Akute Krankheiten zu behandeln ist gut. Zu verhindern, dass Krankheiten überhaupt auftreten, erscheint allerdings noch besser. Diese Einsicht ist nicht neu, sondern bestimmte bereits den Kampf gegen Infektionskrankheiten im 19. und 20. Jahrhundert, der in den Industrieländern sehr erfolgreich verlaufen ist. Krankheiten werden also schon seit längerer Zeit sowohl mit behandelnden als auch mit präventiven Maßnahmen bekämpft. Für den Fortschritt auf beiden Gebieten haben technische Innovationen in der Vergangenheit eine zentrale Rolle gespielt, seien es nun Antibiotika oder Impfstoffe, um nur zwei Beispiele aus der Pharmazie zu nennen. Das hat sich bis heute nicht geändert, medizinischer Fortschritt meint in der Regel (medizin)technischen Fortschritt.
Mit dem Erfolg im Kampf gegen Infektionskrankheiten rückten im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer mehr die sogenannten Volks- oder Zivilisationskrankheiten ins Zentrum der medizinischen und gesundheitspolitischen Aufmerksamkeit. Zu ihnen zählen insbesondere chronische Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes sowie Krebs, degenerative und zunehmend auch psychische Erkrankungen. Diese Krankheiten mit (medizin)technischen Innovationen in den Griff zu kriegen, erwies sich trotz durchaus vorhandener Fortschritte als deutlich schwieriger, sodass sie bis heute das Krankheitsgeschehen in Industrieländern wie Deutschland bestimmen. Durch ihre multifaktoriellen Ursachen scheinen sie schlicht zu komplex für einfache technische Lösungen. Da sie zudem sozial sehr ungleich verteilt sind, wurde früh deutlich, dass die Lebensumstände und Verhaltensweisen eine zentrale Rolle bei Entstehung und Verlauf der Krankheiten spielen.
Im Kontext dieser Herausforderungen und Einsichten kam es schon bald zu einer bedeutsamen Innovation, allerdings keiner technischen, sondern einer sozialen: die Entwicklung und Anwendung des Konzepts der Gesundheitsförderung. Im Jahr 1986 programmatisch von der Weltgesundheitsorganisation in der Ottawa-Charta formuliert,
Mit diesen Konzepten und der daran anknüpfenden jahrzehntelangen gesundheitswissenschaftlichen Forschung und Praxis verfestigt sich eine Entwicklung weg von einer kurativen, zunehmend als reaktiv wahrgenommenen "Reparatur"-Medizin hin zu einem ganzheitlicheren, Krankheit vermeidenden und Gesundheit stärkenden Versorgungsansatz. 2015 wurde vom Deutschen Bundestag – nach einigen vergeblichen Anläufen – sogar ein Präventionsgesetz verabschiedet, das diese Entwicklung bestätigt und verstärkt.
P4-Medizin
Die Vertreter dieser Vision sprechen explizit von einer "Revolution in der Medizin, die aus einer reaktiven eine proaktive Disziplin macht, deren Ziel es nicht mehr ist, einfach nur Krankheiten zu behandeln, sondern das Wohlbefinden jedes Einzelnen zu maximieren".
In Deutschland wird die P4-Medizin vor allem unter den Begriffen "personalisierte" oder "individualisierte" Medizin diskutiert. Diese Adjektive sind jedoch irreführend, weil es eben nicht um eine Behandlung geht, die auch die individuelle psychosoziale Situation von Patienten und Patientinnen in den Blick nimmt, sondern allein um deren molekularbiologische Verfasstheit.
Mit Blick auf die bereits realisierten Aspekte erscheint die P4-Medizin weniger revolutionär als versprochen. Sie bekämpft Krankheiten, indem sie sie behandelt oder durch Früherkennung und daran anschließende Maßnahmen zu verhindern sucht. Sie tut also das, was die Medizin schon immer getan hat, nur eben mit gen- und biotechnologischen Mitteln. Wie sehr diese Technologien die medizinisch-ärztliche Praxis verändern, wird stark davon abhängen, inwiefern die medizinische Profession an ihrer Aufgabe festhält, hilfs- und beratungsbedürftigen Menschen bei der Bewältigung ihrer gesundheitsbezogenen lebenspraktischen Probleme zu helfen. Bei der prädiktiven Gendiagnostik scheint dies bisher der Fall zu sein.
Weitergedacht impliziert die Vision der P4-Medizin allerdings auch die Vorstellung, dass alle Menschen, sobald sie über ihre individuellen molekularbiologischen Veranlagungen und Risiken Bescheid wissen, auch Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen und ihre alltäglichen Verhaltensweisen entsprechend anpassen (sollten). Hier scheint die Vision der P4-Medizin das eigentliche präventive Potenzial zu vermuten, das allerdings allein auf dem Ansatz der Verhaltensprävention basiert und eine Veränderung von Lebensbedingungen (Verhältnisprävention) unberücksichtigt lässt. Kritik entzündet sich vor allem daran: Auf diese Weise werde dem Einzelnen alle Verantwortung aufgebürdet und er im Krankheitsfall tendenziell für schuldig gehalten, weil er doch offensichtlich nicht genügend präventiv aktiv gewesen sei. Darüber hinaus wird eine Biomedikalisierung befürchtet, durch die nicht nur die Gesundheit, sondern alle Aspekte des Lebens eine biomedizinische Redefinition erfahren.
Digitale Gesundheit
Wenn von der "digitalen Revolution" im Gesundheitswesen gesprochen wird,
Während Big Data eher unbestimmt Fortschritte sowohl im Bereich der Therapie als auch der Prävention verspricht, scheinen die beiden anderen Aspekte deutlich anschlussfähiger an das Konzept der Gesundheitsförderung als die Vision der P4-Medizin. Das liegt daran, dass sie die professionelle Medizin oft nur am Rande behandeln und stattdessen am Empowerment, an den Gesundheitskompetenzen und am alltäglichen Gesundheitsverhalten des Einzelnen ansetzen. Tatsächlich können Aktivitäten der Selbstvermessung so gestaltet sein, dass sie selbstbezogenes Gesundheitswissen produzieren und insofern zu einer Selbstexpertisierung führen. Empirisch ist das allerdings eher die Ausnahme.
An solchen Praktiken und Technikangeboten wird kritisiert, dass sie den Druck auf den Einzelnen, sich vorgegebenen Normen zu unterwerfen, stark erhöhen und einer weiteren Ökonomisierung des Sozialen Vorschub leisten, die aus jedem Menschen einen Manager oder Unternehmer seiner selbst macht.
Enhancement
Enhancement meint die technisch induzierte Verbesserung oder Optimierung der Gesundheit oder des menschlichen Körpers; und zwar über das normale, als gesund oder natürlich empfundene Maß hinaus. Dies unterscheidet Enhancement von Therapie, die die Wiederherstellung der Gesundheit zum Ziel hat. Mehr noch als die beiden zuvor diskutierten Technikvisionen ist Enhancement ein Oberbegriff, unter dem sich diverse Visionen, aber auch Utopien versammeln. Bereits praktisch angewendet werden Techniken aus dem Bereich des Neuro-Enhancements, wie etwa das Arzneimittel Ritalin, das einerseits in der Therapie von ADHS eingesetzt, andererseits aber von einigen Studierenden zur (vorübergehenden) kognitiven Leistungssteigerung genutzt und daher auch "Gehirn-Doping" genannt wird. Noch weiter gehen Visionen, die den menschlichen Alterungsprozess verlangsamen oder gleich ganz "abschaffen" wollen. In den Bereich des Utopischen fallen schließlich Zukunftsideen der Transhumanisten, wie beispielsweise den Menschen über Prothesen und Implantate in einen Cyborg (ein Hybridwesen aus Mensch und Maschine mit entsprechend übermenschlichen Fähigkeiten) zu verwandeln oder sein Bewusstsein zu digitalisieren, um seine Intelligenz über Upgrades künstlich zu steigern.
Es ist offensichtlich, dass die angedeuteten Praktiken und Ideen weit über das hinausgehen, was eingangs unter Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung beschrieben worden ist. Auch scheint das Ziel unbestimmter, weil es sich eben nicht in "normaler" Gesundheit erschöpft. Gleichwohl ist zu erwarten, dass sich viele Enhancement-Technologien in ihrer Wirkungsweise an medizinischen Techniken orientieren und sich künftig notwendige Regulierungsmaßnahmen eng an die bestehenden Strukturen im Gesundheitswesen anlehnen werden.
Fazit
Nicht nur der gesundheitspolitische Diskurs, auch aktuelle technische Visionen für Medizin und Gesundheit weisen weg von einer kurativen, auf Heilung fokussierten Medizin hin zu einer präventiven Perspektive, die Gesundheit stärkt bis optimiert – ohne dass dies die Behandlung akuter Krankheiten obsolet machen würde. Während die P4-Medizin zwar neue biotechnologische Mittel einsetzt, aber trotzdem weitgehend Therapie und Prävention gleichermaßen in Betracht zieht, um die modernen Zivilisationskrankheiten zu bekämpfen, bedient die Vision der digitalen Gesundheit weitaus stärker die Idee eines über das klassische Medizinsystem hinausgehenden Gesundheitswesens mit gesundheitskompetenten und sich gesundheitsbewusst verhaltenden Menschen. Noch weiter von der medizinischen Heilkunde entfernt haben sich Enhancement-Visionen, in denen es allerdings im Kern weniger um Gesundheitsoptimierung als um die Steigerung menschlicher Fähigkeiten über das Normalmaß hinaus geht. Welche Technikvision auch immer in Zukunft wirkmächtiger wird, die gesellschaftlichen Implikationen gilt es in jedem Fall zu reflektieren und bei der Gestaltung der Entwicklung zu berücksichtigen.