Krankheit ist ein soziales Ereignis. Wir erfahren Krankheit in unserem Alltag als bösartige Einschränkung durch Leid und/oder Schmerzen und sind deswegen bereit, für eine bestimmte Zeit – etwa im Krankenhaus – noch erheblich weiter reichende Einschränkungen und Regulierungen unseres alltäglichen Lebens zu akzeptieren, wenn dies die Heilung und das Ende der krankheitsbedingten Einschränkungen verspricht. Dafür erwarten wir Verständnis von unserer Umgebung und akzeptieren üblicherweise auch Einschränkungen, die uns die Erkrankungen anderer bereiten.
Krankheit ist auch ein Bedürfnis nach Hilfe und Unterstützung. Sucht man nach den verschiedenen historischen Organisationsformen der Unterstützung für Kranke, stößt man bald auf die charakteristische Doppelrolle der Medizin: Medizin leistet nicht nur Hilfe, sondern ist wesentliche Instanz für die Unterscheidung von Gesunden und Kranken; sie veranlasst und begründet somit ihr eigenes Handeln, wie auch das von Individuen und Gemeinschaften. Der historische Blick zeigt zudem, dass Krankheitsbegriffe und Unterscheidungskriterien sich, abhängig von historischen und gesellschaftlichen Umständen, kontinuierlich wandeln und kein überzeitlicher Krankheitsbegriff existiert.
In diesem Sinne gilt es, zu untersuchen, von welchen Krankheitsbegriffen die Menschen jeweils ausgingen. Gerade in der Abgrenzung von Gesundheit und Krankheit verleiht eine Gesellschaft ihren grundlegenden Norm- und Idealvorstellungen vom Menschen Form; Medizin macht diese im jeweils aktuellen Wissen vom Menschen wie auch in ihrer medizinischen Praxis explizit. Auch als historischer Vorgang medizinischer Begriffsbildung ist Krankheit somit ein soziales Ereignis. Anhand der fünf Beispiele Aussatz, Gesundheitsfürsorge, psychische Krankheit, Geschlecht und Eugenik, die von alttestamentarischer Zeit bis ins 20. Jahrhundert reichen, beleuchten wir im Folgenden verschiedene Aspekte des gesellschaftlichen Umgangs mit Krankheit in Deutschland, vor allem aber mit den erkrankten Menschen.
Aus-Satz
Ein frühes und besonderes drastisches Beispiel für den Umgang mit Erkrankten ist die Lepra: Bereits seit dem Mittelalter werden Leprose im Deutschen als "Aussätzige" bezeichnet, seit dem 16. Jahrhundert bürgerte sich die deutsche Bezeichnung "Aussatz" als Krankheitsbezeichnung ein. Die rigide Trennungsregel, die eine strikte wohnliche Trennung zwischen Leprakranken und Gesunden fordert, geht vordergründig auf das Alte Testament zurück.
Erst mit der Drucklegung der antiken Texte zu Beginn der Neuzeit wurde die begriffliche Verknotung des Lepra-Begriffes fassbar – und als erhebliches Problem erkannt. Wenn Ärzten die Aufgabe zukam, die "lepra" einwandfrei zu identifizieren, bedurfte es eines halbwegs klaren und unstrittigen Begriffs, was denn die "lepra" war, und wie daran Erkrankte zuverlässig erkannt, und anschließend aus-gesetzt werden könnten. Der biblische Text, die medizinische Überlieferung seit der Antike und die beobachteten Krankheitsphänomene ließen sich nicht widerspruchsfrei unter einen Begriff subsumieren. Schließlich firmierte der Aussatz seit dem frühen 16. Jahrhundert unter den "Unreinigkeiten der Haut" gemeinsam mit der "Räude" und der "Krätze".
Die Figur des Ausgesetzten als des Ärmsten unter den Armen, denen sich Christus mit besonderer Hingabe widmet, findet sich im Neuen Testament und tauchte in der Folge regelmäßig auch in Heiligenviten auf.
Mehr und mehr verloren die Leprosen somit ihren Sonderstatus gegenüber anderen Erkrankten; die Leprosorien gerieten in den Ruf, vorwiegend als Unterschlupf für faules und verbrecherisches Gesindel zu dienen. Höhepunkt war der Prozess gegen die "Große Siechenbande" 1710–1712 in Düsseldorf, auf den die Schließung sämtlicher Leprosorien der niederrheinischen Herzogtümer Jülich und Berg, bald darauf auch in Kurköln folgte.
Krankheit und Armut
Annähernd zeitlos scheint auch die Debatte über Armut und Krankheit. Dass mangelhafte Lebensumstände – allen voran Hunger – unmittelbar oder auch mittelbar zu Krankheiten und Tod führen, liegt auf der Hand. Wenn aber umgekehrt Armut definitorisch den Rang einer Krankheit erlangt, wie in der Präambel der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 1946 ("Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens"), wird eine Analyse des spezifischen Verhältnisses von Armut und Krankheit unmöglich.
Zusammenhänge zwischen Armut und Krankheit wurden schon im Mittelalter berücksichtigt: So prüften Hospitäler die "Hospitalfähigkeit" der um Aufnahme Nachsuchenden, wobei Krankheit ein bevorzugter Aufnahmegrund war, und Bettel- und Almosenordnungen des Spätmittelalters unterschieden zwischen den "unwürdigen", weil "faulen", und den "würdigen" Bettlern, wobei erneut Krankheit ein vorrangig akzeptabler Grund für die Bettelerlaubnis wurde.
Vor dem Hintergrund aufklärerischer Vorstellungen von "Nützlichkeit" wurde Gesundheit gegen Ende des 18. Jahrhunderts zur ersten Bürgerpflicht. In seiner programmatischen Schrift "Von den Vortheilen der Krankenhäuser für den Staat" (1790) erklärte Adalbert Friedrich Markus, Leibarzt des Fürstbischofs von Würzburg und Bamberg, Armut und Krankheit zu den mächtigsten Feinden der menschlichen Natur, "welche auf Kosten des Staates großes Verderben anrichten".
Die Bedeutung staatlicher und kommunaler Fürsorge-Institutionen verstärkte sich seit dem 19. Jahrhundert, als in bis dahin nicht gekanntem Maße Menschen in die Zentren der Industrialisierung wanderten. Sobald sie auf dem Weg erkrankten oder, etwa aufgrund von (Arbeits-)Unfällen, nicht weiter arbeiten konnten, fehlten die traditionellen Versorgungsnetzwerke in Familie, Nachbarschaft und dem kirchlichen Umfeld. Die Dienstherrschaften entließen ihre erkrankten Mägde wie die Handwerksmeister ihre erkrankten Knechte, Lehrlinge und Gesellen, die Kommunen organisierten das Verbringen dieser Menschen in "Bettelfuhren". Vielerorts wurden deshalb im 19. Jahrhundert Krankenhäuser errichtet, die ausdrücklich als Armenkrankenanstalten firmierten. In Verträgen mit den kommunalen Armenkassen wurden fixierte Pflegesätze vereinbart, daneben existierten Verabredungen mit den Dienstherrschaften, Handwerksvereinigungen und Gesellenvereinen, die gegen regelmäßige Abonnementgebühren sicherstellten, dass erkranktes Personal verpflegt wurde.
Die aufblühenden Universitäten und ihre Medizinischen Fakultäten waren ebenfalls stark an der Belegung von Krankenhausbetten interessiert, da die neue Form (natur)wissenschaftlich geprägter medizinischer Forschung auf der Beobachtung von, und mehr und mehr auch auf Experimenten an erkrankten Armen in Forschung und Lehre beruhte, wie sie in dieser Masse nur in Krankenhäusern gelingen konnte.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen führte die deutsche Reichsregierung unter Kanzler Otto von Bismarck die Sozialversicherung der Fabrikarbeiter ein (Krankenversicherung 1884, Unfallversicherung 1885, Rentenversicherung 1891). Eine Krankenversicherung war ursprünglich nicht vorgesehen, wurde aber notwendig, als der protestantische Sozialreformer Theodor Lohmann im Reichsamt des Innern den Leistungsbezug der Unfallversicherung auf die 14. Woche nach einem Unfall festlegte.
Das Hufeland’sche Programm ("Der Kranke allein ist arm") vom Beginn des 19. Jahrhunderts war damit weitgehend eingelöst: Zum einen priorisiert die gesetzliche Sozialversicherung die Arbeit in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen. Das seit dem 19. Jahrhundert proklamierte "Recht auf Arbeit" umfasste damit in mancherlei Hinsicht ein "Recht auf Gesundheit" im Sinne der Sozialversicherungspflicht. Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung definierten per Gesetz "Krankheit" als Arbeitsunfähigkeit, die durch umlagefinanzierte Gesundheitsdienstleistungen zu verhüten und zu beseitigen sei. Zum anderen wurden Form und Umfang dieser Leistungen nunmehr ausschließlich durch ärztliche Entscheidungen über den Gesundheitszustand der Betroffenen bestimmt.
Psychische Krankheiten
Sind die Abgrenzung und Definition und demzufolge der Umgang mit körperlichen Krankheiten wie der Lepra bereits historischen Veränderungsprozessen unterworfen, so trifft dies für psychische Krankheiten in besonderem Maße zu. Allein das Konzept "psychische Krankheit" ist erst wenig mehr als hundert Jahre alt.
Ganz anders wurde das Phänomen "Wahnsinn", oder neutraler ausgedrückt "stark normabweichende Wahrnehmung, Denkfähigkeit und/oder Verhalten", in der vormodernen Medizin gefasst: Von der Antike bis ins 19. Jahrhundert hinein unterschied die medizinische Lehre nicht zwischen körperlichen und geistigen Krankheiten, sondern ordnete Krankheiten hauptsächlich anhand ihrer typischen Symptome ein.
Die Diagnose von "Wahnsinn" war in der Praxis keinesfalls den Ärzten vorbehalten. "Wahnsinn" ist und war eine sozial determinierte Kategorie, mit der Menschen normabweichenden Verhaltens aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden: Ihre Stimme muss nicht mehr gehört werden, und sie verlieren ihre Selbstbestimmung. Ihr Leben findet am Rand oder außerhalb der Gesellschaft statt. Ob jemand als wahnsinnig zu gelten habe, schien in historischer Zeit zumeist selbstevident zu sein, auch für das Einsperren zuhause oder in einem Irrenhaus mit entsprechenden Zwangsmaßnahmen. Verwandte, örtliche Autoritäten und besonders die Gerichte konnten aber Ärzte als Spezialisten heranziehen, um bei Bedarf deren Meinung einzuholen oder Therapiemöglichkeiten auszuloten. Man wusste, dass die medizinischen Mittel sehr begrenzt waren.
Es gab in der Vormoderne allerdings auch alternative Deutungsmuster; so konnte "Wahnsinn" insbesondere als moralische Schwäche, mangelnde Charakterfestigkeit oder religiöse Devianz verurteilt werden. Entsprechend sahen sich die Anstaltsleiter der Irrenanstalten des frühen 19. Jahrhunderts als gestrenge Väter ihrer Zöglinge – und Heilung geriet zur Erziehung.
Im Zuge ihrer Ausrichtung auf naturwissenschaftliche Methoden versuchte die Medizin seit dem späten 19. Jahrhundert mehrfach, sich dieser gesellschaftlich determinierten Dimensionen von Krankheit zu entledigen. Insbesondere zwischen 1910 und 1930 diskutierten Ärzte intensiv darüber, wie "Krankheit"/"Gesundheit" und "normal"/"anomal" innerhalb des naturwissenschaftlichen Paradigmas eindeutig voneinander abgegrenzt werden könnten, zum Beispiel mithilfe statistischer Methoden. Zu einer Lösung des Problems fanden sie nicht. Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers schloss deshalb weitsichtig, dass in jeder Verwendung des Begriffs "krank" "ein Werturteil ausgedrückt wird".
Geschlecht und Deutungsmacht der Medizin
Diese Werturteile unterscheiden sich jedoch nicht nur im historischen Zeitverlauf, sondern auch innerhalb einer Gesellschaft. Sie werden davon beeinflusst, welche Verhaltensnormen für eine gesellschaftliche Gruppe – abhängig von sozialem Stand, Alter und Geschlecht – zutreffen. Was für die eine Gruppe ein gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten ist, kann für die andere schon als "Wahnsinn" gelten. Somit kommt der modernen Medizin eine erhebliche Deutungsmacht über Fragen nach Gesundheit und Krankheit, Körper und Psyche, Verhalten und Identität zu.
Ein Beispiel dafür ist die Hysterie, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in aller Munde war.
Stigmatisierend war die Diagnose mit der Frauenkrankheit "Hysterie" auch für Männer. Da die Diagnose den Betroffenen einen hysterischen Grundcharakter unterstellte, mussten männliche Hysteriker als "verweiblicht" oder gar "weibisch" gelten. Ein solch ehrenrühriges Urteil wurde allerdings hauptsächlich über Patienten der unteren Schichten verhängt und bürgerlichen Männern, also Standesgenossen der behandelnden Ärzte, nicht zugemutet. Für diese wurde in der Folge mit der Neurasthenie eine positiv besetzte Krankheit entwickelt, die ähnliche Symptome abdeckte. Wie später der "Burn-out" als "Managerkrankheit" die prinzipielle Leistungsfähigkeit der Erkrankten hervorhob, war auch die Neurasthenie mit dem Druck einer Leitungsposition und überdurchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten verknüpft – Eigenschaften eines Mannes der Oberschicht.
Wie dieses Beispiel und bereits das Beispiel Armut und Krankheit zeigte, haben Ärzte und Medizin seit der frühen Neuzeit nicht nur ihre Aufgaben- und Kompetenzgebiete erfolgreich ausgeweitet, sondern schafften es vor allem auch, ein vernunftgeleitetes Deutungsangebot zu etablieren, das mit wissenschaftlicher Autorität umfassende Handlungsanweisungen und Antworten auf gesellschaftliche Fragen vorbrachte. So suchten Ärzte als Spezialisten für menschliche Biologie zu erklären, weshalb Frauen sowie Angehörige der Unterschichten und anderer "Rassen" weniger wert seien als der bürgerliche weiße Mann.
Die "Frauenkrankheit" Hysterie ist in diesem Zusammenhang nur ein kleines Rädchen im großen Gefüge medizinischer Ausdeutung, Bewertung und Sanktionierung weiblichen Verhaltens. In einer "weiblichen Sonderanatomie" wurden nicht zufällig seit dem 18. Jahrhundert (unter Rückgriff auf die Antike) die Mängel und Abweichungen des weiblichen Körpers thematisiert – etwa zur selben Zeit, als die Aufklärung die traditionellen Geschlechterrollen infrage stellte und in der Französischen Revolution die Menschenrechte auch für Frauen gefordert wurden. Die vormals absolute Gewissheit, dass Frauen in der Gesellschaft eine untergeordnete Position zukäme, erhielt dadurch nachhaltige Risse.
Ist das historische Beispiel der medizinisch untermauerten Geschlechterrollen besonders eindrücklich, so sollte es nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieselbe Denkfigur bis heute verwendet wird, um soziale Zuschreibungen durch wissenschaftliche Autorität im Körper der Betroffenen zu verankern. So, wie die Medizin Armut als medizinisches Problem definierte und die Ordnung der Geschlechter legitimierte, trat bald darauf die Hygiene an, die Umwelt der Menschen und deren Verhalten darin medizinisch zu erörtern, bis Vererbungslehre und Eugenik – im Verbund mit der Psychiatrie – dazu übergingen, Sexualität und Fortpflanzungsverhalten der Menschen nach medizinischen Maßstäben zu bewerten und nach Möglichkeit zu regulieren.
Hygiene, Eugenik, Krankenmord
Zunächst initiierte in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Hygiene städtebauliche Maßnahmen wie die Versorgung europäischer Städte mit "gesundem" Trinkwasser aus Wasserleitungen und die anschließenden Entwässerung mittels Kanalisation. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich dann die "soziale Hygiene" als "die Lehre von den Einflüssen der Umwelt auf die Gesundheitsverhältnisse von Bevölkerungsschichten, Gemeinden und Staaten";
Mit der breiten Rezeption der darwinschen Evolutionsbiologie und der Vererbungsgesetze von Otto Mendel – und schließlich ihrer unheilvollen Verknüpfung miteinander und mit dem Hygiene-Diskurs – geriet ein neuer Aspekt in die medizinische und öffentliche Debatte. Der Bakteriologe Ferdinand Hueppe befand 1925, "daß das Individuum nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Erhaltung der Art ist", in welchem Zuge "Humanitätsdusel sogar zu einer Gefahr werden kann, wenn Minderwertige besser betreut werden als die kernhaft Gesunden, von deren Erhaltung, Stärkung und Fortpflanzung die wirtschaftliche und nationale Leistungsfähigkeit eines Volkes und Staates abhängt".
Eine darauf beruhende Bevölkerungs-, Gesundheits- und Sozialpolitik konnte auf der einen Seite versuchen, die Vererbung besonders erwünschter Eigenschaften zu fördern ("positive Eugenik"), gleichzeitig aber auch die Vererbung unerwünschter Eigenschaften durch das Verhindern der Fortpflanzung unter deren (vermeintlichen) Trägerinnen und Trägern zu verhindern ("negative Eugenik"). So oder so aber wurde grundlegend, die Bevölkerung nach den Trägern erwünschter und unerwünschter (mutmaßlich) vererblicher Eigenschaften zu klassifizieren, um anschließend ihr sexuelles Verhalten zu steuern. In diesem Zusammenhang war seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine schlüssige Gesetzgebung zur Sterilisation diskutiert und insbesondere von Ärzten zum Teil vehement gefordert worden. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs existierten in 16 Staaten der USA Gesetze zur Unfruchtbarmachung von "Gewohnheitsverbrechern", "Idioten" und Sexualstraftätern. Deutschland, so schien es den Eugenikern, hinkte international hinterher, bis im Sommer 1933 die nationalsozialistische Reichsregierung unter Adolf Hitler mit dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" weltweit erstmals ein Verfahren einführte, das die Unfruchtbarmachung auf Beschluss von "Erbgesundheitsgerichten" auch gegen den ausdrücklichen Willen der Betroffenen und ihrer Angehörigen vorschrieb. Auf dieser gesetzlichen Grundlage wurden in Deutschland zwischen 1934 und 1945 etwa 400000 zuvor von ärztlichen Gutachtern als "erbkrank" befundene Menschen ihrer Fruchtbarkeit beraubt.
Aus Kranken wurden "Ballastexistenzen", wie der Jurist Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche schon 1920 formulierten. Ihre Programmschrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" schließt in der Hoffnung: "Wir werden vielleicht eines Tages zu der Auffassung heranreifen, daß die Beseitigung der Geistig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Rohheit, sondern einen erlaubten nützlichen Akt darstellt."
Fazit
In den meisten entwickelten Industriestaaten der westlichen Welt ist der Gesundheitssektor inzwischen der umsatzstärkste Wirtschaftszweig.
Zugrunde liegt nicht zuletzt ein medizin- und wissenschaftstheoretisches Problem: Ein überzeitlich gültiger Krankheitsbegriff ist unmöglich, er kann sich auch nicht aus der Summe von einzelnen Krankheitsbezeichnungen ergeben.