Einleitung
Der Autor dankt der Fritz Thyssen Stiftung für die Unterstützung des Forschungsprojekts "Politik und Ökonomie in der Globalisierungsdebatte und in der Ideengeschichte. Die Bedeutung von Aristoteles, Adam Smith und Karl Marx für die Bestimmung des Stellenwerts der Politik im globalen Wettbewerb", in dessen Rahmen der Aufsatz entstanden ist.
I. Die Globalisierungsdiskussion nach dem 11. September
Die Welt schien so einfach geworden zu sein: Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts sollte die globale Marktwirtschaft Wohlstand und Demokratie bis in die letzten Winkel der Erde bringen. Gestritten wurde darüber, ob der globale Markt sich selbst reguliert oder ob er von globalen demokratischen Institutionen gezähmt werden muss - unbestritten blieb aber, dass als Grundlage der Globalisierung ausschließlich das individualistische Werteverständnis in Frage kommt. Diese Grundlage schien so selbstverständlich zu sein, dass sie auch durch Samuel P. Huntingtons Warnung vor einem drohenden "Kampf der Kulturen"
Die Anschläge vom 11. September 2001 und der darauf folgende "Krieg gegen den Terror" führen jedoch schmerzhaft vor Augen, dass der globale Anspruch, mit dem das individualistische Staats- und Gesellschaftsverständnis vertreten wird, keinen weltweiten Zuspruch findet und dass sich vor allem in der islamischen Welt ein vehementer Widerstand gegen diesen Anspruch regt. Die Globalisierungsdiskussion wird nicht umhinkommen, in Zukunft diese Konflikte zu thematisieren, die zumindest teilweise durch die Konkurrenz globaler Ansprüche hervorgerufen werden. Die Frage ist jedoch, wo überhaupt die entscheidenden Konfliktlinien verlaufen.
Die Orientierungslosigkeit in dieser Frage wird daran deutlich, dass mindestens drei konkurrierende Antworten angeboten werden. Zahlreiche Repräsentanten der westlichen Länder, insbesondere Präsident Bush, betonen erstens, dass der Islam eine friedliche Religion sei und der Konflikt allein zwischen dem Westen und dem islamistischen Terrorismus bestehe. Der Terrorismus beruhe auf einem Fundamentalismus, der sich nur zufällig des Islam bediene. Dem wird, zweitens die These von der grundsätzlichen Unvereinbarkeit von Islam und westlichem Denken entgegengehalten: So hat Huntington in seinem bereits zitierten Buch die Auffassung vertreten, dass die westlichen und die islamischen Gesellschaftskonzepte einander entgegengesetzt seien; weil sie zugleich mit einem universellen Anspruch vertreten werden, ergebe sich daraus ein kaum vermeidbarer Kampf der Kulturen.
Der Widerspruch zwischen diesen Deutungen der gegenwärtigen Lage fordert dazu heraus, die Gesellschafts- und Politikkonzepte des Westens, des Islam und des Islamismus zu vergleichen, um die Konfliktlinien klarer zu bestimmen. Für die Analyse des islamischen Politikverständnisses ist das Konzept des Dschihad ein wichtiger Ausgangspunkt: Der Dschihad dient nicht nur den Terroristen als Schlagwort, sondern spielt allgemein im Islam eine bedeutende Rolle, weil er aus der für den Islam grundlegenden Freund-Feind-Unterscheidung resultiert (Abschnitt II). Doch gerade in der Bedeutung der Freund-Feind-Unterscheidung weist der Islam eine entscheidende Ähnlichkeit mit der für das westliche Staatsverständnis prägenden Theorie des Gesellschaftsvertrags auf (Abschnitt III). Nicht so sehr die Unterschiede, sondern diese Gemeinsamkeit begründet die Schwierigkeit, die westliche und islamische Länder im Umgang miteinander haben. Problematisch ist die Freund-Feind-Unterscheidung aber nicht allein, weil sie eine neue Form des Ost-West-Konflikts zwischen westlichen und islamischen Ländern hervorrufen kann, sondern zudem, weil diese Unterscheidung den Nährboden für Ideologien jeglicher Art bildet - vom Marxismus über den Nationalsozialismus bis hin zum Islamismus (Abschnitt IV).
II. Dschihad und Freund-Feind-Unterscheidung im Islam
Der Dschihad wurde nicht erst von islamistischen Terroristen erfunden, sondern spielt bereits im Koran und in der klassischen islamischen Lehre eine bedeutende Rolle.
Die Unterscheidung von großem und kleinem, innerem und äußerem Dschihad darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Koran dem kleinen Dschihad die mit Abstand größere Bedeutung zukommt: Bis auf wenige Ausnahmen
Doch für die Beantwortung der Frage, ob nicht nur vom Islamismus, sondern auch vom Islam eine Gefahr für den Weltfrieden ausgeht, können diese Zitate aus dem Koran nicht genügen: Es kommt darauf an, den systematischen Stellenwert des Dschihad im Islam zu verstehen und die Frage zu beantworten, ob die Pflicht zum heiligen Krieg umgedeutet werden kann zu einer Pflicht zur inneren Glaubensanstrengung, zum großen Dschihad. Dies lässt sich nur unter Rückgriff auf das Grundanliegen des Islam beantworten.
Der Anspruch des Islam ist es, durch die Herrschaft der göttlichen Gesetze die beste menschliche Gemeinschaft hervorzubringen: "Ihr seid die beste Gemeinde, die für die Menschen erstand. Ihr heißet, was rechtens ist, und ihr verbietet das Unrechte und glaubet an Allah" (3, 106). Wahre Gemeinschaft beruht auf dem unbedingten Glauben an den einen Gott, der sich in der Beachtung der Pflichten und Regeln, die Gott dem Menschen auferlegt hat, äußert. Die Gesamtheit der offenbarten Pflichten und Regeln bildet das göttliche Gesetz, die Scharia, die in der islamischen Tradition aus dem Koran und aus der Sunna, d. h. der Sammlung der Aussprüche Mohammeds und der Beschreibungen seiner Lebensweise, abgeleitet wurde.
Den göttlichen Gesetzen kommt somit im islamischen Glauben eine zentrale Stellung zu: Da die Gesetze unmittelbar als Gottes Wille verstanden werden, ist ihre Befolgung Gottesdienst im wahren Sinne des Wortes - sie ist nicht ein Bestandteil des Islam unter anderen, sondern das Leben nach den Gesetzen ist der ganze Islam: "Das ganze Leben des Muslim ist in das Gefüge der sari'a eingebaut. Die sari'a, das Gesetz, ist zu bezeichnen als die Gesamtheit der auf die Handlungen des Menschen bezüglichen Vorschriften Allahs. Ja, man hat - mit einiger Übertreibung - sagen können, die koranische Offenbarung habe nur Gottes Gesetz mitgeteilt, nicht aber Gott selbst offenbart."
Die Gemeinschaft, die nach dem göttlichen Gesetz lebt, verwirklicht den Frieden - wo hingegen das Gesetz nicht befolgt wird, herrschen Krieg und Unordnung. Entsprechend unterscheidet der islamische Glaube zwischen zwei Reichen: dem "Reich des Islam" (Dar al-Islam) und dem "Reich des Krieges" (Dar al-Harb).
Das Konzept des Dschihad ist somit wesentlicher Bestandteil des islamischen Glaubens. Zwar kann das "Reich des Krieges", das die Ungläubigen bilden, temporär zum "Reich des Vertrags" werden, mit dem man in friedlicher Koexistenz lebt.
III. Die Freund-Feind-Unterscheidung in der Vertragstheorie
Der Vergleich des islamischen mit dem (neuzeitlichen) westlichen Politikverständnis wirft zunächst eine Schwierigkeit auf: Das Letztere beruht nicht auf Glaubensinhalten, die von allen Bürgern geteilt werden, sondern gerade auf der Ablehnung verbindlicher Glaubensinhalte. Der mit dem Islam verbundene Anspruch, den ganzen Menschen in allen Bereichen seines Lebens erfassen zu wollen,
Den Ausgangspunkt aller Vertragstheorien bildet der Naturzustand, in dem keine staatliche Macht existiert, welche die Gewalttätigkeit der Individuen zähmt. Diesem Zustand versuchen sie durch vertragliche Übereinkunft über die Gründung einer bürgerlichen Gesellschaft zu entrinnen. Hobbes schildert anschaulich, wie im Naturzustand jeder den anderen als Gefährdung der eigenen Existenz ansieht und deshalb ein allgemeines Misstrauen herrscht: "Und wegen dieses gegenseitigen Misstrauens gibt es für niemand einen anderen Weg, sich selbst zu sichern, der so vernünftig wäre wie Vorbeugung, das heißt mit Gewalt oder List nach Kräften jedermann zu unterwerfen, und zwar so lange, bis er keine andere Macht mehr sieht, die groß genug wäre, ihn zu gefährden."
Ähnlich argumentiert Kant. Der Zweck des bürgerlichen Vertrags liegt für ihn zwar nicht in der Herbeiführung eines konkreten Nutzens (bei Hobbes: die Sicherung des Überlebens), sondern in der Durchsetzung des Rechts als solchem, denn das Recht ist "das oberste Prinzip . . . , von welchem alle Maximen, die ein gemeines Wesen betreffen, ausgehen müssen, und das durch kein anderes eingeschränkt wird"
Die Theorie des Gesellschaftsvertrags beruht somit - ähnlich wie der Islam - auf einer Zwei-Reiche-Lehre: Nach innen hin stiftet der Vertrag Freundschaft zwischen den Bürgern und damit Frieden; alle, die außerhalb des Vertrags stehen, bleiben aber weiterhin Feinde und bilden das "Reich des Krieges". Wie dem Islam geht es der Vertragstheorie um die Begründung des Friedens, und in gleicher Weise beruht diese Begründung auf einer Freund-Feind-Unterscheidung: Freund ist, wer sich den Gesetzen unterwirft - Feind, wer sich dagegenstellt. Mehr noch: Auch der Gesellschaftsvertrag erhebt seiner Natur nach Anspruch auf universelle Gültigkeit und ist somit expansionistisch. Denn das Reich des Krieges bleibt, solange es existiert, eine Bedrohung des Vertragsgebietes. Die Überlegung, die die Vertragspartner dazu bewogen hat, den Vertrag einzugehen (nämlich: der Bedrohung ein Ende zu setzen), muss sie in gleicher Weise dazu bewegen, die noch verbliebenen Feinde in den Vertrag zu integrieren - notfalls unter Anwendung der Gewalt, zu der der Kriegszustand legitimiert.
Doch das Ziel der Ausweitung des Vertrags ergibt sich nicht allein aus einem Kalkül, sondern auch aus dem universellen Geltungsanspruch, mit dem das Menschenbild vertreten wird, das der Vertragstheorie zugrunde liegt. Alle Vertragstheorien beruhen auf dem Grundsatz, den der Sophist Protagoras in die Worte fasste: Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Dies bildet den Kern der Vertragstheorie: Alle Handlungsnormen und alle gemeinschaftlichen Institutionen werden aus den Ansichten und Bedürfnissen der Individuen heraus begründet; die politische Gemeinschaft wird auf die Präferenzen der Individuen als den letzten unhintergehbaren Maßstab zurückgeführt. Der Vertrag soll die Individuen in der Verwirklichung ihrer Präferenzen fördern und sie deshalb nur soweit einschränken, wie dies notwendig ist, damit die anderen Individuen ihre Präferenzen verwirklichen können: "Ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, . . . nicht Abbruch tut."
Dieses Zitat verdeutlicht die beiden zentralen Werte, auf denen der Vertrag beruht: die Freiheit und die Gleichheit; Letztere kommt in der gleichen Zuweisung von Rechten an die Bürger zum Ausdruck.
Der Gesellschaftsvertrag bietet folglich nicht eine Form des Zusammenlebens an, neben der noch andere bestehen können, die auf einer anderen Begründung beruhen, sondern die Form menschlichen Zusammenlebens: Vertrag oder Krieg - tertium non datur! Toleranz kann es immer nur zwischen den Vertragspartnern geben, weil sie den Vertrag (und damit die Gegenseitigkeit) bereits voraussetzt. Die Konsequenz besteht darin, dass nicht nur zum Zweck der Selbstverteidigung versucht wird, das Vertragsgebiet auszuweiten, sondern auch aus der Überzeugung heraus, das bessere Verständnis von Staat und Gerechtigkeit in der Welt zu verbreiten. In diesem Sinne kommt z. B. die für Entwicklungshilfe zuständige Bundesministerin zu dem Schluss, dass "die Menschenrechte überall notfalls auch militärisch durchzusetzen" sind.
IV. Die Freund-Feind-Unterscheidung als Grundlage ideologischen Denkens
Die formale Parallele zwischen dem Islam und der Theorie des Gesellschaftsvertrags hinsichtlich der Bedeutung der Freund-Feind-Unterscheidung hat erhebliche Konsequenzen sowohl für den politischen Alltag als auch für das grundsätzliche Verständnis von Politik. Für den politischen Alltag erwachsen aus ihr erhebliche Schwierigkeiten im innenpolitischen Umgang westlicher Länder mit muslimischen Einwanderern und im außenpolitischen Umgang mit islamischen Ländern. Die Begründung der Gesetze von Gott her ist aus vertragstheoretischer Sicht ebenso inakzeptabel, wie es deren Begründung vom Subjekt her für den Islam ist. Während Länder, in denen die Scharia geltendes Recht ist, aus westlicher Sicht gegen fundamentale Menschenrechte verstoßen, ist das westliche Rechtsverständnis aus islamischer Sicht von Gottlosigkeit und Dekadenz geprägt. In Ermangelung der Möglichkeit, dem anderen sein Rechtsverständnis aufzuzwingen, kann es innerhalb der jeweiligen Sichtweise nur zu einer (vorübergehenden) Duldung des Gegners kommen; Frieden und gegenseitige Akzeptanz würden eine Toleranz erfordern, für deren Begründung ein übergeordneter Standpunkt als tertium comparationis erforderlich wäre.
Noch gravierender sind die Konsequenzen für das grundsätzliche Politikverständnis, die sich aus der Tatsache ergeben, dass der Freund-Feind-Unterscheidung auch in den Ideologien eine zentrale Bedeutung zukommt und dass die menschenverachtende Haltung der Ideologien sich gerade aus der Freund-Feind-Unterscheidung heraus entwickelt. Das entscheidende Merkmal der Ideologien des Kommunismus, des Nationalsozialismus und des Islamismus ist es, dass sie die Bekämpfung des Feindes zur eigentlichen Aufgabe der Politik erklären. Alle Probleme werden auf die Existenz des Feindes zurückgeführt, und die gesamte Geschichte wird als ein Existenzkampf gedeutet.
In der vertragstheoretischen Geschichtsdeutung verläuft die Weltgeschichte linear: Ausgehend vom Naturzustand kommt es zum Vertragschluss zwischen einzelnen Individuen zugunsten des Staates, der aber selbst nicht Vertragspartner ist, und durch Ausweitung des Vertrags am Ende idealerweise zum Weltvertrag, zum "ewigen Frieden" (Kant). Demgegenüber gehen die Geschichtsmodelle der Ideologien von einem positiven Anfangsstadium aus, das erst durch das Auftreten eines Feindes aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Der Feind bewirkt nicht nur eine existenzielle Bedrohung derer, die das Gute verkörpern, sondern bedroht auch zugleich die Existenz der Menschheit: Als Verkörperung des Prinzips des Bösen kann er nur auf Kosten des Guten bestehen und ist somit von Natur aus parasitär. Wenn er sein Werk vollenden und das Gute vernichten würde, müsste er hernach selbst zugrunde gehen. "Die Guten" befinden sich demgegenüber in einer Notwehrsituation: Ihr Überleben erfordert die totale Vernichtung des Feindes, und diese Vernichtung ist moralisch legitim, weil der Feind ohnehin nicht eigenständig überleben kann. Erst nach dessen Vernichtung stellt sich der ursprüngliche gute Zustand wieder her - wobei die Menschen sich dann aber aufgrund der Geschichtserfahrung des Wertes dieses Zustandes in höherem Maße bewusst sind.
Dieses Geschichtsmodell liegt gleichermaßen dem Marxismus, dem Nationalsozialismus und dem Islamismus zugrunde:
- Bei Marx
- Nach Hitler
- Im Islamismus
Inwiefern bildet nun die Freund-Feind-Unterscheidung der Vertragstheorie die Grundlage für diese ideologischen Welt- und Geschichtsdeutungen? Allen drei Ideologien ist gemeinsam, dass sie die Freund-Feind-Unterscheidung gegen die Idee wenden, dass der Vertrag eine politische Gemeinschaft begründen könne. Aus ihrer Sicht sind die Feinde nicht mehr diejenigen, die außerhalb des Vertrags stehen, sondern solche, die den Vertrag schließen bzw. ihn als Begründung der politischen Gemeinschaft anführen:
- Aus kommunistischer Sicht wird im vertragstheoretisch begründeten Staat eine bloß formale Freiheit geschützt. Da nur die Herrschenden über die Mittel verfügen, um diese Freiheit zu nutzen, ist diese in Wahrheit nichts anderes als die Freiheit der Kapitalisten zur Ausbeutung der Arbeiter. Die Vertragstheorie und die aus ihr abgeleiteten Menschenrechte erweisen sich aus dieser Perspektive als Propaganda zur Legitimation bürgerlicher Herrschaft.
- Aus nationalsozialistischer Sicht ist die Vertragstheorie eine Erfindung des Judentums, das mit Hilfe der (mit dem Vertrag untrennbar verknüpften) Idee der Gleichheit die natürlichen Hierarchieunterschiede zwischen den Rassen aufheben will. Die Gleichheit des Vertrags ist nur die Vorstufe zur vollständigen Gleichmacherei des Kommunismus. Dieses Ideal der Gleichheit richtet sich gegen das Gesetz der Natur, das den Kampf und damit die Ungleichheit von Siegern und Besiegten fordert. - Während im Kommunismus somit der Vertrag das Werkzeug der Herrschenden zur Verhinderung der wahren (materialen) Gleichheit darstellt, ist er im Nationalsozialismus umgekehrt das Werkzeug der Schwachen zur Verhinderung der von der Natur gewollten Ungleichheit.
- Auch der Islamismus wendet sich gegen das Vertragsdenken: Der Vertrag ist für ihn der Inbegriff eines pervertierten Gemeinschaftsverständnisses, das die Gemeinschaft aus der Nutzenmaximierung der Individuen statt von Gott her begründet. Die damit verbundene Überzeugung, dass das Individuum sich selbst genügt, ist Ausdruck des Unglaubens schlechthin. Der Vertrag stellt sich aus dieser Sicht als Bündnis der Ungläubigen gegen den wahren Glauben dar; der Jude als Inbegriff des Berechnenden und der Amerikaner als Inbegriff des dekadenten Kapitalisten sind die Protagonisten dieses zu bekämpfenden Bündnisses.
Das Gemeinsame, das die drei Ideologien im Vertrag bekämpfen, ist der Egoismus: Der Grundgedanke der Vertragstheorie ist es, Gemeinschaft aus einem Kosten-Nutzen-Kalkül heraus zu erklären. Bleibt die von der Theorie versprochene Wirkung aus, wird dies von den Ideologien genutzt, um die Freund-Feind-Unterscheidung gegen den Vertrag zu wenden: Der Vertrag wird dann als raffinierte Erfindung zur Unterdrückung und Vernichtung "der Guten" - seien es die Proletarier, die "Arier" oder die rechtgläubigen Muslime - entlarvt. Der Vertrag stiftet nicht Frieden unter denen, die bis dahin Feinde waren, sondern wird zur entscheidenden Waffe der Feinde in ihrem Kampf gegen "die Guten". Diese Weltsicht beruht zwar vollständig auf der Projektion der eigenen Vorurteile auf die Welt statt auf der Wahrnehmung der Wirklichkeit, doch immerhin liefert die Vertragstheorie mit ihrer Freund-Feind-Unterscheidung eine wichtige Grundlage für diese Projektion, indem sie den Ideologien die Kategorien an die Hand gibt, die diese gegen den vertragstheoretisch begründeten Staat richten können.
V. Ergebnis
Alle drei eingangs angeführten Deutungen des Verhältnisses von islamistischem Terrorismus, Islam und westlichem Politikverständnis erweisen sich somit als unbefriedigend. Es ist zwar richtig, dass eine entscheidende Grenze zwischen dem Islamismus und dem Islam verläuft: Der Islamismus ist ideologisch, insofern er die gesamte Wirklichkeit auf den einen Punkt der Bekämpfung des Feindes - das Bündnis von Amerika und Israel - reduziert. Doch der Islam ist alles andere als das friedliche Gegenstück zum Islamismus: Der Koran liefert an zahlreichen Stellen die Aufforderung zum Dschihad, und vor allem ist mit der Zwei-Reiche-Lehre die Freund-Feind-Unterscheidung konstituierender Bestandteil des islamischen Glaubens. Hieraus lässt sich aber wiederum nicht auf einen Gegensatz zum westlichen Denken schließen: Die Vertragstheorie, der für das westliche Politikverständnis eine entscheidende Bedeutung zukommt, wird wie der Islam mit dem Anspruch auf universelle Gültigkeit vertreten; auch sie zielt im Ergebnis auf Weltherrschaft durch Überwindung der Feinde des Vertrags. Der Unterschied in der Begründung der Gesetze, die den Frieden garantieren sollen, darf also nicht die formale Gemeinsamkeit vergessen lassen: die Freund-Feind-Unterscheidung in Verbindung mit dem Anspruch auf universelle Gültigkeit des eigenen Denkens. Nicht nur der Islam, sondern auch das westliche Vertragsdenken beruht auf dieser Unterscheidung, die zugleich den Anknüpfungspunkt für das ideologische Denken bildet. Dies erklärt die Ähnlichkeit der Rhetorik von George W. Bush mit der von Bin Laden; doch Arundhati Roy übersieht in ihrem Eifer den wichtigen Unterschied: dass Bin Laden - anders als Bush! - die ideologische Variante der Freund-Feind-Unterscheidung vertritt und die Bekämpfung des Feindes nicht als eine Aufgabe der Politik ansieht, sondern als die Aufgabe schlechthin.
Im Kern lassen sich die verschiedenen Konfliktlinien also auf das Freund-Feind-Denken zurückführen, das die tiefere Gemeinsamkeit des westlichen, islamischen und islamistischen Politikverständnisses darstellt; und diese Gemeinsamkeit ist gefährlich, weil sie nicht nur auf Seiten der Ideologien die Tendenz fördert, die Schuld für die Konflikte beim jeweils Anderen und die Lösung der Konflikte im Kampf gegen den Anderen zu sehen. Auch jenseits des ideologischen Denkens besteht die Gefahr, dass westliche und islamische Länder sich wechselseitig als Bedrohung des eigenen Staatsverständnisses und damit als Feinde wahrnehmen.
Aber ist ein Politikverständnis jenseits des Freund-Feind-Denkens überhaupt möglich? Zieht nicht jedes politische Denken zugleich eine Grenze zwischen dem Freund, der diesem Denken zustimmt, und dem Feind, der es ablehnt? Nach Carl Schmitt ist dies gerade der Inbegriff von Politik: durch die Abgrenzung vom Feind die Homogenität der Gemeinschaft zu schaffen.