Im Jahr 1988, zwei Jahre nach Beginn der sogenannten Waldheim-Debatte, stellte der deutsche Soziologe M. Rainer Lepsius eine gewagte These auf: Bei Österreich handle es sich um einen der "Nachfolgestaaten des ‚großdeutschen Reiches‘" – eine damals skandalöse Zuschreibung, die österreichische Staatsräson war ja seit 1945 darauf ausgerichtet, jeden historischen Zusammenhang mit Deutschland in Abrede zu stellen. Aber nur die Bundesrepublik, so Lepsius weiter, habe als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches die Verantwortung für dieses negative historische Erbe übernommen und dieses als "dauernde Mahnung (…) normativ internalisiert". Österreich hingegen sei von der Auffassung geprägt, der Nationalsozialismus gehöre "in die Geschichte Deutschlands, nicht in diejenige Österreichs". Die NS-Vergangenheit konnte so, analog zur Strategie der DDR, "externalisiert" werden. Lepsius’ Fazit: Die Bundesrepublik sei geprägt durch die Anerkennung des Nationalsozialismus als einer "normativen Instanz in der politischen Kultur". Dies sei "in den beiden anderen Nachfolgestaaten nicht der Fall".
Was Lepsius analytisch sezierte, wurde noch prägnanter in der deutschen und internationalen Medienberichterstattung angeprangert. Die Debatte um die Kriegsvergangenheit des ehemaligen UN-Generalsekretärs Kurt Waldheim im Präsidentschaftswahlkampf 1986 brachte Österreichs Umgang mit seiner NS-Vergangenheit in die Schlagzeilen, mit desaströsen Auswirkungen für das Image des Landes. Die neutrale "Insel der Seligen" zwischen den Frontlinien des Kalten Krieges wurde nun zum Land der unbewältigten Vergangenheit. "Österreichs stiller Faschismus" titelte der "Spiegel" im April 1986. Alles, was bislang das positive Bild der "Alpenrepublik" ausmachte – von den Lipizzanern bis zur Mozartkugel –, erschien nun als Fassade, hinter der sich Antisemitismus und Verharmlosung des Nationalsozialismus verbargen – eine Folge der Lebenslüge vom "ersten Opfer" des Nationalsozialismus.
In den folgenden Jahren sollte deutlich werden, dass sich die Grundsatzkonflikte über den Ort des Nationalsozialismus im nationalen Gedächtnis nicht auf die Nachfolgestaaten des "Dritten Reiches" beschränkten. Ende der 1980er Jahre brachen in vielen europäischen Staaten Kontroversen um die bislang ausgeblendete Beteiligung von Teilen der Bevölkerung am NS-Herrschaftsapparat auf, nach 1989 auch in Ländern des ehemaligen "Ostblocks". Im nun einsetzenden Prozess der Neudefinition des Geschichtsbildes der europäischen Nationen
Der britisch-amerikanische Historiker Tony Judt hat in seinem bahnbrechenden Artikel "The Past is another Country. Myth and Memory in Postwar Europe" (1992) nach europäischen Gemeinsamkeiten im Umgang mit den traumatischen Erfahrungen von NS-Terror, Krieg und Holocaust gefragt. Seine Analyse zeigt, dass die "myths of postwar Europe" – ungeachtet der jeweils unterschiedlichen ereignisgeschichtlichen Hintergründe – ein gemeinsames narratives Muster aufweisen: Die NS-Zeit wird als eine von außen aufgezwungene Fremdherrschaft, das eigene Volk als unschuldiges Opfer eines brutalen Okkupationsregimes dargestellt, gegen das sich die mutigen Helden des Widerstands aufgelehnt haben. Die Darstellung der Nation als Opfer und des Widerstands als nationalem Freiheitskampf ermöglichte es den europäischen Nachkriegsgesellschaften durchgängig, die Frage der partiellen Mitwirkung an NS-Verbrechen aus der eigenen Geschichte zu "externalisieren". Für den NS-Terror und insbesondere den Holocaust wurde allein Nazi-Deutschland (beziehungsweise die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin) verantwortlich gemacht.
Das österreichische Gedächtnis, die "spezifisch österreichische Kultur des Erinnerns und Vergessens",
Die offizielle These: "erstes Opfer" des Nationalsozialismus
Im August 1945 fand am Wiener Schwarzenbergplatz die Enthüllung des von der sowjetischen Besatzungsmacht errichteten Denkmals für die Rote Armee statt, die Wien im April 1945 befreit hatte. Bei dieser Feier erklärte der damalige Staatssekretär und spätere Bundeskanzler Leopold Figl (Österreichische Volkspartei, ÖVP): "Sieben Jahre schmachtete das österreichische Volk unter dem Hitlerbarbarismus. Sieben Jahre wurde das österreichische Volk unterjocht und unterdrückt, kein freies Wort der Meinung, kein Bekenntnis zu einer Idee war möglich, brutaler Terror und Gewalt zwangen die Menschen zu blindem Untertanentum."
Figls Rede ist ein typisches Beispiel für die parteienübergreifende "antifaschistische" Haltung der ersten Nachkriegszeit. Die Basis dafür wurde in der Proklamation über die Selbstständigkeit Österreichs vom 27. April 1945 gelegt; die vielzitierte Formulierung "das erste freie Land, das der Hitlerschen Aggression zum Opfer gefallen ist" wurde wörtlich aus der Moskauer Deklaration der alliierten Außenminister vom 30. Oktober 1943 übernommen.
Aus heutiger Sicht wird die Moskauer Deklaration unzulässig in den Zeugenstand gerufen, denn die mit der Formulierung "erstes Opfer" verbundene Aussicht auf eine Wiederherstellung Österreichs diente der psychologischen Kriegsführung beziehungsweise dem weitgehend erfolglosen Versuch, einen österreich-patriotischen Widerstand zu motivieren.
Die Ausstellung "Niemals vergessen!" bildete den Höhe-, aber auch den Schlusspunkt der Gründungserzählung eines aus dem Geist des Antifaschismus wiedererstandenen Österreich. Spätestens 1948, mit dem Beginn des Kaltes Krieges und der Reintegration der ehemaligen Nationalsozialist/inn/en, zeichnete sich ein Richtungswechsel ab. Durch das Nationalsozialistengesetz 1947 erlangten rund 487.000 "Minderbelastete" (etwa 92 Prozent der ehemaligen NSDAP-Mitglieder) wieder das Wahlrecht.
Die veränderte Situation hatte entscheidende Auswirkungen auf die Semantik der Opferthese. Die Würdigung des Widerstands, zentrales Argument zur Untermauerung des in der Moskauer Deklaration von Österreich geforderten "eigenen Beitrags zu seiner Befreiung", fand Ende der 1940er Jahre ein abruptes Ende. Der Widerstand stand nun unter Kommunismus-Verdacht, Denkmäler waren im antikommunistischen Klima der 1950er und 1960er Jahre kaum noch realisierbar.
Vor diesem Hintergrund beriefen sich österreichische Politiker – auch und gerade jene, die in der NS-Zeit als Regimegegner inhaftiert waren – nur noch in der Selbstdarstellung nach außen auf die Opferthese, vor allem als Argument in den Verhandlungen um den Staatsvertrag und zur Abwehr von "Wiedergutmachungs"-Ansprüchen jüdischer Organisationen. In Österreich selbst reduzierte sie sich zunehmend auf den Minimalkonsens: dass das Land mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun gehabt habe. Die österreichische Geschichte endete am 13. März 1938 mit dem Gesetz über die "Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich" und begann wieder am 27. April 1945. Die Jahre dazwischen waren eine Leerstelle, denn sie gehörten zur deutschen (Nationalsozialismus) oder zur Weltgeschichte (Zweiter Weltkrieg). Der Staat Österreich, so die Begründung, war an beiden nicht beteiligt.
Die populistische Antithese: Opfer des Krieges gegen den Nationalsozialismus
In dieser Leerstelle konnte sich eine gegenläufige Opfererzählung etablieren, die jahrzehntelang innerhalb Österreichs weitaus wirkmächtiger war als die offizielle Selbstdarstellung als "erstes Opfer". Die populistische Antithese zum antifaschistischen Geist von 1945 manifestiert sich im "Heldengedenken" an die Gefallenen. In der Unabhängigkeitserklärung waren die österreichischen Wehrmachtssoldaten als Opfer eines "sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg[es]" betrauert worden. Wenige Jahre später wurden sie als "Helden" der "Pflichterfüllung" und der "Tapferkeit" gewürdigt, die die "Heimat" gegen die "Feinde aus dem Osten" verteidigt hätten. Ab Beginn der 1950er Jahre wurden Kriegerdenkmäler für den Ersten Weltkrieg um die Namen der Toten erweitert oder neu errichtet. Die Aufmärsche und "Heldengedenkfeiern" des ab 1952 wieder zugelassenen Kameradschaftsbundes machten deutlich, dass es nicht allein um das Totengedenken, sondern auch um die symbolische Rehabilitierung der Wehrmachtssoldaten ging. Bei der Weihe des 1951 errichteten Denkmals im Soldatenfriedhof des Zentralfriedhofs von Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs, kommentierte die führende regionale Tageszeitung: "Es war eines der traurigsten Zeichen der Nachkriegszeit, daß die Überlebenden das Andenken ihrer Gefallenen auslöschen sollten in selbstzerfleischender Anklage und grausamer Selbstbeschuldigung. Wir können uns nur freuen, daß diese Zeit überwunden ist und daß sich die Heimat durch die Erneuerung und Neugestaltung von Kriegerdenkmälern wieder zu ihren im härtesten Kampf gefallenen Söhnen bekennt."
Die Denkmallandschaft ist ein Indikator für die Durchdringung der österreichischen Gesellschaft mit einem Geschichtsbild, das im Widerspruch zur Opferthese steht. Kriegerdenkmäler zählen zum "selbstverständlichen" Inventar jeder Gemeinde. Das Gefallenengedenken zu Allerheiligen und Allerseelen am 1. und 2. November, gemeinsam getragen von Kirche und Kameradschaftsbund, wurde Bestandteil der lokalen Folklore. Die öffentliche Präsenz von Gedenkstätten für die Opfer der NS-Gewaltherrschaft blieb – außerhalb Wiens – hingegen marginal. Das Gedenken an die mehr als 66.000 jüdischen Österreicher/innen, die der Shoah zum Opfer fielen, sollte aber auch in der Bundeshauptstadt bis in die 1980er Jahre eine Leerstelle bleiben.
Die machtvolle, auf regionaler und lokaler Ebene vielfach hegemoniale Gegenthese zur offiziellen Sprachregelung sah die Österreicher/innen somit nicht als Opfer des Nationalsozialismus, sondern als Opfer des Krieges gegen den Nationalsozialismus – zivile und militärische Opfer der alliierten Armeen, Opfer des Bombenkrieges, Opfer von Vergewaltigungen durch Rotarmisten.
Die gegensätzlichen Sichtweisen brachen fallweise in Denkmalkonflikten auf. So weigerte sich der niederösterreichische Kameradschaftsbund 1963 an der Weihe einer Gedenkstätte für Priester im niederösterreichischen Wallfahrtsort Maria Langegg teilzunehmen, weil in der Namensliste nicht nur Gefallene des Ersten und Zweiten Weltkriegs, sondern auch drei im KZ ermordete Geistliche angeführt waren. Begründet wurde der Boykott folgendermaßen: Die "ehrlichen Soldaten, die das Priesterkleid trugen, ihren Eid hielten und dafür starben", sollten nicht "mit den verschiedenen Erscheinungen gegensätzlicher Art" gleichgestellt werden.
Kontrovers war insbesondere die Beurteilung des Kriegsendes – für die offizielle Opferthese bedeutete das Jahr 1945 die Befreiung vom Nationalsozialismus, für die populistische Gegenthese Bomben, Chaos, Not, Zusammenbruch, Übergriffe der sowjetischen Besatzungssoldaten und den Beginn der zehnjährigen Besatzungszeit. Allerdings war dieses Konfliktpotenzial insofern entschärft, als "1945" seit der Unterzeichnung des Staatsvertrages mit "1955" überschrieben wurde. Bis in die jüngste Zeit war es eine österreichische Besonderheit, dass die "runden" Jahrestage des Kriegsendes in der Geschichtskultur praktisch keine Rolle spielten. Denn in den "5er Jahren" wurde das Jubiläum des Staatsvertrages begangen, als Re-Inszenierung des eigentlichen Gründungsmythos der Zweiten Republik, der Erfolgsgeschichte eines kleinen Landes zwischen den Blöcken, das den Großmächten seine Freiheit abgetrotzt hatte. Damit unterblieb aber auch die Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Jahres 1945. Eine Meinungsumfrage aus dem Jahr 1998 zeigt jedenfalls, dass nicht die Gründung der Zweiten Republik, sondern der 15. Mai 1955 als eigentlicher Tag der Freiheit gilt. 20 Prozent der Befragten waren "stolz" auf diesen Tag, nur ein Prozent votierte für den 27. April 1945.
Von der Entlegitimierung zur Reaktivierung: Transformationen der Opferthese
In der Waldheim-Debatte stand die Formulierung vom "ersten Opfer" als Angelpunkt der österreichischen "Lebenslüge" im Zentrum der Kritik. Dem wäre entgegenzuhalten, dass – wie gezeigt – die Opferthese keineswegs durchgängig den Umgang mit der NS-Vergangenheit bestimmte. Insbesondere nach der Wiedererlangung der vollen Souveränität erschien die Berufung auf den Widerstand, die seit Kriegsende zur Erlangung des Staatsvertrags in Treffen geführt worden war, vielfach obsolet. Nach 1955 mehrten sich zudem deutschnationale und "neonazistische" Manifestationen. Als Fanal für das Wiedererstarken der alten und neuen "Unbelehrbaren" galt die Schillerfeier 1959, als Burschenschaften und deutschnationale Organisationen auf der Wiener Ringstraße einen machtvollen Fackelzug veranstalteten. Zu den zahlreichen "Naziaktivitäten" kamen skandalöse Freisprüche hochrangiger NS-Funktionäre (etwa 1963 im Prozess gegen Franz Murer, den "Schlächter von Vilnius"). Wie bedrohlich die Tendenzen einer "Renazifizierung"
Die offizielle Opferthese blieb von diesen Skandalen und Konflikten nicht unberührt, vielmehr: Sie bezog daraus dynamische Impulse. In den medial ausgetragenen Kontroversen über das Wiedererstarken von Deutschnationalismus, Antisemitismus und NS-nahem Gedankengut formierten sich Gegenpositionen, getragen von konservativ-katholischen Patriot/inn/en, ehemaligen Widerstandkämpfer/inne/n aller politischen Richtungen und jungen Historiker/inne/n der 68er Generation. Die Kritik richtete sich nicht auf die Opferthese, sondern auf ihren Bedeutungsverlust in der politischen Kultur, vor allem im Hinblick auf die mangelnde Anerkennung des Widerstands als Grundlage für das Wiederstehen Österreichs 1945. Es zählt zu den Verdiensten der in der Kreisky-Ära verstärkt institutionalisierten wissenschaftlichen Zeitgeschichte, den vielfach geleugneten oder als kommunistisch diffamierten "österreichischen Widerstand" neu im Geschichtsbewusstsein zu verankern und vor allem in die Schulbücher zu bringen. Erst durch die historisch-politische Bildungsinitiative der 1970er Jahre (unter anderem durch den Grundsatzerlass "Politische Bildung" 1978) wurde die Opferthese des Jahres 1945 in ihrem ursprünglichen anti-nationalsozialistischen Geist reaktiviert. Einen weiteren kaum zu unterschätzenden Einfluss hatte die emotionale Erschütterung durch die Fernsehserie "Holocaust", 1979 kurz nach der Ausstrahlung in der Bundesrepublik auch im ORF gesendet. Dieser Wissenshorizont war prägend für jene Generation, die 1986 den Kampf gegen das Geschichtsbild der Verharmlosung und Verdrängung aufnehmen sollte, das von Kurt Waldheim symbolisiert wurde.
Waldheim-Affäre 1986: das Zerbrechen des Opfermythos und die Europäisierung des österreichischen Gedächtnisses
Im Epizentrum der Waldheim-Affäre stand der berühmte Satz, mit dem sich der ÖVP-Präsidentschaftskandidat gegen den Vorwurf der Verwicklung in Kriegsverbrechen auf dem Balkan rechtfertigte: "Ich habe im Krieg nichts anderes getan als Hunderttausende andere Österreicher, nämlich meine Pflicht als Soldat erfüllt".
Der Waldheim-Skandal und das zwei Jahre danach anlässlich der 50-jährigen Wiederkehr des "Anschlusses" begangene "Gedenkjahr 1938/88" brachten für Österreich jene kathartische Grundsatzdebatte um die verdrängte NS-Vergangenheit
In den 1990er Jahren entwickelte sich eine "Synchronisierung der Gedächtnislandschaften",
1997 wurde – nach deutschem Vorbild – ein Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus beschlossen, mit Zustimmung aller Parlamentsparteien. Allerdings fiel die Wahl nicht auf den 27. Jänner, sondern auf den 5. Mai, den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen – wohl auch um eine Differenz zur Bundesrepublik zu markieren. Am 26. Oktober 2000, zum Datum des Nationalfeiertags, wurde das Holocaust-Denkmal am Wiener Judenplatz enthüllt. Den Medienberichten ist auch eine gewisse Genugtuung darüber zu entnehmen, dass Wien dieses Projekt vor Berlin realisiert hatte. Regierungsvertreter waren nicht geladen, wegen der Regierungsbeteiligung der FPÖ unter Jörg Haider erschien dies unangemessen.
Im Februar 2000 war Wolfgang Schüssel (ÖVP) eine Koalition mit der FPÖ eingegangen. Die erstmalige Regierungsbeteiligung einer rechtspopulistischen Partei in einem Land der EU galt als Verletzung des europäischen Wertekonsenses und führte zu Protesten in ganz Europa. Der Versuch der EU-Mitgliedsstaaten, diesen Tabubruch durch "Sanktionen" zu begegnen, war zwar rasch zum Scheitern verurteilt, führte aber doch dazu, dass sich FPÖ-Obmann Jörg Haider und der ÖVP-Vorsitzende und Bundeskanzler Wolfgang Schüssel auf Verlangen von Bundespräsident Thomas Klestil in einer Präambel zum Regierungsprogramm zu den "grundlegenden Werten der Demokratie in Europa" bekennen mussten. Dazu zählte vor allem auch die Selbstverpflichtung zur "kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit": "Österreich stellt sich seiner Verantwortung aus der (…) Geschichte des 20. Jahrhunderts und den ungeheuerlichen Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes (…) Die Einmaligkeit und Unvergleichbarkeit des Verbrechens des Holocaust sind Mahnung zu (…) Wachsamkeit gegen alle Formen von Diktatur und Totalitarismus. Die Bundesregierung (…) wird für vorbehaltlose Aufklärung, Freilegung der Strukturen des Unrechts und Weitergabe dieses Wissens an nachkommende Generationen als Mahnung für die Zukunft sorgen."
Es ist wohl kein Zufall, dass der Ton dieses Bekenntnisses an die Stockholm Declaration vom 27. Januar 2000 erinnert, unterzeichnet von mehr als zwanzig Staats- und Regierungschefs beim Stockholm International Forum on the Holocaust, einer der ersten hochrangigen internationalen Konferenzen des neuen Jahrtausends. Bei dieser Konferenz wurde erstmals auf hochrangiger politischer Ebene der Holocaust als singuläres historisches Ereignis und Bezugspunkt einer europäischen und potenziell globalen Erinnerungskultur gewürdigt.
Angesichts der Orientierung der österreichischen Erinnerungskultur am europäischen beziehungsweise globalen Holocaust-Gedächtnis
Auf die Agenda geriet dieses Datum paradoxerweise durch die seit 2002 von schlagenden Burschenschaften abgehaltene Totenehrung am 8. Mai in der Krypta des österreichischen Heldendenkmals für die Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs im Äußeren Burgtor der Wiener Hofburg. Im April 2002 hatten Rechtsextreme und Burschenschaften auf dem Heldenplatz gegen die Wehrmachtsausstellung demonstriert, mit Plakaten, auf denen "Großvater wir danken dir" und "Wehrmachtssoldaten – wir gedenken Eurer Heldentaten" zu lesen war. Am 8. Mai 2002 wurde erstmals eine Totengedenkfeier für die Wehrmachtssoldaten abgehalten, die auf starke öffentliche Kritik stieß. Bis 2012 wiederholte sich jährlich das gleiche Schauspiel: Der Heldenplatz wurde am 8. Mai weiträumig abgesperrt, Gegendemonstrationen der Zugang zum Platz verweigert. Die Burschenschaften wurden durch ein massives Polizeiaufgebot abgeschirmt und konnten den Platz exklusiv für ihre provokante Heldenehrung nutzen. 2012 organisierter eine Plattform zivilgesellschaftlicher Initiativen ein "Fest der Befreiung", dem ein Teil des Heldenplatzes zugestanden wurde. Seit 2013 wird der Tag des Kriegsendes mit einem "Fest der Freude" auf dem ganzen Heldenplatz gefeiert, das Bundesheer beteiligt sich daran mit einer Mahnwache für die Opfer des Nationalsozialismus.
Der Konflikt um den 8. Mai am Heldenplatz mag dazu beigetragen haben, dass 2015 nicht der Staatsvertrag, sondern erstmals das Kriegsende im Vordergrund stand. Der Festakt zum 70. Jahrestag der Gründung der Republik Österreich eröffnete den Rahmen für eine Grundsatzerklärung von Bundespräsident Heinz Fischer: "Hat es nicht lange Zeit Streit über die Frage gegeben, ob Österreich 1945 tatsächlich befreit wurde, oder ob es nicht eher aus der Unfreiheit in Großdeutschland in die Unfreiheit durch die Besatzungsmächte geraten ist? Die klare Antwort lautet wie folgt: Österreich ist 1945 von einer unmenschlichen verbrecherischen Diktatur befreit worden."
Schluss
2018 begeht Österreich wieder ein Gedenkjahr – 100 Jahre Ausrufung der Republik, 70 Jahre "Anschluss". Die Rahmenbedingungen haben sich durch die Regierungsbeteiligung der FPÖ abermals verändert. Die FPÖ hatte aus ihren historischen Verbindungen zum Lager der "Ehemaligen" nie ein Hehl gemacht, und Jörg Haider hatte sich auch durch Tabubrüche in Bezug auf Nationalsozialismus und Antisemitismus profiliert. Erstaunlicherweise zählte der Beschluss zur Errichtung von zwei bereits länger geplanten Denkmälern – eine Mauer mit den Namen der Holocaust-Opfer in Wien und das Denkmal für die in Maly Trostenez ermordeten Österreicher/innen – zu den ersten Aktivitäten der ÖVP-FPÖ-Regierung. Seit Jahresbeginn erregten allerdings immer wieder antisemitische "Vorfälle" in der FPÖ und den ihnen nahestehen deutschnationalen Burschenschaften Aufsehen.
Ob Gedenkfeiern für die Opfer des Nationalsozialismus weiterhin eine Reibungsfläche bleiben, wird sich in den kommenden Jahren zeigen. Am österreichischen Beispiel zeichnet sich jedoch ab, dass der moralische Imperativ der Erinnerung an den Holocaust – die Verpflichtung zum Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus – Auflösungserscheinungen zeigt. Das Holocaust-Gedenken ist mittlerweile zu einem symbolischen Kapital offizieller Geschichtspolitik geworden, die Orientierung an den damit verbundenen normativen Werten ist nicht mehr zwingend notwendig. Das zeigt nicht zuletzt die eindrucksvolle Gedenkrede von FPÖ-Parteiobmann und Vizekanzler Heinz-Christian Strache bei einer neu etablierten Wiener Gedenkfeier am Tag der Internationalen Befreiungsfeier in Mauthausen.