Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Schwieriges Selbstständigwerden | Internationale Sicherheit | bpb.de

Internationale Sicherheit Editorial Weltordnung vor dem Zerfall? Ende der Gewissheiten Verklärte Weltordnung UN ohne Ordnung. Vereinte Nationen und globale Sicherheit Schwieriges Selbstständigwerden. Zum Wandel der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen und den Konsequenzen für Europa "Von Freunden umzingelt" war gestern. Deutschlands schwindende Sicherheit ABC-waffenfreie Welt? Stand und Perspektiven von Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung Sanktionen in den internationalen Beziehungen. Werdegang, Wirkung, Wirksamkeit und Wissensstand Wo sind sie geblieben? Zur heutigen Relevanz der Theorien der internationalen Beziehungen

Schwieriges Selbstständigwerden Zum Wandel der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen und den Konsequenzen für Europa

Claudia Major

/ 16 Minuten zu lesen

Aktuell scheinen sich die transatlantischen Partner zu entfremden. Eine Gefahr für die Zukunft des Bündnisses geht dabei nicht nur von den USA, sondern auch von den europäischen Staaten aus. Es gilt, über eine konzeptionelle Neuausrichtung der europäischen Verteidigung nachzudenken.

Die transatlantischen Beziehungen stehen vor fundamentalen Veränderungen: Aktuelle Entwicklungen deuten auf eine Entfremdung zwischen den Partnern sowie auf eine Neuordnung der Beziehungen unter veränderten Rahmenbedingungen hin.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren die USA der zentrale Partner und Bezugspunkt Westeuropas, und die transatlantischen Beziehungen entwickelten sich zu einem Ordnungssystem, das zahlreiche Bereiche von Handel bis Verteidigung umfasste. Dessen Architektur hat sich stets weiterentwickelt und verändert. Nun aber, da US-Präsident Donald Trump wenig Interesse an Europa im Besonderen oder an Kooperation und Koordination und den damit verbundenen Institutionen allgemein zeigt, droht sie sich substanziell zu wandeln. Europa kann sich zwar für eine Fortsetzung der transatlantischen Ordnung einsetzen, aber die US-Politik wird es nicht ändern können.

Besonders dramatisch wirkt sich dies in der Verteidigungspolitik aus. Denn die Staaten Europas haben bislang erheblich von der NATO und dem damit verbundenen Schutz der USA profitiert, zumal sie über rhetorische Bekenntnisse hinaus nur wenig Engagement beim schwierigen Aufbau eigener Handlungsfähigkeit gezeigt haben. Für die Europäer ist es angesichts der unsicheren Positionierung der USA zwar notwendig, strategische Autonomie anzustreben. Gleichzeitig muss sich Europa aber im Klaren darüber sein, dass das ein langfristiges, kostenintensives und schwierig zu erreichendes Ziel ist.

Konjunkturen der transatlantischen Sicherheitsordnung

Seit Beginn der 2000er Jahre ist das sicherheitspolitische Interesse der USA an anderen Regionen der Welt gewachsen. Washington sah den "alten Kontinent" als nunmehr stabile Region an, die der Aufmerksamkeit der USA weniger bedurfte und in der Lage sein sollte, selbst für ihre Sicherheit zu sorgen. Zum einen konzentrierten sich die USA nach dem 11. September 2001 auf den weltweiten Kampf gegen den Terrorismus. Hier standen die USA und Europa anfangs noch zusammen, bis der US-Militäreinsatz im Irak 2003, der von vielen europäischen Regierungen abgelehnt wurde, zu einem transatlantischen Zerwürfnis führte. Zum anderen schien aus amerikanischer Perspektive ein "Pivot to Asia", ein Schwenk nach Asien notwendig, wo immer relevantere sicherheitspolitische und wirtschaftliche Entwicklungen abliefen – von aufsteigenden Mächten wie China über ungelöste Territorialkonflikte wie zwischen den Philippinen und China im Südchinesischen Meer bis zu Proliferationsfragen wie in Nordkorea.

Vor diesem Hintergrund und wegen der ernüchternden Erfahrungen mit den Europäern im Zuge des internationalen Militäreinsatzes in Libyen 2011, der fundamentale Lücken etwa bei Munition und Flugzeugen offenbarte, belebten die USA die alte Lastenteilungsdebatte in der NATO neu. Der scheidende US-Verteidigungsminister Robert Gates nutzte 2011 große Teile seiner Abschiedsrede, um die europäischen Staaten vor ihrer militärischen Irrelevanz und der schwindenden amerikanischen Geduld mit ihrer Trittbrettfahrerei zu warnen. Doch es geschah wenig: Infolge der seit 2008 herrschenden Wirtschafts- und Finanzkrise hatten viele europäische Staaten ihre Haushalte und auch die Verteidigungsausgaben zusammengestrichen. Die Europäer kürzten ihre ohnehin schon kleinen Arsenale unkoordiniert weiter und vergrößerten so die Lücken. Der Zustand der europäischen Streitkräfte wurde immer desolater.

Das Interesse der USA an Europa stieg wieder ab 2014, als der Überfall Russlands auf die Krim und der Krieg in der Ostukraine die europäische Sicherheitsordnung erschütterten, wie sie etwa im Rahmen der KSZE-Schlussakte von 1975 und der Charta von Paris von 1990 vereinbart worden war. Für Westeuropa bedeutete das das Ende einer strategischen Partnerschaft mit Russland und eine notwendige Auseinandersetzung mit der Rückkehr militärischer Gewalt als Mittel der Politik in Europa. Die Ukraine war jedoch nur der nördliche Anfangspunkt eines Krisenbogens, der sich um Europa herum ausweitete und intensivierte, wie das Erstarken des sogenannten Islamischen Staates (IS), die Migrationskrise sowie die andauernde Instabilität in Nordafrika und dem Mittleren Osten verdeutlichen. Zudem verwiesen die Ukraine-Krise und der Aufstieg des IS darauf, dass organisierte Gewalt ein wesentlicher Treiber des Wandels globaler und regionaler Ordnungen ist. Den EU- und NATO-Staaten wurde bewusst, dass sie selbst Ziel der Gewalt werden können oder von den Folgen eines Konflikts erfasst zu werden drohen, wenn sie dem Risiko nicht vorbeugen oder aufgrund eigener Schwäche nicht in der Lage sind, mit dieser Gewalt umzugehen.

Gemeinsam beschloss die transatlantische Allianz auf dem NATO-Gipfel in Wales 2014 die Rückbesinnung auf Bündnisverteidigung als Kernaufgabe. Bei der Überprüfung der möglichen Beiträge zu diesem Ziel wurde den Europäern erneut der desolate Zustand ihrer Streitkräfte nach Jahren der Sparmaßnahmen bewusst. Insbesondere in jenen Ländern, die sich von Russland bedroht fühlen, steigen seitdem die Ausgaben. Auch auf den NATO-Gipfeln in Warschau 2016 und Brüssel 2018 forderten die USA mehr europäisches Engagement bei der Verteidigung Europas. Sie brachten sich aber auch selbst substanziell ein, etwa durch die Übernahme eines Bataillons der NATO-Vornepräsenz in Polen. Hinzu kommen bilaterale Unterstützungsmaßnahmen in Form von Geld, Truppen und Ausrüstung, etwa im Rahmen der European Deterrence Initiative.

Dieser gestärkte transatlantische Bund wird jedoch seit 2016 durch den neu gewählten US-Präsidenten Donald Trump infrage gestellt. Er hat einen ordnungspolitischen Konflikt mit Europa heraufbeschworen, der weit über unterschiedliche außenpolitische Prioritäten hinausgeht. Zwar unterscheiden sich seine Positionen deutlich von denen anderer Mitglieder der US-Regierung wie Verteidigungsminister James Mattis, die eher traditionelle Standpunkte vertreten. Aber aufgrund seiner Machtfülle hat der US-Präsident entscheidenden Einfluss.

So vertreten die USA und die meisten europäischen Staaten in vielen außenpolitischen Fragen zunehmend gegensätzliche Positionen: Beispielsweise wollen die USA als einziges Land das Pariser Klimaabkommen zur Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf unter zwei Grad Celsius gegenüber vorindustriellen Werten verlassen und haben unilateral das Iran-Abkommen zur Kontrolle des iranischen Atomprogramms aufgekündigt, das die Europäer beibehalten wollen. Die USA agieren vermehrt unilateral und hegemonial und messen den in Europa bevorzugten multilateralen, regelbasierten und kooperativen Strukturen und Politiken, die auf internationalen Abkommen und Institutionen beruhen, weniger Wert bei. US-Präsident Trump geht es um Deals statt Abkommen, um bilaterale Beziehungen statt Allianzen.

Auch in anderen Politikfeldern unterscheiden sich amerikanische und europäische Ordnungsvorstellungen immer deutlicher. Die Europäer sehen es etwa kritisch, dass die USA vermehrt protektionistisch handeln und Washington wirtschaftliche mit sicherheitspolitischen Themen verknüpft. So haben die USA 2018 Schutzzölle auf Stahl- und Aluminiumimporte aus der EU damit begründet, dass EU-Exporte die nationale Sicherheit der USA bedrohen würden.

Wie groß das Konfliktpotenzial dieser Divergenzen ist, zeigten der G7-Gipfel im kanadischen La Malbaie und der NATO-Gipfel in Brüssel im Juni und im Juli 2018. Ersterer geriet zu einem Grundsatzstreit über Handel, das Iran-Abkommen und den Klimaschutz und eskalierte darin, dass die USA ihre Zustimmung zum Abschlusskommuniqué nachträglich widerriefen. Auf dem NATO-Gipfel kam es zu einem vergleichbaren Eklat, als Trump Deutschland für seine geringen Verteidigungsabgaben und angebliche Abhängigkeit von Russland abkanzelte. Schließlich musste aufgrund seiner Kritik an der Lastenteilung in der NATO eine Krisensitzung einberufen werden, um die Allianz zusammenzuhalten. In beiden Fällen erschien der Westen zerstritten, was bei den G7 die Steuerungsfähigkeit und bei der NATO das Verteidigungsversprechen schwächt.

Dadurch, dass der transatlantische ordnungspolitische Dissens in den gemeinsamen Institutionen ausgetragen wird, wird deren sachpolitische Agenda zunehmend überlagert. Deshalb dürfte der NATO eine längere Problemphase bevorstehen, in der ihr Zusammenhalt und ihre Handlungsfähigkeit leiden werden. Denn wenn die USA den politischen Wert von Allianzen generell infrage stellen und unilaterale Ansätze bevorzugen, sich an Vereinbarungen weniger gebunden fühlen und nur geringe Kompromissbereitschaft zeigen, untergräbt das die politische und militärische Basis der NATO und damit das Rückgrat der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen.

Mögliche Folgen einer Neuordnung für Europa

Die potenziellen Folgen dieser Veränderungen sind tief greifend, weil Europa sowohl politisch als auch militärisch ohne die USA beziehungsweise mit geringerer amerikanischer Unterstützung an Handlungsfähigkeit verlieren würde.

Defizitäre Verteidigungsfähigkeit bei steigender Unberechenbarkeit

Militärisch hängt Europa für seine Verteidigung von den USA ab. Die Europäer sind nicht in der Lage, auch nur mittelfristig die US-Fähigkeiten zu ersetzen. Die Defizitliste reicht von Transportfähigkeit über konventionelle Ausrüstung bis hin zu US-Nuklearwaffen. Selbst wenn die Europäer heute beginnen würden, diese Lücken zu schließen, wären sie bestenfalls in zehn bis 15 Jahren in der Lage, sich selbst mit Waffensystemen aus eigener Produktion auf heutigem Niveau zu verteidigen. Größere Projekte wie ein europäisches Kampfflugzeug würden noch länger dauern. Viel dringlicher sind allerdings die Lücken bei der Ausstattung jenseits von Waffentechnik: Die USA besitzen ein einzigartiges Netz aus Sensoren zur Aufklärung und die Möglichkeit, Informationen schnell auszuwerten und überall und jedem zur Verfügung zu stellen. Ohne diesen Zugang wären die europäischen Staaten blind, stumm und taub. Würden sie angegriffen, müssten sie sich weitestgehend unkoordiniert und mit hohen Verlusten verteidigen.

Auch der nukleare Schirm der USA lässt sich nicht einfach ersetzen – weder die politische Botschaft und die ausgefeilten NATO-Verfahren noch die Waffen selbst. Frankreich und Großbritannien würden ihre Atomwaffen bei einem Angriff auf Europa spätestens dann einsetzen, wenn ihr eigenes Überleben auf dem Spiel stünde. Doch die Umstände eines solchen Einsatzes bleiben unklar. Dies bedeutet eine Unsicherheit, die ihre sicherheitspolitische Wirkung über Europa hinaus entfalten würde. Außerhalb Europas würde die Unsicherheit darüber wachsen, wann Europa wie reagiert. Für die NATO-Staaten, die bislang unter dem US-Schirm waren, würde gefühlt die Verlässlichkeit ihres Schutzes sinken. Letztlich würde Europa für den Rest der Welt, aber auch für sich selbst unberechenbarer werden. Insgesamt könnte die Stabilität der nuklearen Ordnung leiden. Nicht auszuschließen wäre eine Reaktion Russlands, und auch die Folgen für die Rüstungsdynamik in Asien wären zu bedenken: Manche Staaten könnten schlussfolgern, eigene Atomwaffen lohnten sich wieder mehr. Die Proliferation könnte zunehmen.

Über die militärische Abhängigkeit hinaus haben die USA die NATO auch politisch stark gestaltet. Sie sind aber schon jetzt weniger bereit, eine konstruktive Rolle zu übernehmen. US-Präsident Trump stellt mit seinen widersprüchlichen Aussagen zur Zukunft der amerikanischen NATO-Beiträge und mit der transaktionalen Logik, der er diese unterwirft, das Beistandsversprechen infrage, also die Kernidee der Allianz. Zudem verbreitet er Unsicherheit durch harsche Kritik an der NATO. Faktisch allerdings sind die US-Beiträge sogar gestiegen: Die Mittel für die European Deterrence Initiative, mit denen Washington Verteidigung und Abschreckung in Europa unterstützt, sind 2018 auf 4,8 Milliarden US-Dollar aufgestockt worden und sollen 2019 6,5 Milliarden US-Dollar betragen. Doch die Alliierten verunsichert der Widerspruch, den sie zwischen faktischer Unterstützung und verbalem Infragestellen der NATO sehen. Das gilt umso mehr, als die USA seltener die Rolle des wohlmeinenden Hegemons übernehmen, der Konflikte in der Allianz entschärft. Zuvor unter Kontrolle gehaltene interne Spannungen könnten wieder aufflackern.

Reduzierte ordnungspolitische Gestaltungsfähigkeit

Komplexer noch wären die ordnungspolitischen Herausforderungen. Europa und die USA haben bislang zahlreiche Konflikte gemeinsam oder zumindest koordiniert bearbeitet. Auf sich gestellt, verlöre Europa an Einfluss und Gestaltungsmacht. Zudem stellt sich die Frage, inwiefern die USA selbst zu einem Problem würden, das Europa bearbeiten müsste. Die USA sind ein wesentlicher Faktor globaler Ordnung, den Europa einhegen müsste, wenn US-Präsident Trump seine Politik konsequent weiterverfolgt und etwa das amerikanische Engagement in Europa reduziert oder sich gar gegen Europa stellt.

Washington hat zudem stets dazu beigetragen, die Europäer politisch zu einigen. Die Alternative ist die Führung eines oder mehrerer europäischer Staaten. Allerdings hat kein anderer Staat das Format, die USA als westliche Führungsmacht zu ersetzen – auch keiner der drei großen Europäer, die zudem weder den Anspruch noch die Unterstützung der anderen Staaten haben. Dennoch ist ein europäisches Führungstrio aus Paris, London und Berlin allein aus Mangel an Alternativen am wahrscheinlichsten. Es wird allerdings schwierig werden, gemeinsame Ziele zu definieren und durchzusetzen, sei es in Krisensituationen oder im Alltagsgeschäft. Es erfordert sicherheitspolitische Kompromisse, in der NATO etwa zur Rolle Russlands. Können sich die Staaten nicht einigen, droht die NATO ihre politische Handlungsfähigkeit zu verlieren. Es besteht also durchaus das Risiko, dass Europa sich selbst auseinanderdividiert, statt durch Einigkeit Einfluss zu haben.

Im Ergebnis sind mehr interne Konflikte und damit eine stärkere Selbstblockade und letztlich weniger Initiativen und Einfluss zu erwarten. Gleichzeitig können Zweifel über das US-Engagement und eine schwache NATO die bereits existierende Tendenz einiger Staaten etwa an der NATO-Ostflanke verstärken, sich von der Allianz abzuwenden und die bilateralen Beziehungen zu den USA zu vertiefen, weil sie sich so eine bessere Garantie ihrer Sicherheit versprechen. Langfristig untergräbt eine solche Bilateralisierung aber die NATO und letztlich auch die kollektive Sicherheit in Europa. Eine Gefahr für die Zukunft des Bündnisses geht also nicht nur von den USA, sondern auch von den europäischen Staaten aus.

Mehr Europa

Die Bandbreite der möglichen zukünftigen transatlantischen Beziehungen erstreckt sich von einer Rückkehr zu einem soliden Konsens über einen Partner USA als einer unter vielen bis hin zu einer konfliktgeladenen Wettbewerbsbeziehung. Welches Modell sich durchsetzen wird und mit welchen Kosten und Vorteilen, entscheiden nicht nur die USA und die europäischen Staaten, sondern ist auch abhängig von globalen und regionalen Entwicklungen. Solche Überlegungen über die Zukunft europäischer Sicherheit sind kein gewollter und leichtfertiger Abschied von den USA, vielmehr sind sie notwendig im Sinne der Vorsorge und aus Verantwortungsperspektive geboten. Die Gretchenfrage für die Europäer umfasst letztlich zwei Dimensionen: zum einen, ob sie bereit sind, ernsthaft über eine europäische Zukunft ohne die USA als verlässlicher Partner nachzudenken und sich auf entsprechende Szenarien vorzubereiten. Absehbar werden die Europäer hierbei nur schwer eine gemeinsame Linie formulieren können. Gelingt es ihnen, kommt zum anderen eine strategische Aufgabe hinzu: den Pfad zu bestimmen, den sie zwischen langsam wachsender politischer und militärischer Autonomie, konstruktiv gestalteten transatlantischen Beziehungen und den Unwägbarkeiten in der globalen Sicherheitspolitik beschreiten wollen.

Neue Dynamik in der Verteidigungspolitik

Im Verteidigungsbereich ist innerhalb der EU seit 2016 eine neue Dynamik festzustellen. Allerdings konzentriert sie sich auf Krisenmanagement und nicht auf die klassische Territorialverteidigung. Im Rahmen dieser neueren Entwicklungen wird letztendlich lediglich geplant, zu liefern, was die Europäer seit Gründung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik 1999 vorhaben. Da dies im Verteidigungsbereich aber auch bei besten Bedingungen ein Langzeitprojekt bleibt, müssen die europäischen Staaten zweigleisig fahren und versuchen, erstens die transatlantischen Beziehungen zu retten sowie zweitens Europa gleichzeitig auf eigene Füße zu stellen.

Der Trend, die Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der EU in Sachen Sicherheit und Verteidigung zu konkretisieren, ist Folge des sich intensivierenden Krisenbogens um Europa und der negativen Entwicklungen in den Beziehungen zu den USA. Hinzu kommen innereuropäische Dynamiken, vor allem die zentrifugalen Kräfte des Nationalismus, Populismus und der wirtschaftlichen Konkurrenz, die an der Einheit der EU zerren. Der Brexit ist Ausdruck dieser Entwicklungen. Die europäischen Staaten vermochten diese Energie in ein politisches Programm zu kanalisieren und bereiteten ab 2015 eine neue außenpolitische Strategie vor, die die Europäische Sicherheitsstrategie von 2003 ablösen sollte. Diese EU-Globalstrategie (EUGS) wurde unmittelbar nach dem Brexit-Votum im Juni 2016 verkündet und leitet seitdem das Handeln der EU. Aufbauend darauf wollten proeuropäische Staaten wie Deutschland und Frankreich ein weiteres Zeichen zur Stärkung der EU setzen. Dabei war Verteidigung das Politikfeld, auf dem wenigstens ansatzweise Einigkeit herrschte. Hinzu kam, dass die verteidigungspolitische Kooperation in der EU bislang nur wenig entwickelt war und Fortschritte also schnell erzielt werden konnten.

So startete die EU im Dezember 2017 die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, PESCO) mit 17 Kooperationsprojekten, von denen jedoch keines die vorhandenen und mehrfach kritisierten Fähigkeitslücken der EU zum Beispiel bei den Transportfähigkeiten schließt. Ferner soll der Koordinierte Planungsprozess (Coordinated Annual Review on Defense, CARD) die Verteidigungsplanung der EU-Staaten synchronisieren. Erste Ergebnisse sollen im Herbst 2018 vorliegen und zeigen, ob die EU-Staaten tatsächlich ihre europäischen Partner über ihre Planungen informieren und sie sich in Zukunft bei der Beschaffung und dem Betrieb abstimmen. Und im Rahmen des Europäischen Verteidigungsfonds, der zur Vorstufe eines EU-Verteidigungshaushalts werden soll, werden erstmals EU-Mittel für die gemeinsame Forschung und Beschaffung von militärischen Fähigkeiten bereitgestellt.

Was die EU mit diesen drei Arbeitssträngen erreichen will, bleibt aber unscharf, genauso wie der vielfach in diesem Zusammenhang zitierte Begriff der strategischen Autonomie. Drei Verständnisse kursieren: erstens, die De-facto-Autonomie, die nicht mehr ist als das, was die einzelnen Staaten zustande bringen und auf EU-Ebene zulassen; zweitens, die in der EUGS angestrebte Autonomie, die dem alten Ziel der EU entspricht, im Krisenmanagement von den USA unabhängig zu sein, während kollektive Verteidigung NATO-Aufgabe bleibt; drittens spielen Entscheidungsträger und außenpolitische Eliten mit dem Begriff in eher skizzenhaften Vorstößen für eine eigenständige EU-Verteidigungspolitik bis hin zu einer EU, die de facto die NATO ersetzt. Die realistischen Umsetzungsmöglichkeiten finden hier allerdings wenig Beachtung.

Deutsch-französischer Motor und Minilateralismus

Die EU-Verteidigungsinitiativen sollen ein Zeichen setzen, dass sich die EU als globaler Akteur neu aufstellt und die Integration trotz Brexit und EU-Skepsis wie in Polen und Ungarn weitergeht. Für die Umsetzung setzen die Europäer große Hoffnungen in das deutsch-französische Tandem als Motor. Andere Staaten haben weder Interesse noch das Potenzial, die Führung in der EU zu übernehmen. Paris und Berlin vertreten häufig sehr unterschiedliche Positionen, in denen sich zusammengenommen zahlreiche Staaten wiederfinden. Kompromisse zwischen Deutschland und Frankreich sind oft so schwierig, dass sie nach ihrem Zustandekommen den Weg für eine europäische Einigung ebnen und in der Regel eine Mehrheit der europäischen Staaten repräsentieren. Zudem sind Deutschland und Frankreich die zwei größten Verteidigungsinvestoren in Europa: Sie stellen zusammen etwa 40 Prozent der europäischen verteidigungsindustriellen Basis sowie der militärischen Fähigkeiten.

Neben dem deutsch-französischen Kern für die politische Dimension hat im praktischen Bereich in den vergangenen Jahren die Bedeutung von minilateralen Kooperationsformaten zugenommen. Sie sind zu starken Treibern der Kooperation geworden, wie etwa das deutsche Rahmennationenkonzept oder das deutsch-niederländische Corps. Kleinere Gruppierungen können als Nukleus für größere Kooperationsformate in Europa dienen.

Folgen des Brexit

In diesem größeren Zusammenhang hat der Brexit ambivalente Folgen für Europas Handlungsfähigkeit: Zum einen hat er die verbleibenden EU-Staaten zu mehr Kooperation motiviert. Nicht zuletzt fällt mit London, das lange Fortschritte in der EU-Verteidigungspolitik blockiert hat, ein Bremser weg. Zum anderen verliert die EU mit Großbritannien an militärischer Handlungsfähigkeit: London stellt 20 Prozent der EU-Fähigkeiten allgemein und sogar 25 Prozent in kritischen Bereichen, die nur wenige andere Europäer haben, etwa im Bereich der Nachrichtengewinnung, Überwachung und Aufklärung. Die EU müsste also, allein um ihr bisheriges Ambitionsniveau zu halten, mehr tun als bisher und die Lücke schließen.

Zugleich geht der EU mit Großbritannien ein wichtiger außenpolitischer Impulsgeber verloren. Großbritannien brachte seine strategische Kultur in die EU ein, die sich durch eine globale Perspektive und Ambition auszeichnet. Es ist schwierig zu ermessen, wie sich der Verlust dieser Denkweise auf die EU auswirken wird. Wahrscheinlich ist nicht nur ein Effekt auf die internen Debatten darüber, was die EU wo tun sollte und wie, sondern auch auf den Eindruck, den der Rest der Welt von der EU hat. Externe Akteure könnten die Union als einen weniger ehrgeizigen Akteur wahrnehmen, der mit inneren Angelegenheiten beschäftigt und weniger bereit und fähig ist, global zu agieren.

Auch besteht die Gefahr, dass der Brexit die politische Fragmentierung innerhalb der EU vorantreibt. Für die Gestaltungsmacht der EU kann dies bedeuten, dass sie mehr mit internen Problemen beschäftigt und weniger in der Lage ist, die regionale Ordnung zu gestalten. Die Umsetzung des Brexit wird die EU und Großbritannien lange beschäftigen und das gegenseitige Vertrauen auf die Probe stellen. Ein Europa, das mit sich selbst beschäftigt ist, läuft Gefahr, externe Bedrohungen nicht bearbeiten zu können und auf der internationalen Bühne an Gewicht zu verlieren. Das ist angesichts der aktuellen Herausforderungen und der Unsicherheit über die Rolle der USA beunruhigend.

Welche Verteidigung für Europa?

Angesichts der unklaren US-Politik und des sich gerade vollziehenden strukturellen Wandels ist "mehr Europa" richtig. Es macht die EU sogar zu einem attraktiven Partner für die USA und könnte das amerikanische Interesse an den transatlantischen Beziehungen wieder stärken. Und falls sich die USA abwenden, muss Europa vorbereitet sein.

Der Ruf nach "mehr Europa" übersieht allerdings häufig, wie groß gerade im sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich die Aufgaben sind, wenn die europäischen Staaten die politische und militärische Lücke füllen wollen, die die USA hinterlassen könnten. Hinzu kommt, dass Europa in den vergangenen Jahren kaum in der Lage war, der eigenen hochtrabenden Rhetorik im Verteidigungsbereich Taten folgen zu lassen. "Mehr Europa" ist oft wohlfeil, weil nicht ausbuchstabiert wird, was tatsächlich zu tun ist. Letztlich stehen sowohl EU als auch NATO in einer schwierigen Phase. In beiden stehen Veränderungen an: Wird die NATO schwächer ohne klare Unterstützung durch die USA? Kann die EU zu einem ernstzunehmenden Spieler werden?

Tatsächlich ist die unwichtigste Frage dabei die, ob Europas Verteidigung in Zukunft in der EU oder in der NATO stattfindet. Zwar verbinden die meisten europäischen Staaten, vor allem Deutschland, die Lösung ihrer Sicherheitsprobleme reflexartig mit Institutionen, aber diese haben Grenzen: Die NATO ist eine militärische Verteidigungsgemeinschaft; die wesentlichen Instrumente, um nichtmilitärischen Bedrohungen zu begegnen, liegen in der EU oder bei den einzelnen Staaten. Auch die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik leistet nur einen beschränkten Beitrag zur Sicherheit; hier liegen die Schlüsselinstrumente bei der EU-Kommission und den EU-Mitgliedsstaaten. Hinzu kommt, dass Staaten im Verteidigungsbereich häufig außerhalb von EU und NATO kooperieren, wie etwa Deutschland und die Niederlande bei der Integration ihrer Landstreitkräfte.

Die Frage nach der Institution ist daher irreführend. Die Kernfragen lauten vielmehr: Wie können die Europäer effektive Verteidigung gewährleisten, und wer leistet die Beiträge, um Bevölkerung, Territorium und Staaten zu schützen? Institutionen können Kräfte und Ideen bündeln, doch die verschiedenen Formate koordinieren und politische Führung übernehmen müssen letztlich die Staaten selbst. Folglich gilt es, über eine konzeptionelle Neuausrichtung der europäischen Verteidigung nachzudenken.

ist promovierte Politikwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. E-Mail Link: claudia.major@swp-berlin.org