereinten Nationen liegt (Art. 2 Z. 7 UNO-Charta). Sie hätte fordern sollen, dass die Inspektoren ihre Mission in angemessener Frist beenden können, und sie hätte den Irak noch einmal zu bedingungsloser Zusammenarbeit mit der UNMOVIC auffordern sollen.
Die Generalversammlung hätte sich mit einer solchen Resolution auf die Darlegung der völkerrechtlichen Koordinaten des Konfliktes beschränkt und nicht in die Kompetenzen des Sicherheitsrats eingegriffen, ihm vielmehr Handlungsraum auch über den Irakkonflikt hinaus zurückgewonnen. Denn die Umgehung des Sicherheitsrats und die Verletzung des Gewaltverbots ist ein tiefer Eingriff in das gesamte Sicherheitssystem der UNO und kann jedem Staat eine billige Rechtfertigung für beliebige Interventionen und Kriege liefern. Es wäre also um mehr gegangen als das ohnehin wichtige Ziel, einen unmittelbar bevorstehenden Krieg noch abzuwenden. Es wäre um die Erhaltung einer zwar unvollkommenen, aber bisher durch keine bessere Alternative ersetzbare kollektive Sicherheits- und Friedensordnung gegangen, für welche die "Uniting for Peace"-Resolution vielleicht einen letzten Mechanismus der Rettung bereitgehalten hätte.
VII. Die Rückkehr der UNO
Mit dem Rückzug der UNMOVIC-Inspektoren aus dem Irak und dem Verzicht auf eine zweite Resolution des UN-Sicherheitsrats, die die Anwendung militärischer Gewalt ausdrücklich gemäß Art. 42 UNO-Charta hätte ermächtigen müssen, war das Scheitern der UNO in diesem Konflikt besiegelt. Nehmen wir die Organisation der UNO als den institutionellen Ausdruck des gegenwärtigen Völkerrechts, so müssen wir dieses Urteil auf den gesamten rechtlichen Rahmen der in den letzten neunzig Jahren unter dem Namen "kollektives Sicherheitssystem" entwickelten Friedensordnung erstrecken. Der Untergang des sozialistischen Systems in der Gestalt der Sowjetunion und des Warschauer Paktes wird nicht überinterpretiert, wenn man auch den Untergang des VII. Kapitels der UNO-Charta als eine seiner Folgen ansieht. Darin liegt zugleich das Eingeständnis, dass das Wilson''sche Modell einer juristischen Weltordnung gleicher Staaten jenseits des zweifelhaften Gleichgewichts der Kräfte auch in seinem zweiten Anlauf mit dem Zusammenbruch dieses Gleichgewichts gescheitert ist. Was ohne die wechselseitige Zähmung der Großmächte auf der Basis und mit den Institutionen der Vereinten Nationen eine allgemeine Friedensordnung garantieren sollte, erweist sich heute offensichtlich immer noch als zu schwach, dem entfesselten Hegemoniestreben einer Großmacht zivilisierende Grenzen zu setzen.
Die Erosion der UNO-Friedensordnung kündigte sich schon Ende der neunziger Jahre vor allem mit dem Angriff auf Jugoslawien und der im April 1999 noch während des Krieges verkündeten neuen NATO-Strategie an. Das grundlegend Neue in der jüngsten Entwicklung ist das Auseinanderbrechen der schon seit 1991 (2. Golfkrieg) aufgebauten Kriegskoalition. So tief dieser Riss auch ist, wenig spricht jedoch derzeit dafür, dass daraus ein neues Gleichgewicht der Kräfte entsteht, auf dessen Basis die UNO eine wirksamere Friedensrolle wiedererlangen könnte. Der nukleare Hintergrund des alten Kräftegleichgewichts taugt heute nicht mehr zum Aufbau eines neuen Gleichgewichts, zumal es die Spaltung der NATO voraussetzen würde. Wenn es auch nicht ausgeschlossen ist, dass die VR China einmal die Rolle einer wirksamen countervailing power übernehmen könnte, muss die UNO für absehbare Zeit versuchen, eine zentrale Ordnungsfunktion zurückzugewinnen und die Staaten ohne dieses alte Gleichgewichtsprinzip aus dem "Ausnahmezustand als Weltordnung"
Wichtig ist dabei für die UNO derzeit vor allem, aus dem Abseits im Mittleren Osten herauszukommen, in dem sie von den USA ja nicht nur im Irakkonflikt, sondern auch in der Palästinafrage gehalten wird. Die Pläne der USA, das alte Regime Saddam Husseins wegen vergangener Verbrechen gegen ihre eigene Bevölkerung sowie wegen Kriegsverbrechen vor Gericht zu stellen und juristisch zur Verantwortung zu ziehen, begegnen dabei - obwohl eine genuine Aufgabe des neu gegründeten Weltstrafgerichtshofs - zahlreichen Schwierigkeiten. Wie und wo tritt ein Ankläger auf, der nicht nur mit dem Krieg gegen den Irak selbst einen schweren Völkerrechtsverstoß gegen Art. 2 Z. 4 UNO-Charta begangen hat und zudem dem einzigen legitimen internationalen Gericht, dem Weltstrafgerichtshof, die Anerkennung verweigert?
Dieser Weltstrafgerichtshof wird über Taten, die vor seiner Entstehung am 1. Juli 2002 begangen worden sind, ohnehin nicht richten können. Bei der Frage der Kriegsverbrechen wird er - anders als das Jugoslawien-Tribunal es getan hat - berücksichtigen müssen, dass die Angeklagten zunächst auf ihr legitimes Selbstverteidigungsrecht gemäß Art. 51 UNO-Charta verweisen werden. Die schließlich zur Verhandlung stehenden Kriegsverbrechen dürften auf der Seite des Irak (bisherige Vorwürfe: Vorzeigen amerikanischer Gefangener im Fernsehen, Selbstmordattentäter gegen Interventionstruppen) vergleichsweise unbedeutend sein gegenüber den Vorwürfen gegen die US-Truppen (Einsatz von Napalm, Streubomben und abgereichertem Uran, gezielte Angriffe auf zivile Objekte wie Rundfunk- und Fernsehstation, Marktplatz etc., Verletzung der Besatzerpflichten durch Passivität gegenüber Plünderern). Der Weltstrafgerichtshof könnte es sich nicht mehr - wie noch das Jugoslawien-Tribunal - leisten, die Kriegsführung nur einer Seite zum Gegenstand des Verfahrens zu machen.
Kommt also der Weltstrafgerichtshof für die USA als Ort der Rechtssuche nicht in Betracht, verbleiben nur die Militärgerichte, wie sie nach dem Kriegsrecht vorgesehen sind. Diese haben sich aber in der US-amerikanischen Praxis in "military commissions" verwandelt, die dadurch gekennzeichnet sind, "dass sie den Rechtsstatus eines Individuums sowohl mit Rücksicht auf das internationale Recht wie auf die amerikanischen Gesetze radikal suspendieren und ein juristisch nicht benennbares Wesen schaffen"
Dem engen Geflecht anerkannter juristischer Normen und Institutionen können sich die USA nur schwer und unter offener Missachtung entziehen. Das ist anders bei der Frage, welche Befugnisse sie der UNO beim Wiederaufbau des Irak in der Nachkriegsära einräumen. Als Besatzer sind sie einem feststehenden Kodex Genfer Regelungen in der Verwaltung des besiegten Landes unterworfen, gleichgültig ob die Besatzung rechtmäßig oder nicht rechtmäßig erfolgte. In der 4. Genfer Konvention von 1949 sind die Versorgungs-, Verwaltungs- und humanitären Pflichten der Besatzungsmacht klar festgelegt, die sich an der Wiederherstellung der vollen Souveränität des besetzten Landes und nicht an den Interessen der Besatzungsmacht orientieren. Eine Beteiligung der UNO ist darin ebenso wenig festgelegt wie eine zeitliche Begrenzung des Besatzungsregimes. Um jedoch eine völkerrechtlich nicht mehr vertretbare Dauer der Besetzung mit den katastrophalen Folgen wie in Palästina zu vermeiden, muss sich die UNO so schnell wie möglich wieder ins Spiel bringen. Mit der Resolution 1442 vom 28. März hat der Sicherheitsrat bereits auf die Pflichten des Besatzungsregimes im Rahmen der 4. Genfer Konvention in allerdings sehr allgemeinen Formulierungen hingewiesen. Als Nächstes müsste er die Aufhebung der Embargosanktionen der alten Resolution 687 beschließen, die Hilfslieferungen der humanitären Organisationen und jeglichen Wiederaufbau behindern. Auch hätte er auf die Rückkehr der UNMOVIC-Inspektoren zu dringen, die gegenüber den von der US-Administration entsandten Kontrolleuren den Vorteil der Glaubwürdigkeit besitzen.
Eines allerdings müsste der Sicherheitsrat auf jeden Fall vermeiden: dass das Nachkriegsengagement der UNO - wie nach dem Überfall auf Jugoslawien - als nachträgliche Legitimation des Krieges gegen den Irak interpretiert wird. Der sicherste Weg, dies zu verhindern, führt über einen Antrag des Sicherheitsrates oder der Generalversammlung an den Internationalen Gerichtshof (IGH), ein Gutachten über die Rechtswidrigkeit des Krieges zu erstellen. Das Ergebnis ist voraussehbar, wie es der ehemalige Präsident des IGH Christopher Weeramantry bereits angedeutet hat.