Im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes (GG) findet sich über den Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung hinaus kein ausdrücklicher Bezug aufs Wohnen. Die Väter und Mütter des GG waren der Ansicht, dass einklagbare soziale Grundrechte in der Verfassung nicht verankert werden sollten. Dahinter stand das Verständnis, dass soziale Menschenrechte vor allem Leistungsrechte seien und es dem demokratischen Gesetzgeber vorbehalten sein sollte, die Sozialpolitik auszugestalten.
Ohne verfassungsmäßigen Schutz sind die sozialen Menschenrechte in Deutschland dennoch nicht. Aus der Menschenwürdegarantie in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des GG ergibt sich ein Regelungs- und Gestaltungsauftrag für die Politik. So ist zwingend geboten, dass der Staat die Grundvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein sichert. Das zu garantierende "Existenzminimum" umfasst auch das Wohnen. Entsprechende Ansprüche verankert und konkretisiert das Sozialrecht. Es sieht etwa – prinzipiell einklagbare – Zuschüsse für angemessene Wohnung, Wohngeld und Wohnungshilfen vor. Auch das Antidiskriminierungsrecht und der im internationalen Vergleich robuste Mietrechtsschutz enthalten einschlägige Schutzbestimmungen, die vor Gericht geltend gemacht werden können. Selbst das Polizei- und Ordnungsrecht der Bundesländer ist relevant, sofern sich daraus ein Unterbringungsanspruch für wohnungslose Menschen ergibt. Auf Grundlage der jeweiligen Zustimmungsgesetze werden zudem internationale Menschenrechtsverträge völkerrechtlich anerkannt und ins innerstaatliche Recht (im Rang eines Bundesgesetzes) einbezogen.
Menschenrecht Wohnen
Als Teil des Rechts auf angemessenen Lebensstandard ist das right to housing bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) von 1966 verankert, der 1976 in Kraft trat. Auch weitere Kernabkommen des UN-Menschenrechtsschutzes enthalten staatliche Pflichten zur Umsetzung des Rechts auf Wohnen. Solche ("objektiven") Staatenpflichten sind zwar nicht gleichbedeutend mit einem individuell einklagbaren ("subjektiven") Rechtsanspruch. Doch erachten die UN-Kontrollausschüsse soziale Menschenrechte inzwischen als hinreichend bestimmbar und grundsätzlich geeignet, um diese auch in Beschwerde- oder Gerichtsverfahren geltend zu machen. Gerade ungerechtfertigte Eingriffe, offenkundiges Untätigsein bei Notlagen oder diskriminierendes Handeln des Staates lassen sich prinzipiell auch (quasi)gerichtlich überprüfen. Indes nehmen deutsche Gerichte kaum auf völkerrechtlich verankerte soziale Menschenrechte Bezug. Auch lässt die Bundesregierung noch keine Individualbeschwerden zum UN-Sozialpakt zu, nicht zuletzt wegen einer diffusen, eher unbegründeten
Inhalt des Menschenrechts
Was verbirgt sich hinter dem Menschenrecht auf Wohnen? Inhaltlich wird das Recht in den einschlägigen Menschenrechtsabkommen nicht näher bestimmt. Daher hat der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR), der die Umsetzung des UN-Sozialpaktes überwacht, den inhaltlichen (materiellen) Gehalt des Rechts auf Wohnen und die sich daraus ergebenden Staatenpflichten in allgemeinen Kommentaren
Das Menschenrecht auf Wohnen fordert, erstens, dass hinreichend Wohnraum, inklusive der notwendigen Infrastrukturen wie Strom und Wasser, verfügbar sein soll. Ungeachtet der Form der Unterkunft soll, zweitens, allen Menschen der rechtliche wie faktische Schutz vor staatlichen und privaten Eingriffen in ihren Wohnraum gewährt werden. Der Schutz bezieht sich nicht nur auf Wohneigentum und -miete, sondern auch auf Not- und Flüchtlingsunterkünfte sowie auf informelle Siedlungen. Über das Recht auf Wohnsitzfreiheit hinaus muss, drittens, der Zugang zu Wohnraum prinzipiell allen offenstehen und darf nicht bestimmten Gruppen in diskriminierender Weise vorenthalten werden. Auch sollen die Unterkünfte bezahlbar sein, ohne dass andere Grundbedürfnisse darunter leiden. Der Wohnraum soll, viertens, Mindestbedingungen an Bewohnbarkeit, Gesundheit und Sicherheit erfüllen und der kulturell bedingten Vielfalt des Wohnens Rechnung tragen. Völkerrechtlich gesehen, trägt der Staat die Hauptverantwortung für die Umsetzung des Menschenrechts (wobei es keine Rolle spielt, wie die Kompetenzen innerhalb des jeweiligen Staates verteilt sind).
Entgegen landläufiger Missverständnisse ist das Menschenrecht auf Wohnen nicht nur ein Leistungsrecht; ihm kommt auch eine Abwehr- und Schutzfunktion zu. Der Staat darf die Menschen nicht an der Ausübung ihres Rechts auf Wohnen hindern (Achtungspflichten) und muss diese zugleich vor nichtstaatlichen Eingriffen in ihre Rechte schützen (Schutzpflichten). So dürfen staatliche Organe beispielsweise Menschen nicht willkürlich aus ihren Unterkünften vertreiben – oder zulassen, dass dies andere tun. Ebenso müssen sie diskriminierende oder andere Praktiken unterlassen oder unterbinden, in deren Folge bestimmten Bevölkerungsgruppen der Zugang zu angemessenem Wohnraum verwehrt oder erschwert wird. Auch der Schutz vor wüsten Spekulationen mit Land und Wohnraum fällt unter die Schutzpflichten des Staates. Zugleich ist der Staat gefordert, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Menschen ihr Recht auf Wohnen tatsächlich nutzen können (Gewährleistungspflichten). Im Rahmen seiner Möglichkeiten sollen Maßnahmen ergriffen werden, um fortschreitend die Verfügbarkeit angemessenen öffentlichen und/oder privaten Wohnraums sicherzustellen und die prekäre Wohnsituation gerade bedürftiger und benachteiligter Menschen zu verbessern. Auch muss der Staat für die Unterbringung in Not geratener Personen sorgen.
Globale Brisanz
Die Brisanz des Rechts auf Wohnen erschließt sich rasch im globalen Maßstab. Das Menschenrecht nimmt das Wohnelend jener unzähligen Menschen weltweit in den Blick, die über keine angemessene Unterkunft verfügen und vielfach in Armutsvierteln, informellen Siedlungen oder unter anderen prekären und menschenunwürdigen Verhältnissen leben.
Handlungsbedarf in Deutschland
Angesichts des unfassbaren Wohnelends weltweit mögen die Wohnprobleme in Deutschland vorderhand nachrangig anmuten. Doch auch hierzulande lässt sich Handlungsbedarf ausmachen, um das Menschenrecht auf Wohnen umfassend zu achten, zu schützen und möglichst umfänglich zu gewährleisten.
Wohnungslosigkeit
International besteht keine einheitliche Erfassung von Wohnungslosigkeit. Über Obdachlose, die auf der Straße leben, hinaus werden in den allermeisten OECD-Staaten auch solche Menschen erfasst, die sich in Wohnungslosen- oder Notunterkünften befinden. Oft gelten auch Menschen, die mangels eigener Wohnung in non-conventional dwellings oder bei Familien und Freunden wohnen, als wohnungslos. Eher selten werden Insassen von Institutionen (Gesundheitseinrichtungen, Gefängnisse) dazu gezählt, die über keine eigene Wohnung verfügen. Je nach Definition und Erhebung variiert der Anteil der Wohnungslosen an der Bevölkerung, liegt aber in OECD-Staaten offiziell unter einem Prozent – was in absoluten Zahlen dennoch eine beachtliche Anzahl an Menschen ist.
In Deutschland gibt es, im Gegensatz zu etlichen anderen europäischen Ländern, keine offizielle, bundesweite Statistik zur Zahl der Menschen, die ohne vertraglich abgesicherten Wohnraum wohnungslos sind oder als Obdachlose auf der Straße leben.
Selbst eingedenk der methodischen Probleme solch komplexer Schätzungen ist offenkundig: Der Staat, vom Bund bis zu den Kommunen, steht menschenrechts- und sozialpolitisch in der Verantwortung, Wohnungsnothilfe zu leisten und Maßnahmen zu verstärken, um Wohnungsverluste zu vermeiden und wohnungslose Menschen wieder mit eigenen Wohnungen zu versorgen. Denn Wohnungslosigkeit ist eine soziale Notlage und beeinträchtigt ein ganzes Bündel an Menschenrechten (wie Wohnen, Privatsphäre, Schutz der Familie). Dabei hat sich gerade in größeren Städten ein vielfältiges Hilfesystem herausgebildet, das von Streetwork und "Wärmestuben" bis hin zu kurz-, mittel- oder langfristigen Unterbringungen reicht.
Wohnkosten und Wohnungsnot
Wohnen ist in Deutschland für eine wachsende Zahl an Menschen kaum mehr bezahlbar, ohne dass andere Grundbedürfnisse (wie Ernährung, Gesundheit) darunter leiden. Laut der European Federation of National Organisations Working with the Homeless (FEANTSA) wendet hierzulande etwa die Hälfte der als "arm" klassifizierten Haushalte mehr als 40 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für das Wohnen auf. Es gebe nur zwei EU-Länder, namentlich Bulgarien und Griechenland, in denen arme Haushalte noch stärker durch Wohnkosten überlastet seien.
Das Menschenrecht auf Wohnen schreibt den Staaten zwar nicht vor, was sie konkret zu tun haben, um die menschenrechtlich geforderte Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von bezahlbarem Wohnraum zu gewährleisten. Aber den Schutz vor Mietwucher und massiven Mietpreisanstiegen umfasst das Menschenrecht auf Wohnen schon, zumal dann, wenn der Zugang zu Wohnraum gefährdet ist.
Eine gewaltige Herausforderung ist nun, die begangenen wohnungspolitischen Fehler zu revidieren. Dazu gehören der Erhalt noch bestehender Wohnungsbestände zu sozial verträglichen Mietpreisen sowie die Ankurbelung des – geförderten oder frei finanzierten – Neubaus von preiswertem Wohnraum, gerade zur Miete, vor allem in Ballungsgebieten. Die vielfältigen, von Bund, Länder und Kommunen inzwischen ergriffenen Maßnahmen sind, gemessen am Bedarf, gewiss noch zu verstärken. Übergeordnet ist zudem eine konsequente Armutsbekämpfung wichtig. Überlastung durch Wohnkosten und Wohnungsnot treffen vor allem jene, die nicht (mehr) im Arbeitsprozess eingebunden oder im Niedriglohnsektor tätig sind – und zugleich in Ballungsgebieten leben. Radikalere Vorschläge sehen vor, den Wohnungsbestand in Form von kommunalem, gemeinnützigem oder genossenschaftlichem Wohnbesitz dauerhaft "den Verwertungslogiken von Marktakteuren" zu entziehen.
Zwangsräumungen
In Deutschland muss alljährlich eine statistisch nicht dokumentierte Anzahl an Menschen wegen erfolgreicher Räumungsklagen und vollzogener Räumungstitel ihre Wohnung verlassen.
Diskriminierung
Nicht-Diskriminierung ist ein grundlegendes menschenrechtliches Prinzip, das auch für das Recht auf Wohnen gilt. Gefordert sind daher effektive Maßnahmen gegen Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt, die auch in Deutschland Alltag sind. Zum einen wirken sich Verschuldungen, Schufa-Einträge, geringe Einkommen, der Bezug öffentlicher Transferleistungen oder auch der Familienstand (etwa bei alleinerziehenden Frauen) negativ bei der Wohnungssuche aus. Zum anderen spielen ausländische Herkunft, ausländisch klingende Namen, die Hautfarbe, fehlende Deutschkenntnisse, ein unsicherer Aufenthaltsstatus sowie ethnisch-kulturelle Zuschreibungen eine Rolle.
Barrierefreies Wohnen
Die UN-Behindertenrechtskonvention zielt darauf, dass alle Menschen mit Behinderungen das Recht und die Möglichkeit haben, gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft zu leben. Dazu gehört auch, dass sie selbst bestimmen, wo, wie und mit wem sie wohnen – und dass sie nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben. Obwohl im Bereich des ambulant unterstützten Wohnens seither einiges geschehen ist, forderte der UN-Behindertenrechtsausschuss Deutschland 2015 auf, soziale Assistenz und ambulante Dienste in der Gemeinde auszubauen, um Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.
Flüchtlingsunterkünfte
Dass angesichts hoher Flüchtlingszahlen viele Asylsuchende in den Jahren 2015 und 2016 in provisorischen Unterkünften unter prekären Bedingungen leben mussten, braucht nicht eigens ausgeführt zu werden. Immerhin konnte so die Obdachlosigkeit von Flüchtlingen vermieden werden, die teils in anderen europäischen Staaten zu beklagen war (und ist). Es stellt sich die Frage, ob mit abnehmenden Flüchtlingszahlen nunmehr die reguläre Unterbringung menschenrechtskonform ausgestaltet ist.
Aus dem Gesagten ergeben sich gleich mehrere menschenrechtspolitische Forderungen: erstens, Menschen, sofern und sobald wie möglich, nicht in großen Sammelunterkünften unterzubringen; zweitens, die bestehenden Unterkünfte so menschenrechtskonform wie möglich auszugestalten; drittens, Flüchtlinge und ihre Unterkünfte angemessen zu schützen.
Impulse
Ist in einem ausgebauten Wohlfahrtsstaat wie Deutschland der Bezug auf ein Menschenrecht auf Wohnen nötig und sinnvoll? Gewiss, denn anhand der Menschenrechte lassen sich in dem – für die Menschenwürde so wichtigen – Bereich des Wohnens bestehende Schutzlücken, Problemlagen, Handlungserfordernisse und Verbesserungsmöglichkeiten erkennen. Als wichtiger Maßstab dient dabei der offene, diskriminierungsfreie und bezahlbare Zugang zu angemessenem Wohnraum, dessen Verfügbarkeit und Nutzung zu gewährleisten und zu schützen ist. Gegenläufigen, ausgrenzenden Tendenzen ist entschieden entgegenzusteuern. Der Rekurs auf das Menschenrecht auf Wohnen und damit verbundene Staatenpflichten verleiht entsprechenden gesellschaftspolitischen Forderungen zusätzlich Schubkraft und Legitimität. Verstärken ließe sich dieser Effekt, wenn die Gerichte völkerrechtlich verankerte soziale Menschenrechte umfassender berücksichtigen würden. Politik und Rechtsprechung täten gut daran, diese Impulse aufzugreifen.